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Jitka Perina schrieb uns am 04.03.2025
Thema: Karen Gloy: Macht und Gewalt
Rezension von Helga Lustenberger, geschrieben für Schwarz-auf-Weiss, Februar 2021
Wohin führt uns all unser MEINEN und NACHPLAPPERN ?
Diese Frage beantworte ich gleich selbst: Dadurch werden wir zu gleichförmigen, normierten Menschen, die sich leicht manipulieren und gängeln lassen! Als ob wir das nicht schon zur Genüge wüssten! Das Internet stellt uns zu jeder Zeit das gesamte Weltwissen zur Verfügung, und Radio, Fernsehen und Journalismus überfluten uns buchstäblich mit Informationen, die sie «vor-philosophiert» zur Sprache bringen und dafür Authentizität beanspruchen.
In unserer allzu hektischen Zeit konsumieren wir bereitwillig das uns so Vorgesetzte als Tatsachen, meistens ohne deren Bedeutung und Implikationen für unsere Gesellschaft zu hinterfragen. Gerade während der aktuellen «Corona-Pandemie» ist eine fatale Tendenz der Publizistik zu Sensationsmeldungen festzustellen, bei der Skandalöses bevorzugt, Positives verschwiegen und Gesamteindrücke andauernd verfälscht werden. Dennoch ist das für die Mehrheit der Menschen der Stoff, aus dem sie ihr «künstliches Weltbild» - inklusive Täuschungen und Irrtümern - weben.
Wie könnte die Meinung des Mainstreams auch falsch sein, wird sie doch von der Mehrheit getragen, selbst wenn niemand bereit ist, dafür die Verantwortung zu übernehmen?
Im Spiegellabyrinth der medialen Vormundschaftsgewalt, ihrer Manipulation, Täuschung und Blendung ergeben wir uns dem sanften Schlummertod unserer Freiheit: «Das Denken ist zwar allen Menschen erlaubt, aber vielen bleibt es erspart» (Curt Götz).
Wir fühlen uns von einem Allmachbarkeitswahn durch Technik und Künstliche Intelligenz dominiert, empfinden unser Menschenbild als homo faber weitgehend überholt und sogar die Kräfte der Vernunft scheinen zu erlahmen, mit dem Resultat des Verlustes an Individualität und Menschlichkeit. Dieser schleichende Abbau an Autonomie wird uns tagtäglich bewusst durch die Hypertrophierung des Freiheitsbegriffs in den vielschichtigen Facetten der Emanzipation von allen gewachsenen Werten und Traditionen (Ehe, Familie, Religion, Autorität, Disziplin).Ist es in diesen Zeiten komplexer Lebensführung überhaupt noch sinnvoll, im Sturm der medialen Sprachverwirrung seine Stimme zu erheben? - Genau das hat die Geisteswissenschaftlerin und Philosophin Karen Gloy mit der Vorlage ihrer drei jüngsten Werke getan:
«WAHRHEIT und LÜGE»
Die Bedeutung der Begriffe Wahrheit und Lüge sind für die Menschheit existentiell; sie müssen im Bewusstsein verinnerlicht sein, weil sie in Wahrheit weit mehr als nur dies erklären, nämlich den homo sapiens in Realität und Fiktion. Die meisten Menschen können nicht erklären, wovon sie sagen, sie seien davon überzeugt. Kein Wunder: Selber denken lässt sich nicht via Skype und Zoom abwickeln! Selbst-Denken heisst vornehmlich, den verschiedenen partikularen Perspektiven ihr Recht einzuräumen und dabei nicht den Anspruch zu erheben, sich in seiner partikularen Position den anderen aufzudrängen.
