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Aus der Zuckerfabrik

Von Dorothee Elmiger


Bories vom Berg schrieb uns am 22.02.2022
Thema: Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik

Unikat der Postmoderne

Das dritte Buch von Dorothee Elmiger mit dem Titel «Aus der Zuckerfabrik» verdeutlicht durch die fehlende Genrebezeichnung die Probleme bei der Definition der Gattung Roman. Bei Wikipedia wird dieses Buch nonchalant als ‹Roman› klassifiziert, eine literarische Form, die von Georg Lukács als «Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit» bezeichnet wurde, die Schweizer Autorin selbst hat ihr Buch als Recherchetagebuch bezeichnet. Auf potentielle Leser kommt also ein ungewöhnliches, verwirrendes Stück Prosa zu, soviel sei vorab schon mal gesagt.

Als Leitthema fungiert, dem Buchtitel entsprechend, der Zucker als Metapher für Begehren und Genuss, die Zuckerfabrik dient als Sinnbild der Gesellschaft. Ferner sind Gewalt, Kolonialismus, Ökonomie, Verteilungsgerechtigkeit, Glückssuche, Sexismus und anderes mehr markante Themen dieses konsequent abstrakt bleibenden, literarischen Sammelsuriums. Aber auch die Literatur ist, oft mit längeren Zitaten, breitgefächert vertreten. Peter Kurzeck wird genannt und Max Frisch, aber auch Joseph Roth, Marie Luise Kaschnitz oder Heinrich von Kleist. Zu den absonderlichen Geschichten, die häufig wiederkehrend im Buch thematisiert werden, gehört auch die des ersten Schweizer Lottokönigs von 1979 Werner Bruni. Der Titel seines Buches «Einmal Millionär und zurück» veranschaulicht besonders deutlich die Gedanken von Dorothee Elmiger zum Thema Geld. Mit Ellen West wiederum, berühmte Patientin des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger, wird das Thema Suizid aufgegriffen, und der Russe Vaslav Nijnsky schließlich steht als begnadeter Tänzer für Ruhm, aber auch für ein tragisches Ende in geistiger Umnachtung. Die im Buch durch Karl Marx und Adam Smith vertretene Ökonomie wird, ihre Maßlosigkeit betreffend, mit einer köstlichen, filmreifen Szene beschrieben: Während einer Teestunde nimmt Adam Smith, ganz in Gedanken verloren, ein Stück Zucker nach dem anderen aus der Zuckerschale und isst es auf, bis die verstörte Gastgeberin die Schale vom Tisch nimmt und in Sicherheit bringt.

All diese vielen Textfragmente sind scheinbar ziemlich zusammenhanglos aneinandergereiht, ihr tieferer Sinn erschießt sich oftmals nicht. Die Ich-Erzählerin, in der die Autorin unschwer zu erkennen ist, gibt offen zu, sie sei nicht in der Lage, «ihr Material in eine Erzählung zu fügen». Man hat es quasi mit einem prall gefüllten Zettelkasten in Buchform zu tun. In dem sind weder Zeit noch Ort konkret fassbar. Von allen Zwängen befreit, wie die Grübeleien ihrer phantasiebegabten Schöpferin auch, werden vielmehr in wilden, unkoordinierten Sprüngen mühelos sämtliche realen Dimensionen überwunden. Was hier erzählt wird sind Schnappschüsse und Szenen aus den Gedanken und Visionen einer Schriftstellerin, die sich verzweifelt bemüht, die Gegenwart zu verstehen. Dabei landet ihre Ich-Figur erzählerisch sehr häufig in einem «Gestrüpp», Sinnbild für Weglosigkeit und Unbehaustheit.

Dieses Buch ist eine berührende Anklage gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit und die unvermindert anhaltenden, eklatanten Fehlentwicklungen des 21ten Jahrhunderts. Sprachlich umgesetzt wird dieses Lamento durch ein brüchiges, inkonsistent erscheinendes Narrativ mit einer ausgesprochen eigenwilligen Syntax, die durch häufige fremdsprachige Einsprengsel und Zitate noch zusätzlich sperriger wird. Allein die sechs Seiten mit Quellenangaben zeugen davon, dass von flüssigem Lesen in diesem Buch wahrlich nicht die Rede sein kann. Dass die Autorin sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, wird an mehreren Stellen deutlich. Während sie am Schreibtisch sitze, sagt die Ich-Figur einmal selbstreflexiv, passiere gleichzeitig um sie herum alles Mögliche, «und das muss dann natürlich alles auch erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht». Kaum vorstellbar, dass diese experimentelle Prosa, ein Unikat der Postmoderne, den diesjährigen Frankfurter Buchpreis gewinnt, - aber man soll ja nie Nie sagen!

Fazit: lesenswert
Meine Website: http://ortaia.de

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