Günther M. Doliwa schrieb uns am 09.05.2023
Thema: Leo Tolstoi: Krieg und Frieden
Krieg und Frieden von Leo N. Tolstoi (1828-1910)
Welche gewaltige Lebenskraft dem Menschen innewohnt
Oder warum Tolstois Epos Trostlektüre in Zeiten von Krieg ist
Von Günther M. Doliwa
Der russische Autor
Stammt aus einer Adelsfamilie; Frühwaise, von einer Tante erzogen; ohne Universitätsabschluss; Verzicht auf diplomatischen Dienst; als aufklärerischer Sozialreformer gescheitert; Nichtstuer; Spielschulden am Hals; ab 1851 Militärdienst im Kaukasus und im Krimkrieg; 1856 Europareisen; Heirat mit der 18-Jährigen Sophia; 13 Kinder; ab 1869 („Krieg und Frieden“ beendet) Sinnkrise und Pessimismus; lehnt 1901 den Literatur-Nobelpreis ab; exkommuniziert aus der russisch-orthodoxen Kirche; zerrüttete Ehe; Flucht aus seinem alten Leben aufs Land; besitzlos; stirbt auf einer Bahnstation.
Das Epos
Leo Tolstoi schrieb in fünf Jahren „rastloser und unermüdlicher Arbeit“ (1865-69) (S.1455) mit „Krieg und Frieden“ ein fast antikes Epos, keinen üblichen Roman, keine historische Chronik. Tolstoi erzählt aus russischer Perspektive die Zeit von 1805 bis zum Scheitern von Napoleons Russlandfeldzug im Jahr 1812. Ein Teil des Buchs stellt die Figuren und Familienverhältnisse vor, im anderen Teil steht eher das Kriegsgeschehen im Vordergrund. Dazu schreibt der Autor gut 50 Jahre danach:
„Am 12. Juni überschritten die Heere Westeuropas die russische Grenze und der Krieg brach los, das heißt, es vollzog sich ein dem menschlichen Verstand sowohl wie der menschlichen Natur durchaus zuwiderlaufendes Ereignis. Millionen Menschen verübten gegenseitig eine solche Unzahl von Freveltaten, Betrügereien, Diebstählen, Verrat, Fälschung und Ausgabe gefälschter Banknoten, Plünderungen, Brandstiftungen und Morden, wie sie im Verlauf von Jahrhunderten die Gerichtsstatistik der ganzen Welt nicht hätte zusammenbringen können; und dabei betrachteten in jener Zeitperiode die Menschen, die sie begingen, dies keineswegs als Verbrechen.“ (9.Teil, I, 727)
Sein Buch seziert die Ära Napoleonischer Kriege politisch, philosophisch, historisch. Es wird Liebes-geschichte, Psychogramm, Reportage, Gesellschaftsporträt. Rund 250 Figuren treten auf. Tolstoi war 34 Jahre alt, als er damit begann. Er erzählt auktorial. Getränkt von Realismus. Tolstois Monumentalwerk besteht aus fünfzehn Teilen, durch kleinere Kapitel untergliedert, plus Epilog. Es gibt einen ständigen Wechsel zwischen Detailbeschreibungen des Kriegsschauplatzes und dem gesellschaftlichen (Liebes-) Leben in Moskau und St. Petersburg. Die Kontraste von Leben und Tod, Freude und Trauer, Krieg und Frieden bestimmen den Rhythmus des Erzählens.
Auf den Zeitcharakter „barbarischer Wildheit“ (Sklaverei) kommt es ihm weniger an als auf die tiefe „Entfremdung“ zwischen höheren Kreisen und unteren Schichten. Er wählt russisch klingende Namen für sein immenses Personal. Bis auf zwei Namen sind alle erfunden. Von historischen Schilderungen weicht der Künstler bewusst ab. „Wesensgesamtheit“ und „Kompliziertheit“ der Verhältnisse fordern den Künstler heraus, für den klar ist, „es darf keine Helden, sondern nur Menschen geben.“ (1458) Ereignisse leitet er „aus seiner eigenen Erfahrung her oder aus Briefen, Memoiren oder Berichten“. Täuschungen, „militärische Fälschungen“ und „prahlerische Unwahrheit“ seien darin unvermeidbar und Schwätzer „erzählen, wie sich das, was sie gar nicht gesehen haben, zugetragen hat“. „Lüge und Entstellung erstrecken sich dabei nicht nur auf die Darstellung der Ereignisse, sondern auch auf die Auffassung ihrer Bedeutung.“ (1460) So wird, wie in jedem Krieg, Wahrheit unauffindbar. Pathos sei im Krieg völlig unangebracht.
