Jan Stumper schrieb uns am 14.09.2022
Thema: Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
Mit „Samson und Nadjeschda“ beginnt Andrej Kurkov eine wohl mehrteilige Kimireihe, die den Protagonisten Samson während der unklaren Zeit nach Ende des Zarenreichs im Jahr 1917 begleitet. Samson lebt in Kiew, will sich eigentlich als Ingenieur verwirklichen, doch die Lebensumstände, die unklaren politischen Verhältnisse und der Mangel am Nötigsten zwingen ihn eine Laufbahn bei der örtlichen Miliz als Polizeiermittler einzuschlagen.
Samson selbst wird zu Begin der Erzählung Opfer eines Anschlags, bei dem er nicht nur sein rechtes Ohr verliert, sondern auch sein Vater ermordet wird. Mit der resultierenden plötzlichen Eigenständigkeit konfrontiert, muss sich Samson nun selbst seinen Lebensunterhalt verdienen, wobei er gleichzeitig jene dingfest machen will, die die ärmliche Situation der Kiewer ausnutzen wollen, um sich persönlich zu bereichern.
Mysteriös bis hin zur gewollten Absurdität fungiert das abgeschlagene Ohr Samsons weiterhin als funktionierendes Abhörmittel, um seinen Ermittlungen einen entscheidenden Vorteil zu bringen. Denn Samson kann, mittels seines abgetrennten Ohrs, dass er in einer Bonbonbox aufbewahrt, weiterhin perfekt die Umgebung hören, in welcher er jenes platziert. Bis zum Ende bleibt unklar, wie dieser Umstand in die ansonsten realistische Handlung hineinpasst. Einerseits mutet dieses Element als Fremdkörper an, gleichfalls wirkt der Umstand nicht störend, sondern ist passend in den Verlauf der Erzählung eingebettet. Ob man darin einen Vorgriff oder eine subtile Anspielung auf heutige technische Abhörmöglichkeiten erkennen will, bleibt implizit und dem Leser überlassen.
Als Samsons Haushälterin ihm die junge Nadjeschda vorstellt, verschwimmen private und berufliche Interessen Samsons weiter. Er verliebt sich in die junge Statistikerin, die für den Zensus arbeitet. Nicht nur ist er nun bemüht seinen Beitrag zur Bekämpfung der Kriminalität zu leisten, sondern er will auch gegenüber Nadjeschda zeigen, dass er fähig ist auf eigenen Beinen zu stehen und für sich – und seinen Hoffnungen nach auch für sie zu sorgen. Dass sie allerdings sowohl charakterlich, aber auch beruflich auf festeren Beinen steht als er, ist ein Detail, welches der Beziehung zwischen den beiden Dynamik gibt.
Sie ist überzeugte Sozialistin und engagiert sich nicht nur brennend für ihren Beruf, sondern vertritt auch alle weiteren Ansinnen, die zu einem neuen kommunistischen Staat führen sollen und die Armen aus ihrer Unterdrückung befreien wollen. Andeutungsweise erfährt der Leser, dass Nadjeschda auch bereit wäre, dafür radikale Maßnahmen zu ergreifen. Demgegenüber bleibt Samsons politische Einstellung weitestgehend verschleiert – er wirkt unpolitisch und pragmatisch. Weder heftet er an einer der umtreibenden Ideologien, noch scheint er politikverdrossen. Der Fokus auf das (möglicherweise generell?) für ihn wesentliche – sein Alltag und seine Beziehungen, untermauern diese Eigenschaften. Diskutiert er mit Bekannten über die aktuelle Situation und die diversen Parteien die – einander feindlich gesinnt – um die Macht kämpfen, so bezieht er keine Position, stimmt entweder nur teilweise partikularen Ansichten zu oder ironisiert diese.
Kurkov gelingt es somit eine Distanz oder sogar Neutralität zwischen Samson und den Übrigen Akteuren aufzubauen. Diese wird auf den Leser übertragen, der sich nicht gezwungen sieht politische Position pro Sozialismus, Zarenreich oder Kapitalismus einzunehmen. Vielmehr verbleiben Samson und mittelbar der Leser somit in einer Einzelgänger-Rolle, die zwar gewisse Unwägbarkeiten für Samson mitbringen, aber doch auch ein freies Denken und Handeln ermöglichen. Übertragen seine Ermittlungen, schafft Samson es Methoden zu hinterfragen und eigenständige, eigentümliche Wege zu finden, das zentrale Verbrechen innerhalb der Handlung aufzuarbeiten.
Andrej Kurkovs Stil und Sprache untermauern diese Elemente. Er schreibt zurückhaltend und sachlich, wenngleich ein gewisser Humor und eine sarkastische Schärfe an einigen Stellen dies maßvoll und effektiv kontrastieren. Sarkasmus richtet sich aber nicht spezielle gegen bestimmte Ansichten, sondern ist situationsbedingt und politisch ungezielt.
Kurkov geht es nicht um die Abhandlung politischer Ansichten. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto klarer wird, dass zentrales Motiv das gegenseitige Verständnis für die Verhaltensweisen anderer ist, ohne diese gut- oder schlechtheißen zu müssen. So wie sich Samson zu Beginn gewisse – berechtigte – Vorurteile über scheinbar kriminelle Personen bildet, ist er auf Grund der Entwicklungen und tieferen Einblicke, Motivation und Hintergrund seines Gegenübers veranlasst, diese Urteile zu revidieren oder zumindest abzuändern.
Die Erzählung zielt darauf ab, den Fokus auf das Menschliche und nicht auf das politische oder gesellschaftliche zu legen. Dieser Humanismus wird allegorisiert durch die Beziehung zwischen Samson und Nadjeschda. Obgleich sie sich in ihrem Charakter nicht gleichen, finden sie langsam und über die gesamte Handlung hinweg enger zusammen. Ob daraus eine beidseitige Liebe geworden ist oder wird, bleibt verhüllt. Dieser Umstand ist insofern aber nicht wichtig; worauf es ankommt, ist dass die beiden füreinander sorgen, ohne dabei die politische Sphäre in ihre private vordringen zu lassen.
Kurkov legt ein Plädoyer für die Entpolitisierung des Zwischenmenschlichen vor. Als Beispiel kann man Samson und Nadjeschda heranziehen, die sich in den politisch streitbarsten und unsichersten Zeiten aufeinander als Menschen fokussieren und nicht als Vertreter politischer Ansichten. Diesen Ansatz nicht nur gegenüber den Liebsten zu suchen, sondern auf alle Interaktionen auszuweiten, ist das Leitmotiv dieses Krimis. Samson verdeutlicht dieses häre Ziel.
Der Elefant im Raum ist final die Parallele zwischen Erzählung aus den 10er Jahren des 20 Jahrhunderts und des Krieges in der Ukraine heute. Dieser Vergleich und eine dahingehende Deutung drängen sich auf. Sie sollte aber unterlassen werden. Die oben geschilderten Motive und Interpretationen des Buches sollten universellen Anspruch erheben und nicht auf den Krieg in der Ukraine allein zugespitzt werden. Auf ihn lassen sie sich auch, aber eben nicht nur anwenden.
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