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Woher kommen wir?

Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters

Von Ludger Honnefelder


Hans-Herbert Räkel schrieb uns am 26.07.2017
Thema: Ludger Honnefelder: Woher kommen wir?

Gerodete Lichtungen.  
Bücher machen oder Bücher schreiben? Auch in der Philosophie geht das eine nicht ohne das andere!
Von Hans-Herbert Räkel

Vorbemerkung: Folgende Rezension ist mit einem geänderten Untertitel zuerst am 30. Januar 2009 in der Süddeutschen Zeitung erschienen und bezog sich auf Ludger Honnefelder: Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters. Berlin UniversityPress, Berlin 2008. Aus Anlass einer 2017 erschienenen Neuausgabe im Verlag Velbrück Wissenschaft veröffentliche ich sie hier noch einmal. Siehe dazu meinen Leserbrief zu der Rezension der neuen Ausgabe!

„Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters“ freizulegen, verspricht der Untertitel von „Woher kommen wir?“ von Ludger Honnefelder. Wir haben in der Tat Überzeugungen geerbt, die uns selbstverständlich scheinen und doch jeden Tag neu verteidigt werden müssen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ – das behauptet gegen alle Erfahrung die Erklärung der Menschenrechte – und wenigstens dies blieb uns vom mühsam gewonnenen Glauben, dass alle Menschen Gottes Kinder seien und nicht einer des anderen Wolf.
Ludger Honnefelder hat völlig Recht, wenn er feststellt, dass das Denken des Mittelalters nur wenigen Fachleuten und sogar unter den Philosophen nur denen bekannt ist, die sich näher mit dieser Epoche befassen. Unter diesen gibt es aber freilich kaum jemanden, der dieses Denken besser kennte als er. Es entspringt einem Konflikt von zwei geistigen Bewegungen, die im hohen Mittelalter aufeinanderstoßen: die auf Offenbarung des einen Gottes gegründete Religion und die nach Gründen fragende wissenschaftliche Philosophie der Griechen. Nur lassen sich beide nicht vereinen. Die gläubige Vernunft musste ebenso Selbstkritik üben wie die denkende; denn muss der Glaube nicht für die Vernunft verantwortbar sein? Und muss das Denken nicht seine Grenze bestimmen können?
Mit großer Konsequenz und Ausdauer hat Ludger Honnefelder in seinen Forschungen die Geschichte des modernen Denkens bis ins Mittelalter zurückverfolgt. Sein großes Werk „Scientia transcendens“ (Meiner, 1990) zur Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, in der insbesondere der 1308 in Köln gestorbene Johannes Duns Scotus als ein genialer Denker auf dem Wege zu Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ entdeckt wird, erweist die Erkenntniskritik, also das Herzstück der modernen Philosophie, als Erbstück aus dem Mittelalter. Dass kein Glaube die Wissenschaft obsolet macht, ist dem westlichen Denken seit langem geläufig; dass die Wissenschaft ihren Entdeckungen keinen Sinn einflößt, wird erst jetzt immer klarer und am Beispiel der Kernenergie und der Genmanipulation auch immer beunruhigender. Der Glaube an Mögliches und damit an eine Zukunft, die Idee der Freiheit des Individuums und damit der Verantwortung, die Menschheitsgeschichte und damit die Sorge um ihr vielleicht selbstverschuldetes Ende – das alles gab es nicht schon immer. Es ist in vielen Generationen von Menschen erdacht worden.
Nicht zufällig hat die moderne akademisch organisierte Philosophie sich hier ein neues Arbeitsfeld erobert, das man mit ein wenig Ironie „philosophisches Consulting“ nennen könnte: „Consulting ist eine meist produktunabhängige Dienstleistung, die Aufgaben umfasst, für die der Auftraggeber im eigenen Haus kein Know-how zur Verfügung hat“, heißt es im enzyklopädischen Jargon. Ludger Honnefelder hat sich mit Sachkenntnis und durchsichtigen Argumenten in verschiedenen Institutionen und politischen Gremien für ethische Fragen in den Wissenschaften, insbesondere in der Medizin und Bioethik, engagiert, und auch seine jüngsten Buchtitel bezeugen so etwas wie eine missionarische Ader: „Was soll ich tun, wer will ich sein?“ (2007) und „Was schulden wir einander?“ (2008) oder „Was heißt Verantwortung heute?“ (2008) stehen neben unserem „Woher kommen wir?“. Das Buch ist in der seit zwei Jahren virulenten Berlin University Press erschienen. „Wir brauchen Bücher, die wie Schneisen durch die Wälder führen, die Orientierung für unser Handeln bieten – dabei leicht sind, lesbar und sprachlich ,erträglich‘. Diese Bücher macht die Berlin University Press“, schreibt der Chef des Verlages und derzeitige Vorsteher des Börsenvereins für den deutschen Buchhandel Gottfried Honnefelder, der Bruder unseres Autors.