Tolstois wichtigste Betrachtung betrifft „die geringe Bedeutung, die nach meinen Begriffen die sogenannten großen Männer in den geschichtlichen Ereignissen haben.“ (1461) Die Ursachen der Großereignisse seien dem Verstande unzugänglich – Eroberungssucht Napoleons, patriotische Standhaftigkeit des Kaisers Alexander – d.h. sie können „nicht durch den Willen eines einzelnen Menschen verursacht sein“. Bei historischen Ereignissen sind die Großen nur Etiketten.
Thema: Krieg und Frieden
Bereits in der ersten Szene, die im Jahr 1805 (1.Teil, I.) spielt, betont bei einer vornehmen Abendgesellschaft Anna Pawlowna Scherer, die Hofdame und Vertraute der Kaiserin-Mutter „daß der Krieg eine Notwendigkeit ist“ und niemand wagen solle, „alle Schändlichkeiten und Gewalttaten dieses Antichristen zu verteidigen“ (5). Der Ton ist gesetzt. „Rußland muß allein Europa retten.“ Später wird es heißen: „Europa wird niemals unser aufrichtiger Bundesgenosse sein.“ (435) (Vor 150 Jahren gesprochen! Die Deutschen heißen übrigens „die Wurstmacher“ (319), Dauerverlierer, von allen geschlagen (120).) Während man in den oberen Kreisen französisch spricht, die Französische Revolution als Emanzipation feiert und den selbstgekrönten Kaiser Napoleon positiv sieht, bleiben andere argwöhnisch. Die Spannung zwischen Westen und Osten wird sichtbar, auch die Spannung zwischen den Geschlechtern, die von Chauvinismus und Kriegsstrategien geprägt sind: „Ich verstehe nicht, ich verstehe ganz und gar nicht, warum die Männer nicht ohne Krieg leben können. Warum wollen wir Frauen nichts, ohne das wir nicht leben können?“ (30) Der Krieg greift, einem Feuer vergleichbar, um sich, der Kriegsschauplatz rückt zunehmend an die russische Grenze heran. Der Frieden in Europa trügt.
Dieser Klassiker der Weltliteratur schildert Russland während der Napoleonischen Kriege (1805-1812). Im Wechsel von Kriegs- und Friedensszenen schildert Tolstoi, was an der Front geschieht und wie das Leben einiger Adelsfamilien in Moskau und Petersburg sich entwickelt. Wie sie zum Krieg stehen, wie sie hineingezogen werden. Die Detailfülle erschlägt fast. Tolstoi kommen seine eigenen Erfahrungen im Krieg und im Adel zugute, wenn er das Leben im Feld beschreibt, etwa, wenn eine Mannschaft im knietiefen Schnee eine geflochtene Wand einer Scheune abreißt und als Windschutz am Lagerfeuer aufstellt (1300); oder wenn er Rituale, Intrigen, Privilegien, Interessen, Verwicklungen der Aristokratie beleuchtet.