Die Autorin unternimmt mit ihrem Werk eine Differenzierung von Wahrheit und Lüge in anthropologischer, evolutionärer und historischer Sicht, immer mit lebensnahem Praxisbezug. Dies exponiert sie nicht nur an vielen Beispielen, wie sie in allen Facetten unseres Alltags gelebt und erlebt werden, sondern untermauert diese mit aufschlussreichen historischen, philosophischen und politischen Interpretationen im Vergleich mit anderen Kulturen, Ethnien und Ideologien. Es sind für uns Tagträumer aussergewöhnlich bedenkenswerte
Bewusstseinserhellungen zu den Kernfragen des Denkens.In wissenschaftlicher Konsequenz arbeitet die Autorin einsichtig heraus, dass wir zu rationalem Handeln befähigt, die Motive unseres Handelns, wie auch die Bausteine unserer Erkenntniswelt, aber im Geistigen liegen. Damit wird klar, dass Wahrheit und Lüge den Prinzipien und Regeln der Moral unterliegen, die anerzogen, erlernt oder durch Selbsterziehung internalisiert werden müssen. Erst dadurch werden wir zu «ens sociales» mit reflektierender Urteilskraft und eigenverantwortlichem autonomen Handeln.
Das Oeuvre bringt unser träges Denken in Bewegung, straft die Mythen der technologischen Entwicklung – speziell der Künstlichen Intelligenz – Lügen und entlarvt in seiner scharfsinnigen Analyse aktuelle Probleme, ohne Rücksicht darauf, ob die Schlussfolgerungen populär sind.
«MACHT und GEWALT»
kann als Anschlusswerk von «Wahrheit und Lüge» verstanden werden, obwohl es zweifelsfrei seine eigenständige Berechtigung hat. Die Autorin zieht in diesem Buch den Ariadnefaden weiter, sich nicht benebeln zu lassen und klar zu denken. Gerade bei Phänomenen, die allgemein bekannt sind, und mit denen jeder irgendeine Vorstellung verbindet, ist es unerlässlich, sich über die Bedeutung der Begriffe zu einigen.
Deshalb widmet sie den I. Teil ihres Werkes der Etymologie der Wörter Macht und Gewalt und zeigt damit deren komplexe Zusammenhänge auf.
Im II. Teil des Opus, dem Kern des Werkes, werden uns Zugänge zur praktischen Anwendung von Macht und Gewalt in allen Gefilden unserer menschlichen Verflechtungen eröffnet, sozial, wirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich, usw. – bis hin zur Künstlichen Intelligenz – womit der aufmerksame Leser den Fängen üblicher Engführungen entrissen wird. Die geschichtlichen Hintergründe bleiben dabei nicht ausgeblendet. Genial darin eingebunden sind die Geschichtswerke des Thukydides («Melierdialog»), die «Rede über den Lobpreis der Helena» des Sophisten Gorgias und im besonderen Macchiavellis «Il Principe» («Der Fürst»), deren Interpretationen von grossem Gewinn sind.
Mit Halbheiten macht Karen Gloy tabula rasa und berücksichtigt in ihren wissenschaftlichen Exponaten ebenso die Wirkungen von Macht und Gewalt in Psychologie und Religion, als auch die Macht des Geldes und der sozialen Netzwerke.Die Geschichte der Wahrheitsproblematik ist damit entfaltet und aufgerollt. Dem Leser dürfte inzwischen aufgegangen sein, dass die Macht die Argumente der Vernunft alltagspraktisch
immer noch durchkreuzt.«MACHT und GEWALT» ist nicht nur ein immenser geistiger Gewinn mit einem Wink zur
Besinnung, sondern auch ein Lesevergnügen!
Wir beten heute allerlei Arten von Macht an und errichten damit Denkmäler der Knechtschaft. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Karen Gloys fundamental geisteswissenschaftliche Studien in letzter Konsequenz konzentrieren auf die Herausforderungen, die sich gerade jetzt angesichts der gesellschaftlichen Wandlungen aufdrängen.
«DEMOKRATIE IN DER KRISE?»
Die Autorin dürfte sich kaum als «Geisteswissenschaftlerin» bezeichnen, wenn sie uns nicht den Spiegel vorhielte, der zeigt, wohin uns der lange menschliche Erfahrungs- und Entwicklungsweg geführt hat. Es ist ein festes Bekenntnis ihres freien Geistes zur Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Welt.
Dieses, uns so eindrücklich bewusst gemachte vergangenheitsbezogene Selbstbildnis löst sicherlich keine pure Freude aus, bringt uns aber näher heran an die Auseinandersetzung mit Fragen der Zukunft. Es wäre wünschenswert, das Spiegelbild unserer Gesellschaft mit der Lupe zu betrachten nach dem Diktum «sapere aude».
