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Jan Stumper schrieb uns am 19.12.2024
Thema: Samantha Harvey: Umlaufbahnen
Am Ende des Romans "Umlaufbahnen" von Samantha Harvey hat ein Hurrikan der Kategorie 5 eine kleine Inselgruppe der Philippinen schwer getroffen und überschwemmt. In einer Kirche sitzen Überlebende, um sie herum drückt die Sturmflut gegen die Kirchenwände. Brechen sie, ist es vorbei, das irdische Leben, mit einem Wimpernschlag.
In der Raumstation ISS sitzen unterdessen sechs Astronauten, um sie herum drückt ein schwarzes Nichts gegen die Stahlwände der Raumstation. Brechen sie, ist es vorbei, das nicht mehr nur irdische, sondern auch das orbitale Leben, zu dem sich diese sechs und damit die gesamte Menschheit mittlerweile vorgearbeitet hat.
Macht es einen Unterscheid, welche Wand bricht. Ist das eine eher hinzunehmen als das andere? Wie unwahrscheinlich und sinnlos erscheint ohnehin die Ausgangssituation: Menschen (1) sitzen in einem Raum (2), den sie selbst errichtet haben (3) und stemmen sich gegen ihre sichere Vernichtung?
Es sind Fragen wie diese, die die Autorin Samantha Harvey in "Umlaufbahnen" aufwirft. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu der Erde zu seiner Vergänglichkeit und zu seiner Zukunft werden hier poetisch aufgearbeitet. Poetisch deshalb, weil Harvey einen Erzählstil anwendet, der Analogien zieht, die pointiert und überraschend sind, ohne konstruiert zu wirken. Symbole wie das Gemälde "Las Marinas" unterstützen einen Stil, der nicht ins pathetische und kitschige abdriftet. So hochgegriffen die Beschäftigung mit existenziellen Fragen stets ist, begeht Harvey nicht den reizvollen Fehler selbst sprachlich allzu hoch greifen zu wollen. Sie erzählt eindrücklich aber unaufgeregt, ohne Überhöhung. Vergleiche dienen ihr als Referenz: Was die Astronauten auf der Raumstation erleben, wie sie sich fühlen, wie sie ihren Alltag gestalten müssen; das ist so derartig abseits des Lebens auf der Erde, es erscheint unmöglich hier Parallelen zu entdecken. Dennoch offenbart der Roman Muster des menschlichen Handelns und damit der Menschheit selbst.
Harvey geht mit ihrem Buch den Antrieben, Bedürfnissen und Problemen des Humanismus nach, indem sie Gemeinsamkeiten erkennt, wo es sie eigentlich nicht geben dürfte.
Gemeinsamkeit und Unterschied, Trauer und Zuversicht, Sinnlosigkeit und Erfüllung - Crestfalleness und Hoffnung. Dies sind die immer wieder aufgeworfenen Motive des Romans, mit denen die sechs Astronauten auf ihren 16 Orbitalfahrten um die Erde zu kämpfen haben.
Schließlich kann man die Botschaft ziehen: Alles ist sinnlos und deshalb kann auch alles sinnvoll sein. Alles ist stets zugleich das eine und das passende Gegenteil. Es liegt am Einzelnen den Blickwinkel zu wählen, die Ausrichtung zu behalten und die Perspektive nicht verwässern zu lassen.
"Umlaufbahnen" ist ein Roman über die Menschheit abstrakt und gleichzeitig über das Individuum im Verhältnis zu sich und zur Gesamtheit. Es ist ein philosophisches, ein existenzialistisches Buch. Glücklicherweise ist es aber nicht klischeehaft oder kitschig - Umlaufbahnen ist Literatur: Eine Verdichtung menschlicher Erfahrungen, die nur große Autoren auf poetische Weise ausdrücken können.
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Jan Stumper schrieb uns am 15.09.2024
Thema: Timon Karl Kaleyta: Heilung
Heilung – Timon Kaleyta
Unscheinbar gedruckt, um übersehen zu werden, steht in kindlicher Handschrift auf dem Cover von Timon Kaleytas Roman „Heilung“ unter dem Titel „I dont worry anymore“. Die Botschaft des Romans ist durch diesen einen Satz für den aufmerksamen Leser schon vor der ersten Seite verraten.
Den Protagonisten des Romans quält ein Unbehagen. Eigentlich geht es ihm gut. Gesundheitlich ist er in Topform, psychisch lässt sind nichts handfestes Nachweisen. Allein Schlafstörungen plagen ihn. Daher begibt er sich auf Ansinnen seiner Frau in das San Vita; ein in den Alpen gelegenes privates Spital, in dem er sich die Lösung seines Problems, seines Unbehagens, erhofft.