In Aristokratenkreisen treffen die Patriarchen aufeinander, alles was Rang und Namen hat. Die Familie Kuragin mit den Kindern Anatol, Hippolyt und Helene; der unglücklich verheiratete Fürst Andrej Bolkonskij, der sich „wie ein angeketteter Sträfling“ ohne jede Freiheit fühlt und aus seiner Ehe in den Krieg flüchtet, und dessen vatertreue Schwester Marja, die den traditionellen Glauben verkörpert; die Familie Rostow mit Nikolaj, Natascha und der Nichte Sonja, in deren Haus „eine poetische Liebesatmosphäre“ (392, 404) herrscht. Die Gespräche drehen sich um Politik und Religion, um Erbschaft und Eheanbahnungen, um Bälle und Empfänge, um Frontverläufe und Jagden, um Allianzen und Konkurrenzen, Beförderungen und Degradierungen, um Trägheit und „Kopflosigkeit der Heerführer“ (311), um Zarenglanz Alexanders I. und das Verhalten des Eroberers und Friedenstörers Napoleon. Schlachtenpläne, Dispositionen, Paraden, Truppenbewegungen und Schlachten samt Schicksalen der Verwundeten werden ausführlich dargelegt. Das kann nur schreiben, wer (wie Tolstoi) selbst im Krieg war. Dann wieder werden Lebens-, Liebes- und Beziehungsfäden der Protagonisten aufgegriffen.
Man liest sich in einen Rausch von Lebenswirbeln. Schuld und Sühne, Nihilismus und Gottgläubigkeit, Affären und „Verwirrung der Leidenschaften“, Absage von Anträgen (Marja lehnt Anatol ab, Natascha ist zu jung für Denissow) und Verkuppelung (von Pierre Besuchow mit der schönen, leichtlebigen Helene). Verschuldung und Heirat unter Vermögensaspekten. Geschwisterliebe und Geschwisterneid. Suche nach Glück und Scheitern. Ein Pendeln zwischen Mordlust und Lebenshunger, beides unbegreiflich, schicksalshaft. Alles reichlich aufgetischt von einem Autor, der dem Realismus huldigt und brillante Vergleiche und Personenbeschreibungen präsentiert; der sich mit der Kurzsichtigkeit der Historiker anlegt, die nichts ahnen von der Komplexität der Charaktere und fixiert sind auf historische Persönlichkeiten; der eine eigene Geschichtsdeutung anbietet, die im Leben der Einzelnen wie der Völker von „Schicksalsfügung“ (567) bzw. „Fatalismus“ (729) spricht.
Vom Krieg (10. Teil, Kap. XXV., S.933f)
„Der Krieg ist keine Liebenswürdigkeit, sondern das scheußlichste Geschäft der Welt.“ (933f) Kein Schachspiel für Strategen. „Und was ist das Wesen des Krieges? … Der Zweck des Krieges ist der Mord, die Mittel: Spionage, Verrat, Anstiftung zum Verrat, Plünderung und Ruin der Einwohner, Diebstahl zum Zwecke der Verproviantierung der Armee, Betrug und Lüge, die man als Kriegslist bezeichnet. Die Sitten des Kriegerstandes sind: Mangel an persönlicher Freiheit, den man Disziplin nennt, Müßiggang, Rohheit, Grausamkeit, Lasterhaftigkeit, Trunksucht. Und trotzdem ist dies der höchste und von allen am meisten geachtete Stand. Alle Herrscher, mit Ausnahme des Kaisers von China, tragen Uniform, und demjenigen Soldaten, der die meisten Menschen umgebracht hat, werden die höchsten Auszeichnungen zuteil. Da kommen sie nun zusammen, um sich gegenseitig totzuschlagen, zu morden und Zehntausende von Menschen zu Krüppeln zu machen. Und dann wird ein Dankgottesdienst abgehalten dafür, daß so viele Menschen umgebracht worden sind (deren Zahl noch übertrieben wird), und man verkündet den Sieg in der Überzeugung, daß das Verdienst um so größer ist, je mehr Menschen gemordet worden sind. Wie kann nur Gott von oben das mit anhören und mit ansehen?“ ruft Fürst Andrej mit kreischender Stimme. (933f)