Ein Buch über die „Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters“, das uns nicht nur die Herkunft unserer Überzeugungen, sondern auch deren Anspruch und Problematik erklärt, ist freilich sehr erwünscht – und wenn wir dem Verlagsprogramm und dem Titel glauben, dann haben wir es hier in der Hand. Aber Ludger Honnefelder hat dieses Buch gar nicht geschrieben. Außer dem ersten und dem letzten reproduzieren die fünfzehn Kapitel längst veröffentlichte Vorlesungen und Vorträge sowie Beiträge zu Sammelbänden, Festschriften, philosophischen Zeitschriften und zum Historischen Wörterbuch der Philosophie, die sich über fast ein Vierteljahrhundert (von 1984 bis 2007) erstrecken. Aber die festen Buchdeckel und der schöne grüne Umschlag mit einem bedeutungsvollen Fernrohr sind eben nur ein „Mantel“, wie ja auch die „Berlin University Press“ nur ein „Mantel“ ist, der weder mit Berlin noch mit einer University noch mit der englischen Sprache etwas zu tun hat.
Das Buch ist also inhaltlich und stilistisch heterogen. Es schlägt keine Schneise, sondern rodet Lichtungen. Eine Einleitung auf ganzen fünf und ein Resümee von knapp 10 Seiten helfen bei der Bemäntelung dieser Heterogenität. Die Einleitung ist so schnell hingeworfen, dass sogar syntaktische Inkongruenzen stehen geblieben sind, was in Honnefelders Schriften sonst nie vorkommt.Das Resümee formuliert die Grundgedanken abstrakt und verständlich, aber auch etwas gelangweilt. Nur wenige Eingriffe versuchen, die verschiedenen Ansätze mit dem Titel auf Vordermann zu bringen, z.B. durch einen einzigen angefügten Schlusssatz zu einem Artikel von 1986: „Allein hier liegt bei Augustin ein Ursprung der Moderne“. Der Artikel „natura communis“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie (1986) schloss mit Leibniz und wird nun um ein paar Sätze über Ch. S. Peirce ergänzt. Das geschieht so lakonisch, dass nichts spürbar wird von dessen Bewunderung für die Gedanken des Johannes Duns Scotus – und noch weniger von der überzeugenden Darstellung, die der Autor dem amerikanischen Philosophen im vierten Teil seiner „Scientia transcendens“ gewidmet hat.
Hier greifen wir wohl den hauptsächlichen Mangel des Buches: Dass wesentliche Elemente des modernen Bewusstseins ihren Ursprung im Mittelalter haben, ist so richtig wie unbefriedigend. Aber Ludger Honnefelder wehrt mit seinem letzten Satz jede weitergehende Frage ab: „Wer dies bestreitet, muss entweder einer (ihrerseits unhistorischen) Musealisierung des Mittelalters das Wort reden oder die genannten Elemente aus dem modernen Bewusstsein eliminieren.“ Aber wer dies gar nicht bestreiten will, ist mit Hinweisen wie dem auf Ch. S. Peirce erst richtig auf den Geschmack gekommen. Wie rechtfertigen oder begründen „wir“ die Bedingungen aller unserer Erkenntnis, Moralität, Geschichtlichkeit? Und wer sind „wir“? Ludger Honnefelder jedenfalls ist Philosoph, Theologe und katholisch und hat dazu viel zu sagen und auch schon viel gesagt. Aber in diesem seinem letzten Satz ist er nur noch Professor.
Besonders in der ersten Hälfte des Buches produzieren wohl der Zwang zur Kürze und die professorale Sorge um Vollständigkeit einen Stil, der wenig Rücksicht auf den Leser nimmt. Keinem einzigen Satz von Ludger Honnefelder wird man vorwerfen können, dass er falsch oder auch nur nachlässig formuliert sei. Aber allzu oft ist seine Sorge nicht, lesbar zu schreiben, sondern unangreifbar. Es ist dies nicht einfach der persönliche Stil des Autors, denn er kann auch anders: Ist er nicht verständlich und überzeugend, wenn er ein Interview zu Fragen der Ethik gibt? Ist es nicht erstaunlich, dass seine Habilitationsschrift auf lange Strecken leichter zu lesen ist als manche Seite der hier versammelten Stücke? Und wer des Französischen mächtig ist, findet die beste und die am besten lesbare Darstellung seiner eigenen Position, die man ohne Zögern weise nennen darf, in jenen sechs Vorlesungen, die er als Inhaber der Chaire Étienne Gilson gehalten hat und die in einer ausgezeichneten französischen Übersetzung erschienen sind. Vielleicht wollte ja Ludger seinem Bruder nur einen Gefallen tun. Sein Porträt auf dem Umschlag blickt uns jedenfalls eher zweifelnd an, im Gegensatz zum jovial-erfolggewohnten Lächeln Gottfrieds, mit dem er im Internet seinen „Verlag für intelligent-leichte Wissenschaftsliteratur“ vorstellt

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