Eine persönlich verantwortete und mit Argumenten untermauerte Kritik steht jedem frei und wäre ein Diskussionsbeitrag zu nichts Geringerem als die gegenwärtige Zivilisationsdynamik mitdem Erfordernis der Permanenzfähigkeit in Einklang zu bringen.
Stellen wir uns dieser unausgesprochenen Aufforderung, den weißen Fleck zu finden, die fortschreitend und unaufhaltsam erkennbare Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und unserer Menschlichkeit nachhaltig zu überwinden. Das braucht nicht nur Zivilcourage, sondern vielmehr auch Demut und Bescheidenheit.
Ich wünsche den drei herausragenden Werken weite Verbreitung; sie wollen «gefunden werden»!
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Jitka Perina schrieb uns am 04.03.2025
Thema: Karen Gloy: Alterität
ASPEKTE DER ANDERSHEIT
Rezension zu: GLOY, Karen: Alterität. Das Verhältnis von Ich und dem Anderen. Wilhelm Fink Verlag, 2019
Das Buch der Philosophin Karen Gloy trifft mit seinem Fokus auf das Verhältnis von
Ich und dem Anderen genau das aktuelle Problem unserer westlichen Welt - das Problem
der Begegnung mit dem Fremden, mit welchem wir uns nach den jüngsten
Flüchtlingswellen tagtäglich konfrontiert sehen. Denn mit dem Problem der Andersheit
verbindet sich das der Fremdheit.
Karen Gloy kommt nicht mit einer einfachen Lektüre, sie unterbreitet den kritischen und
interessierten Leserinnen und Lesern ein anspruchsvolles und fesselndes Angebot in Form
einer gleichzeitig weitreichenden und tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Thema
der Andersheit.
(Die Synonyme des Begriffs Alterität: Andersheit, Divergenz, Unterschied, Verschiedenheit)
Ausgangslage
Mit der zunehmenden Globalisierung scheint das Thema der Andersheit zunächst
überwunden zu sein, was sich jedoch als Täuschung erweist. Zwar ist die traditionelle
Grenzziehung durch die Globalisierung, Digitalisierung und Vernetzung aufgehoben und
heterogene Kulturen vermischen sich und erzeugen Multikulturalität. Die
Daseinsbewältigung des Einzelnen gründet jedoch auf einem rigorosen Egoismus. Dem
Einzelnen geht es vor allem um sich selbst, er setzt seine Interessen im Kampf gegen
andere durch und verfolgt die Gedanken der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung.
Demgegenüber rückt die Beziehung zum anderen auf den zweiten Rang. Das Wir-Gefühl
haben wir weitgehend verloren. Die Konflikte werden zu Gunsten des Ich entschieden. Der
Verstand und die Vernunft tragen zur Unterdrückung der Gefühle und Befindlichkeiten
bei. Das Ich und die Rationalität werden übermässig akzentuiert. Dies widerspiegelt sich in
unserer westlichen Sprache, sie ist egozentrisch und ergozentrisch, sie ist ichbezogen und
aktivistisch. Die Ich-Kultur kommt auf allen Ebenen zu ihrer vollen Blüte.
Zwischenbilanz
Hier steht viel auf dem Spiel. Für die Entwicklung des Selbstbewusstseins kommt das Ich-
Bewusstsein ohne das Bewusstsein des Anderen nicht aus, es ist von der Interaktion und
Kommunikation mit anderen abhängig. Dem Anderen kommt eine Schlüsselbedeutung
beim Entstehen des Selbstbewusstseins zu. Aus der Beobachtung des Anderen entwickeln
wir einen Begriff von uns selbst und wenn wir die Perspektive des Anderen einnehmen,
übertragen wir diese auf uns selbst. Intersubjektivität ist das Verhältnis des Ich zum
Anderen, eine wechselseitige Bezogenheit und Angewiesenheit aufeinander. Diese hat den
Charakter der Interdependenz, der wechselseitigen Abhängigkeit. Das setzt voraus, dass
das Ich und das Andere auf eine gemeinsame Grundlage hin konzipiert sind.
