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Berlin – Stadt der Revolte

Von Michael Sontheimer / Peter Wensierski


Christoph Ludszuweit schrieb uns am 30.03.2018
Thema: Michael Sontheimer / Peter Wensierski: Berlin – Stadt der Revolte

»Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt«:

zum Versuch einer Topographie der Revolte

oder: Die Vermessung der Revolte in beiden Teilen Berlins

von Christoph Ludszuweit


„Time will tell!“ (Bob Marley)

Im 50. Jahr nach der Studentenrevolte rücken die Berliner Orte der Protestbewegung so langsam, aber sicher in das öffentliche Bewusstsein. Man muss hier ja nicht sehr weit fahren, um Orte zu finden, die damals Schauplätze von Revolten waren, Spuren der Revolte in Ost und West und Hinweisen auf legendäre und weniger bekannte Schlachtorte der sog. Studentenbewegung im Westen sind die Autoren in jahrelanger Recherchearbeit nachgegangen. Sie stießen auf teils verschlungene, rizhomhaft sich kreuzende Pfade der damaligen Subkulturen von Feministinnen, Hausbesetzern und Punks, die - zwar auf unterschiedliche Weise - deutlich sichtbar durchaus in BEIDEN Teilen Berlins beheimatet waren.

Sontheimer war 1978/79 Mitgründer der taz, in den 1980er-Jahren Redakteur und Autor bei der Zeit und arbeitet seit 1995 beim Spiegel. Wensierski war ab 1979 Reisekorrespondent für verschiedene Medien aus der DDR, von 1986 bis 1993 Fernsehjournalist bei der ARD und arbeitet seitdem auch beim Spiegel. Er wurde u.a. mit dem Bundesfilmpreis, dem Europäischen Fernsehpreis und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet – beides also gestandene Journalisten.

Sie erzählen facettenreich, erfreulich unideologisch, ohne großen Firlefanz und theoretischen Überbau, gut lesbar (und mit nur wenigen – verzeihbaren - sachlichen Fehlern) eine spannende Geschichte. die Geschichte einer widerborstigen und aufsässigen Metropole. Sie werfen mit fast fotografisch geschultem Blick (sozusagen als teil- und Anteil-nehmende Beobachter) kurze, einprägsame Schlaglichter auf Häuser, in Wohnungen, auf Straßen und Plätze. Gestützt auf Interviews und Gespräche mit vielen unmittelbar und aktiv Beteiligten entwerfen sie so eine empfehlenswerte, weil vieles im Rückblick erklärende Topographie der Revolte. Wie in einem historischen Reiseführer laden sie zum Flanieren und staunenden Entdecken ein. Weitere Stichworte: friedliche Revolution, Häuserkampf - an Orten der Revolte fehlt es in Berlin wahrlich nicht. Sie erkunden die Welt der einstigen Rebellen, von denen schon viele längst gestorben sind. Wer  - außer vielleicht einstige Alternative und Dissidenten – weiß denn heute noch, wo etwa die legendäre Kommune 1 zuallererst beheimatet war? Zweite Preisfrage: Wo entstand der erste Kinderladen? Dritte Frage: was passierte genau mit Andreas Baader in der Miquelstraße 83?
Letzte Preisfrage:  Was passierte wann und wo in den bewegten Monaten von 1967/68 - wieso rief etwa ein rhetorischer Feuerkopf wie Rudi Dutschke zum Sieg der vietnamesischen Revolution im Audimax der TU auf und wo hatte die RAF-Mitbegründerin Ulrike Meinhof ihre letzte legale Wohnung?" Anfangs zitieren sie den italienischen Professor Johannes Agnoli: „Revolten kennen im Allgemeinen nur das Scheitern, sonst wären sie Revolutionen", so der überaus sympathische, längst und viel zu früh verstorbene Professor vom einst als linke Hochburg gerühmten Otto-Suhr-Institut der Freien Universität.
Fast 60 Orte zeigt das Buch mit kleinen roten Fähnchen auf einer Karte, die vom Auditorium Maximum der FU in der Garystraße in Dahlem bis nach Pankow reichen. Dort, in der Elsa-Brandström-Straße 18 verfasste die Liedermacherin Bettina Wegner ihre Flugblätter gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei.
Aber auch im Osten gab es Kommunen und einen Piratensender, wie Sontheimer und Wensierski rekonstruierten, die von einem kleinen subversiven Westberliner Kassettenverlag namens STECHAPFEL VERLAG in der Görlitzerstr. 74 in Kreuzberg 36 redaktionell betreut wurden.
Mehrere Adressen sind auch Orte von Pioniertaten. In der Suarezstraße 41 residierte etwa die erste Redaktion der "tageszeitung" ("taz"), in der Bülowstraße 17 der erste Schwulenbuchladen, in der Neuköllner Kopfstraße 12 der erste Kinderladen. Und ein deutsch-spanischer Kindergarten ist heute in der Charlottenburger Wielandstraße 13 untergebracht. Im Herbst 1968 zogen dort der kürzlich verstorbene "Bommi" Baumann, Eckhard Siepmann und Georg von Rauch ein, der Anwalt Otto Schily (später von Wiglaf Dorste als „Otto-Abschiebe-Anthroposoph tituliert) war deren Nachbar. Die "Wielandkommune" wurde eine der ersten Wohngemeinschaften, später formierte sich daraus der "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen", eine der ersten militanten Gruppen der West-Berliner Subkultur.
Ein anderer geschichtsträchtiger Ort ist auch eine Wohnung in der Knesebeckstraße 89 in Charlottenburg, wo Ingrid Schubert residierte, die wenige Monate vorher bei der Befreiung des inhaftierten Andreas Baader in der Miquelstraße mitgemacht hatte. Bei einer späteren Hausdurchsuchung fand die Polizei eine Pistole, Autonummern und Molotowcocktails. Die Wohnung gilt – so zumindest in der unvermeidlichen  Legendenbildung - als Keimzelle der Roten-Armee-Fraktion (RAF).

An gleicher Adresse ist heute übrigens eine schnieke Cocktailbar und eine Naturheilpraxis untergebracht. Jedenfalls ist der Band unterhaltsam und das Lesen macht endlich mal wieder auch etwas Spaß!

Michael Sontheimer, Peter Wensierski: Berlin - Stadt der Revolte, Ch. Links Verlag, Berlin, 448 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-86153-988-9.

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