Die Kriegsmaschine bewegt sich, auch wenn die Lust für Gott, Kaiser, Vaterland zu sterben mit zunehmenden Schrecken und Gräueln schwindet. Als Napoleon müde, unruhig und ärgerlich sein vermeintliches Ziel erreicht, liegt Moskau leer und verödet da, „wie ein absterbender Bienenstock, dem die Königin fehlt.“ (1047) Und „es verbindet sich mit dem Honigduft der Geruch von Verödung und Fäulnis.“ (1048) „Räuberbienen“ nutzen die Unordnung. „Alles ist verkommen und verschmutzt.“ Auf drei Seiten beschreibt Tolstoi mit diesem grandiosen Bild, was der Eroberer vorfindet. Napoleon ist verblüfft. Niemand bittet um Frieden. „Der Theatercoup war mißglückt.“ (1049)
Notwendigkeit und Freiheit
Beim Schreiben drängt sich Tolstoi der Gedanke auf: Das Schicksal ist stärker als alle Pläne. Helden sind nur vermeintlich die wahren Genies. Vorsehung lenkt die Geschichte (1464), findet Graf Tolstoi. Taten werden nachträglich Motive untergeschoben, die Freiheit beweisen sollen. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit ist unlösbar. „Für immer geschieht nichts auf der Welt.“ (455) Das sagt Andrej. Die Zahl der Ursachen sei unendlich und unüberschaubar. Die Menschen erfüllen nach Tolstois Geschichtsphilosophie offensichtlich nur das „elementare zoologische Gesetz“ (1462). Seine Überzeugung festigt sich während dem Schreiben unter einem allgemeinen Gesichtspunkt, „dass sich die Ereignisse nach einem ewigen Gesetz vollziehen,“ während man aus einem persönlichen Standpunkt das Gegenteil behaupten mag. Warum fällt ein Apfel vom Baum? Ist es Ermüdung? Gravitation? Jahreszeit? Dürre? Wunsch des Kindes unterm Baum?
Tolstoi löst den Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Freiheit, indem er zwischen Gesamtzusammenhang und psychologischer Wahrnehmung unterscheidet. Eine Art von Handlungen ist von meinem Willen abhängig, eine andere Art nicht. Der Widerspruch rührt daher, dass man das Bewusstsein der Freiheit „irrtümlich“ auf Handlungen überträgt, die man in Gemeinschaft mit anderen begeht und die von der Übereinstimmung unserer Willensrichtungen abhängen. „Die Grenze zwischen dem Gebiet der Freiheit und dem der Notwendigkeit zu bestimmen, ist schwer, und die Bestimmung dieser Grenze bildet die Hauptaufgabe der Psychologie.“ (1464) Freiheit und Determination erreichen ihren höchsten Grad, wenn man begreift, „dass wir um so freier sind, je abstrakter unsere Tätigkeit ist… und umgekehrt: je mehr unsere Tätigkeit mit der anderer verknüpft ist, um so unfreier sind wir. Die stärkste, unzerreißbare, drückendste und andauerndste Verbindung mit anderen Menschen ist die sogenannte Macht über sie, die in Wahrheit nur die größte Abhängigkeit von ihnen darstellt.“ (1464)
„Ob mit Recht oder mit Unrecht“, diese Auffassung von Geschichte durchdringt den Autor bei der Abfassung seines Werkes vollkommen. Mit dieser Auffassung vom „Gesetz der Determination“ entzieht er den vermeintlichen Lenkern der Geschichte ihre besondere historische Bedeutung. Freiheit und Notwendigkeit greifen unauflösbar ineinander. Diese Auffassung durchzieht sein Epos.