Zielsetzung
Wer die Bücher von Karen Gloy liest, ist es gewöhnt, eine anspruchsvolle Lektüre
vorzufinden und diese dann nicht so rasch wieder aus der Hand zu legen. Die Autorin
enttäuscht auch dieses Mal den kritischen Leser nicht und führt ihn mit einer
beachtenswerten Stringenz durch die facettenreiche Arbeit. Sie bietet eine gründlich
ausformulierte Absichtserklärung, definiert die Grundbegriffe, formuliert präzise Fragen,
erläutert die Hintergründe und Zusammenhänge, führt eine mehrspurige Argumentation
und arbeitet die Unterschiede der einzelnen Positionen klar heraus. Sie diskutiert die
Alternativen und hebt die Unterscheide der einzelnen Modelle und Werke hervor.
Anhand von Beispielen und Theorien aus unserer Geschichte und der Geschichte anderer
Kulturen verfolgt Karen Gloy mit einer bewusst sachlich-systematisch angelegten Analyse
die Grundaufgabe der Arbeit, nämlich die Erscheinungsweisen des Anderen genauer zu
untersuchen und aufzuzeigen, dass es auch ausserhalb der übermässigen Akzentuierung
von Ich und Rationalität sinnvolle Daseinsauslegungen gibt.
Formen der Alterität
Das Problem des Anderen und der Andersheit spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab,
wobei diesen eine wechselnde Bedeutung zukommt: Auf der Ebene der Interpersonalität,
der Selbstbeziehung des Einzelnen, der Beziehung der Menschen zum ganz Anderen, der
Beziehung zum Nicht-Rationalen und der Beziehung zum Transhumanen. Diese diversen
Formen der Alterität werden in der Arbeit genauer expliziert.
Herausgehoben
Die konsequente Gliederung der Arbeit ermöglicht eine Orientierung in der Breite und
Tiefe der Materie.
Als Erstes legt die Autorin einen Leitfaden der historischen Entwicklung des Ich-Bezugs
aus, veranschaulicht die Bedeutung des Anderen für das Ich und bietet eine methodische
Reflexion und Vorschau.
Der erste Teil der Untersuchung befasst sich mit der Beziehung zwischen Objekt und
Subjekt und behandelt diese auf verschiedenen Ebenen und unter verschiedenen Aspekten.
Zur Untersuchung der Wechselverhältnisse zwischen dem Ich und dem Anderen in der
menschlichen Gemeinschaft werden Konzepte herangezogen, welche das menschliche
Verhältnis von ich und anderem zu erklären suchen. Das Heranziehen der Theorie Hegels
(Konzept der Einheit und Vereinigung) und der modernen Hegel-Debatte (dasSpannungsfeld
der divergenten Ansichten) ermöglichen es, das Ziel zu verfolgen, ein
Konzept der wechselseitigen Begegnung und Anerkennung in der Unterschiedlichkeit der
Standpunkte zu verdeutlichen. Weiter begegnen wir zwei unterschiedlichen Ansätzen, der
Beziehung des Ich zur Zeit, nicht zum Anderen (Martin Heidegger) und der dialogischen
Ich - Du Beziehung, welche als Struktur der Welt unterstellt wird (Martin Buber, Franz
Rosenzweig, Emmanuel Levinas). Hier erlangt der Begriff der Begegnung eine wichtige
Bedeutung.
Fesselnd und klar herausgearbeitet geniesst hier die Leserin den Vergleich zwischen Hegels
und Bubers Konzeption in puncto dialogische Beziehung zwischen Ich und dem Anderen - auf
das Ich-Du-Verhältnis und auf den Anfang und Grund aller Beziehungen im ewigen göttlichen Du.
