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Heimatlos

Von Judit Kováts


Bories vom Berg schrieb uns am 26.05.2022
Thema: Judit Kováts: Heimatlos

Die Deutschen als Opfer

Wie schon der Titel «Heimatlos» andeutet, handelt es sich bei dem neuen Roman der ungarischen Schriftstellerin Judit Kovats um eine Geschichte vom Verlust der Heimat. Als ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman beschreibt er die mit dem Rückzug der deutschen Besatzer beginnende Vertreibung der Karpaten-Deutschen aus der Stadt Kesmark, die zur traditionellen Landschaft Zips in der nordöstlichen Slowakei gehört. Die Geschichte ist aus der Perspektive der zu Beginn 17jährigen Schülerin Lili erzählt.

Nach dem Partisanen-Aufstand 1944 marschiert die deutsche Wehrmacht in die Slowakei ein, alle deutschen Kinder werden im Rahmen der Kinderland-Verschickung von den Nazis zwangsweise nach Österreich geschickt. Später werden sie dann weiter nach Bad Reichenhall verlegt, Lilis Vater aber holt sie schon bald dort wieder ab, weil er befürchtet, sie in den zunehmenden Kriegswirren aus den Augen zu verlieren. Er bringt sie zu Verwandten im mährischen Olmütz, wo sie sicherer aufgehoben sei. Seit die neue Regierung jedoch per Dekret die Kollektivschuld aller Deutschen an den Untaten der Nazis festgestellt und sogar das Tragen einer Armbinde mit aufgenähtem «N» verbindlich vorgeschrieben hat, werden sie auch dort verfolgt. Denn den so geschaffenen rechtsfreien Raum nutzen vor allem die Partisanen, die voller aufgestauter Wut nur noch auf Rache sinnen und morden und brandschatzen. Lilli und ihre Familie müssen sich verstecken, werden sogar von ihren früheren Mitbürgern drangsaliert, obwohl doch dort im friedlichen multikulturellen Miteinander nicht selten «ein Satz auf Deutsch begonnen, auf Slowakisch fortgesetzt und auf Ungarisch beendet» wurde. Schließlich wird die Familie enteignet, in einem Sammel-Lager interniert und von dort zwangsweise nach Deutschland deportiert.

Dieser erste Teil des Romans berichtet von unsäglichen Massakern, beschreibt die odyssee-artige Vertreibung über viele Stationen hinweg Richtung Deutschland. Erzählt wird von geradezu viehischen Bedingungen, unter denen die Vertriebenen zu leiden haben und an denen viele von ihnen, unterernährt, von Ungeziefer befallen, unter hygienisch desaströsen Verhältnissen und ohne jede ärztliche Hilfe, elendig sterben. Diese leitmotivisch allzu häufig wiederkehrenden Schilderungen dominieren inhaltlich die erste Hälfte des Buches, sie erweisen sich aber mit der Zeit als langweilig und irgendwann sogar störend. Der Krieg schlägt gewaltige Breschen in die Gemeinschaft der Zipser Deutschen, Lilis Vater sitzt in einem Internierungslager und stirbt nach seiner Entlassung früh an den Folgen der Arbeit in einem Uranbergwerk, ihr Schwager gilt lange als im Krieg verschollen. Im zweiten Teil nimmt die Geschichte Fahrt auf, die Familie ist zu guter Letzt in Dachau gelandet, sie bewohnen als Flüchtlinge das ehemalige KZ. Auch hier warten zunächst Hunger und Entbehrung auf sie, aber auch wohlmeinende Amerikaner, die helfen. Mit der Zeit rappelt man sich auf, findet Arbeit, Lili verlobt sich mit einem angehenden Arzt, nimmt Klavierunterricht, die Mutter eröffnet eine Nähstube, man bekommt eine bescheidene Wohnung und kann das primitive Lagerleben hinter sich lassen.

Das Besondere an diesem Roman ist die selten anzutreffende, sudetendeutsche Perspektive, aus der er erzählt wird, wie einst die Juden sind jetzt die Deutschen Opfer. Mit Lili spricht eine naive junge Frau aus dem Volke, deren Augenmerk auf die eher profanen Dinge des Alltags gerichtet ist, die großen historischen Umwälzungen werden nicht thematisiert. Was aber nicht bedeutet, dass ihr die Schrecken der Vergangenheit nicht ‹in den Knochen› stecken. Selbst Jahre nach Kriegsende hat sie nämlich ständig den gepackten Rucksack bereit stehen, den sie seinerzeit schon bei ihrer Flucht benutzt hat. Er enthält Kleidung, Hygieneartikel und Konserven, und einmal im Jahr öffnet sie ihn am Karfreitag in einem feierlichen Ritual, wechselt die Kleidung gegen frische aus und ersetzt abgelaufene Konserven durch neue.

Fazit: lesenswert
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