Fatalismus (9. Teil Kapitel 1)
Im Juni 1812 rücken Westeuropas Heere unter Napoleon in Russland ein. Es vollzieht sich ein elementares historisches Ereignis, das der ganzen menschlichen Natur zuwiderläuft. Ein Lehrbeispiel einer gescheiterten Invasion eines fremden Landes. Historiker geben historische Ursachen an, Militärexperten militärische, Kriegspsychologen kriegspsychologische, Geostrategen geostrategische, Diplomaten diplomatische, um begreiflich zu machen, was nicht begreiflich ist. Alle Ursachen sind unzulänglich, alle Urgründe unzugänglich. Unbegreiflich ist und bleibt, weshalb Millionen Menschen christlichen Bekenntnisses einander deswegen ausrauben, quälen, töten. Weil Napoleon herrschsüchtig, weil Alexander charakterfest, Englands Politik hinterlistig, Besetzte auf ihr Recht aus sind, Beraubte auf ihren Besitz? Für sich genommen scheinen alle Ursachen gleich richtig wie falsch zu sein und gleichwohl geringfügig im Verhältnis zur Riesenhaftigkeit des Geschehens, der Elementargewalt des Krieges. Hätte Napoleon nicht den Rückzug verweigert, hätten beliebige Korporale und Soldaten nicht dienen wollen, hätte der Herrscher sich nicht verletzt gefühlt, hätte er nicht vorrücken lassen, so hätte es keinen Krieg gegeben. Hätte eine einzige Ursache gefehlt, so hätte nichts geschehen können. Folglich haben Millionen von Ursachen zusammengewirkt, haben sich zusammengeballt, um herbeizuführen, was geschehen ist. Nichts war ausschließlich Ursache, alles musste notwendig so geschehen. „So mussten denn Millionen von Menschen ihre menschlichen Gefühle und ihre Vernunft verleugnen und von Westen nach Osten ziehen, um ihresgleichen zu töten“ (729). Es war notwendig. Alles ist „von Ewigkeit an vorherbestimmt.“ (731) „Bei der Erklärung gewisser unvernünftiger Erscheinungen, das heißt solcher, deren Vernünftigkeit wir nicht begreifen können, kommt man in der Geschichte ohne den Fatalismus nicht aus.“ (729) Der einzelne freie Wille lebt um seiner selbst willen. Sobald es getan ist, wird die Tat unwiderruflich, reiht sich ein in den Bestand der Geschichte. „Jeder Mensch führt ein zweifaches Leben: ein persönliches Leben, das umso freier ist, je abstrakter seine Interessen sind, und ein elementares Herdenleben, in dem der Mensch unvermeidlich die ihm vorgeschriebenen Gesetze erfüllt.“ (730) Bewusstes Eigenleben und unbewusstes Werkzeugsein gestalten sich als Geschichte. Tausend Ursachen fallen zusammen in eine Bewegung.
„Was ist die Ursache historischer Ereignisse? Macht.
Was ist Macht? Macht ist übereinstimmender Wille, übertragen auf eine Person. Unter welchen Bedingungen wird der Wille der Massen auf eine Person übertragen? Unter der Bedingung, daß der gemeinsame Wille durch eine bestimmte Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Das bedeutet: Macht ist Macht. Das heißt. Macht ist ein Wort, dessen Bedeutung uns unverständlich bleibt.“ (1426) Die Erfahrung lehrt, dass jedes Ereignis stets an einen Willen, einen Befehl gebunden ist. Aber Worte können meist nicht unmittelbar Wirkungen hervorrufen; sie werden häufig nicht nur nicht ausgeführt, sondern konterkariert. Was, wenn Befehle gar nicht ausführbar sind? Was, wenn sie in der Luft hängen und sich nicht mit Ereignissen verbinden können? Im Heer, dessen „Geist“ (1233) beschworen wird, figürlich aufgefasst als Kegel, wo unten niemals jemand befiehlt, aber praktisch an der Tat beteiligt ist, während oben die Befehlenden am wenigsten direkt beteiligt sind, offenbart sich das auseinanderfallende Verhältnis von Befehl und Ereignis. Das wirkt in der Zeit und ist aneinander mehr oder weniger gebunden. Unabhängig von der Zeit, durch nichts hervorgerufen, wirkt nur eine Gottheit.
Die Geschichte des Lebens der Völker und ihrer Treibkräfte bleibt unbekannt. Nichts erklärt ihr Morden.
Die Alten glaubten an „die gottgewollte Unterordnung des Volkswillens unter einen Auserwählten, dessen Wille wiederum der Gottheit untergeordnet ist.“ (1419) Dieser Glaube ist vernichtet. Darum ist es erforderlich den Begriff und die Bedeutung der Macht zu erklären.