Der zweite Teil der Untersuchung gilt der Thematisierung des sachlich Anderen, der
Beziehung des Ich auf das Objekt, das Es. Hier geht es auch um das Verhältnis der
Beziehung des Einzel-Ich zu sich selbst, als Selbsterkenntnis und Selbstidentifikation. Die
Auseinandersetzung mit der Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums findet in einer
kritischen und analytisch differenzierten Art statt. Obwohl Lacan in seiner Ich-Theorie
prinzipiell an der traditionellen Positionierung des Ich festhält, unterscheidet er sich doch
darin, dass der Selbsterkennungsprozess zu einer permanenten Verstellung degradiert wird.
Dem Anderen kann nur in Gestalt von Täuschungen und Illusionen begegnet werden,
womit nicht nur das Ich, sondern auch das Andere degradiert wird.
Im dritten Teil untersucht die Autorin das Verhältnis des Ich zum ganz Anderen, dem
Transzendenten, dem Göttlichen. Sie lässt die Leserschaft den Positionen Platons, des
Neuplatonismus, des Nicolaus Cusanus, des Johan Gottlieb Fichte und Jacques Derrida
begegnen. Sie diskutiert und verdeutlicht die Positionen des ganz Anderen, der göttlichen
Sphäre, welche sich dem rationalen Zugriff verschliesst.
Im vierten Teil der Arbeit, welcher den Titel «Das Andere als Sub- und Hyperrationales»
trägt, wird die These vertreten, dass die Wiederholung des Ursprungsgeschehens im Sinne
der Zurückholung des Anfangs durchaus möglich und nachvollziehbar ist. Hierzu dienen
die aus dem Alltag herausragenden Anlässe wie Feiern, Kulte und Rituale, in welchen sich
der Mensch in ausserordentliche Bewusstseinszustände begibt, aus welchen er nach einer
gewissen Zeit wieder herausfällt. Diese auch «anonym» genannten Phänomene, welche
sich einer exakten Begrifflichkeit entziehen, machen die vierte Art der Alterität aus.
Sie
können wenig determiniert sein im Sinne der fehlenden Identifizierbarkeit, ambivalent
oder polyvalent. Diese Phänomene ordnet man der Sinnlichkeit zu, denn sie entziehen
sich der Rationalität. Hier sind auch die darstellende und bildende Kunst einzuordnen,
denn sie beschäftigen sich gerade mit diesen Phänomenen, welche sich mit dem analytischen
Denken nicht erfassen lassen. Zu den hyperrationalen Anderen zählen die sachlich
ambivalenten oder polyvalenten Gebilde, die Mehrfachinterpretationen zulassen.
Dies wird an Arcimboldos Jahreszeitenzyklus, der sprachlichen Mehrdeutigkeit und der Metaphorik
der Sprache auf eine fesselnde Art mit vielen praktischen Beispielen demonstriert.
Der letzte Teil der Arbeit vervollständigt die Analyse mit dem kritischen Ausblick auf das
Andere als das Transhumane. Hier wird die Frage des Transhumanismus diskutiert, welche
die Vollendung des Rationalismus darstellt und auch die Entwicklung zur künstlichen
Intelligenz und der Mensch-Maschine, dem Roboter oder Cyborg. Der Gedanke, dass der
Geist respektive die Seele mit diversen Materialien kompatibel ist und die Körperteile
austauschbar sind, ist ein uralter Gedanke. Solange die zukünftigen Veränderungen an
Menschen nur den materiellen Teil betreffen und an der Einheit und der Identität der Seele
festgehalten werden kann, ist die persönliche Identifikation nicht in Gefahr. Mit der
Vorstellung eines Superhirns jedoch würde das Individuum seine Identität verlieren. Hier
stellt sich die Frage, ob dies nicht die Aufhebung der Grundsituation vom Ich und dem
Anderen mit sich brächte.
Empfehlung
Das Buch von Karen Gloy: Alterität, Das Verhältnis von Ich und dem Anderen ist im
Januar 2019 im Wilhelm Fink Verlag erschienen. Die 259 Seiten umfassende Lektüre ist
aus mehreren Gründen sehr empfehlenswert. Sie erfüllt völlig die Erwartung an eine
fundierte, kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Thematik. Sie zeichnet sich
durch die systematische, analytische Vorgehensweise der Autorin, die reichhaltige und
tiefgründige Erläuterung der Begriffe und Zusammenhänge aus. Die Grundaufgabe der
Arbeit, nämlich die sinnvollen Daseinsauslegungen auch ausserhalb des egozentrischen
und rationalen Akzentes darzulegen, erfüllt sie reichhaltig. Sie bietet der anspruchsvollen
Leserin und dem anspruchsvollen Leser viel Erkenntnis und einen langanhaltenden
Lesegenuss.