Dass dieser Aufenthalt nicht des Rätsels Lösung sein wird, erkennen der Leser und auch der Protagonist recht schnell. Oberflächlich und scheinheilig wirkt diese Einrichtung wie Scharlatanerie. Das San Vital ist ein Haus, in dem Probleme erst geschaffen werden, um sie sodann zu lösen. Ein naiver Gast mag darin eine Heilung sehen, doch den Ursprung dessen, was eigentlich einem Menschen in diesen 20iger Jahren Unbehagen bereitet, wird nicht berührt.
Erst als der schlaflose Mann zu den Wurzeln seiner Existenz zurückkehrt und auch darin erkennt, dass er das Unbehagen nur unterdrücken kann, aber nicht fähig ist es zu überwinden, kann der Leser zur wahren Erkenntnis gelangen.
Das Unbehagen entsteht durch die Permanente suche nach etwas, was es nicht gibt. Etwas, das gesellschaftlich aber suggeriert wird und nach dem es scheinbar zu streben gilt. Nämlich ein perfektes Leben. Leben und Perfektion, sind jedoch nicht miteinander vereinbar. Jedenfalls besagt dies die Empirie, denn, dass jemals ein in Strebender behauptet hätte, er habe das perfekte Leben geführt, ist wohl noch nicht vorgekommen, auch wenn es ein Leben in Zufriedenheit gewesen sein mag und er nichts bereut.
Unbehagen: Dies entsteht durch die Autosuggestion, man könnte das finden, was nicht existiert. Die unendliche Suche, auf die man sich zwangsläufig begeben muss, führt einen vielleicht in die Tiefen der eigenen Psyche und in die eigene Vergangenheit. Vielleicht findet man während dessen sogar aufschlussreiches; jedoch das perfekte Leben, finale Sicherheit und endgültige Freiheit – all dies wird man nicht finden. Denn diese Eigenschaften sind mangels Existenz nicht auffindbar. Wer sein Unbehagen überwinden will, der muss aufhören zu suchen, aufhören zu sorgen. Dann wird man zwar kein Leben in Perfektion erhalten, aber ein Leben in Eintracht mit sich und seiner Umgebung.
Dies ist die Botschaft, die der Roman schließlich trägt. Offen beleibt, ob auch der Protagonist sie erkennt. Vielleicht denkt er nur, er habe sich durch die Bewältigung seiner Vergangenheit befreit. Möglicherweise ist ihm nicht klar, dass in seiner vielversprechenden Zukunft weitere Hürden warten.
Sprachlich schreibt Timon Kaleyta pointiert und fast abgestumpft aus der personellen Sicht des Protagonisten: Dies entspricht den Charakterzügen des zwar teils verzweifelnden, aber meistens zynischen Mannes.
Nicht gänzlich frei ist der Roman von klischeehaften Parallelen, wenn etwa eine scheinbare Erkenntnis mit dem Beginn des Frühlings ins Bild gesetzt wird. Dies ist verzeihlich, denn der wohlwollende Leser könnte darin auch eine Anspielung auf das Angebot der Moderne nach oberflächlichem, wenig nachhaltigem Erkenntnisgewinn sehen.
„Heilung“ erzählt von einer sinnlosen Suche nach Ursachen; von einer Hybris, nach welcher der Mensch in der Lage sei, die Welt und sich selbst zu verstehen – einen finalen Schluss der Weisheit ziehen zu können. Man kann darin eine Parabel auf die moderne Gesellschaft sehen. Dann wäre „Heilung“ als eine Realsatire auf Trends der Selbstoptimierung und vermeintlichen Selbstfindung und all jene Influencer (im Roman personifiziert durch den Klinkleiter des San Vita) zu sehen, die versprechen mit hinreichender Übung und Widmung komme man zur universalen Erkenntnis des eigenen Selbst.
Der Roman will jedoch mehr als das. Er ist nicht allein Satire – dies maximal sekundär – in erster Linie ist „Heilung“ ein Angebot an den Leser, die Suche zu beenden. Denn wer die Suche freiwillig aufgibt, der muss nicht sorgen, was das Leben ist, wer er selbst ist und was die Vergangenheit aus einem gemacht hat. Wer nicht sucht, der lebt im Moment – im Gegenwärtigen. „Heilung“ begründet die These, dass der Fokus auf das Gegenwärtige und immanente die sinnstiftende und erfüllende Tätigkeit ist, sein Leben zu führen. Ersetzt gehört die Suche nach und Sorge um einen höheren, transzendentalen Sinn.
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