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Jan Stumper schrieb uns am 19.12.2024
Thema: Samantha Harvey: Umlaufbahnen
Am Ende des Romans "Umlaufbahnen" von Samantha Harvey hat ein Hurrikan der Kategorie 5 eine kleine Inselgruppe der Philippinen schwer getroffen und überschwemmt. In einer Kirche sitzen Überlebende, um sie herum drückt die Sturmflut gegen die Kirchenwände. Brechen sie, ist es vorbei, das irdische Leben, mit einem Wimpernschlag.
In der Raumstation ISS sitzen unterdessen sechs Astronauten, um sie herum drückt ein schwarzes Nichts gegen die Stahlwände der Raumstation. Brechen sie, ist es vorbei, das nicht mehr nur irdische, sondern auch das orbitale Leben, zu dem sich diese sechs und damit die gesamte Menschheit mittlerweile vorgearbeitet hat.
Macht es einen Unterscheid, welche Wand bricht. Ist das eine eher hinzunehmen als das andere? Wie unwahrscheinlich und sinnlos erscheint ohnehin die Ausgangssituation: Menschen (1) sitzen in einem Raum (2), den sie selbst errichtet haben (3) und stemmen sich gegen ihre sichere Vernichtung?
Es sind Fragen wie diese, die die Autorin Samantha Harvey in "Umlaufbahnen" aufwirft. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu der Erde zu seiner Vergänglichkeit und zu seiner Zukunft werden hier poetisch aufgearbeitet. Poetisch deshalb, weil Harvey einen Erzählstil anwendet, der Analogien zieht, die pointiert und überraschend sind, ohne konstruiert zu wirken. Symbole wie das Gemälde "Las Marinas" unterstützen einen Stil, der nicht ins pathetische und kitschige abdriftet. So hochgegriffen die Beschäftigung mit existenziellen Fragen stets ist, begeht Harvey nicht den reizvollen Fehler selbst sprachlich allzu hoch greifen zu wollen. Sie erzählt eindrücklich aber unaufgeregt, ohne Überhöhung. Vergleiche dienen ihr als Referenz: Was die Astronauten auf der Raumstation erleben, wie sie sich fühlen, wie sie ihren Alltag gestalten müssen; das ist so derartig abseits des Lebens auf der Erde, es erscheint unmöglich hier Parallelen zu entdecken. Dennoch offenbart der Roman Muster des menschlichen Handelns und damit der Menschheit selbst.
Harvey geht mit ihrem Buch den Antrieben, Bedürfnissen und Problemen des Humanismus nach, indem sie Gemeinsamkeiten erkennt, wo es sie eigentlich nicht geben dürfte.
Gemeinsamkeit und Unterschied, Trauer und Zuversicht, Sinnlosigkeit und Erfüllung - Crestfalleness und Hoffnung. Dies sind die immer wieder aufgeworfenen Motive des Romans, mit denen die sechs Astronauten auf ihren 16 Orbitalfahrten um die Erde zu kämpfen haben.
Schließlich kann man die Botschaft ziehen: Alles ist sinnlos und deshalb kann auch alles sinnvoll sein. Alles ist stets zugleich das eine und das passende Gegenteil. Es liegt am Einzelnen den Blickwinkel zu wählen, die Ausrichtung zu behalten und die Perspektive nicht verwässern zu lassen.
"Umlaufbahnen" ist ein Roman über die Menschheit abstrakt und gleichzeitig über das Individuum im Verhältnis zu sich und zur Gesamtheit. Es ist ein philosophisches, ein existenzialistisches Buch. Glücklicherweise ist es aber nicht klischeehaft oder kitschig - Umlaufbahnen ist Literatur: Eine Verdichtung menschlicher Erfahrungen, die nur große Autoren auf poetische Weise ausdrücken können.
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