Macht ist ein Befehlszusammenhang: Wer Macht hat, kann befehlen. Worauf beruht sie? Auf physischer Überlegenheit oder sittlicher Stärke, auf Genialität der Persönlichkeit? Eher außerhalb, auf ihrer Beziehung zu den Massen. (1420) Entweder sie fügt sich erstens bedingungslos, zweitens nur bedingt und unter bestimmten Voraussetzungen oder drittens gar unter völlig unbekannten Voraussetzungen. Wer verkörpert das Imperium, wer sind die Störenfriede der Macht? Geschehen die Übertragungen des Willens absichtlich oder zufällig? Durch nichts zu beweisen ist, dass das Ziel der Menschheitsbewegung Abstraktionen sind wie: Freiheit, Gleichheit, Bildung, Forstschritt, Zivilisation, Kultur. Der Zusammenhang zwischen Massen, Herrschern und Aufklärern beruht nur auf der willkürlichen Annahme, die Massen würden ihren Willen auf Persönlichkeiten übertragen. Niemals kommt das Handeln von Millionen nur in denen zum Ausdruck, „die übersiedeln, Häuser nieder-brennen, den Ackerbau aufgeben oder einander vernichten“, während andere, die keine Häuser niederbrennen, keine Landwirtschaft betreiben, keine Mitmenschen töten unter den Tisch fallen. „Das Leben einzelner Menschen erklärt das Leben der Völker nicht, da der Zusammenhang zwischen diesen einzelnen Menschen und den Völkern nicht gefunden worden ist.“ (1425)
Tolstoi bietet das Schicksal als Deutung an - als Antwort auf die unzähligen Ursachen. Tolstoi will lieber „die Anerkennung einer unbegreiflichen, übernatürlichen Kraft eines Wunders“ (1427) zugeben. Fazit: „Ohne die Anerkennung der göttlichen Teilnahme an den Werken der Menschheit können wir die Macht nicht als Ursache von Ereignissen ansehen.“ Denn „nur eine Gottheit vermag, durch nichts Äußeres veranlasst, nur nach eigenem Willen, die Richtung der Menschheitsentwicklung zu bestimmen: der Mensch hingegen wirkt in der Zeit und ist selbst an das Ereignis gebunden.“ (1428) „Napoleon konnte den Befehl zum Feldzug in Russland nicht erteilen und hat ihn auch niemals erteilt.“ (Ebd.) Denn jeder Befehl ergibt sich aus einem anderen. Heute diese Noten, morgen jene Dekrete usw. Die Kette der Ereignisse fußt auf unzähligen unausgeführten und einer Reihe von ausgeführten Befehlen. Was der Autor entlarvt und fürchtet, ist „jene geheimnisvolle, teilnahmslose Macht, die die Menschen dazu nötigt, gegen ihren Willen Menschen gleich ihnen zu töten“ (1211). Der Krieg nimmt seinen Gang, „ohne Rücksicht auf die Klügeleien der Menschen, vielmehr auf Grund der faktischen Beziehungen der Massen zueinander.“ (1183) Andrej entsetzt Napoleons Teilnahmslosigkeit (s.u.).
Pseudo-Hauptakteure und Gegenspieler
„Bonaparte springt mit Europa um wie ein Pirat mit einem gekaperten Schiff“ (655), urteilt Graf Rastoptschin. Napoleon, gönnerhaft sich lobender Emporkömmling. Usurpator. Antichrist. Henker der Völker. Nach der Schlacht von Borodino (S.977f) überwältigt vom Entsetzen. Lebt in einer Scheinwelt. Unmenschliche Rolle. Gewissen verdüstert. „Er konnte sich von seinen Taten nicht lossagen, deshalb musste er Wahrheit und Güte und jede Menschlichkeit verleugnen.“ (981) Der eingebildete, sieggewohnte Feldherr berechnet militärzynisch, dass auf einen toten Franzosen fünf tote Russen kämen. „Er, der von der Vorsehung für die traurige, unfreiwillige Rolle eines Henkers der Völker vorbestimmt war, redete sich ein, das Ziel seiner Handlungen sei das Wohl der Völker, und er könne das Schicksal vom Millionen lenken und auf dem Wege der Gewalt Wohltaten erweisen.“ (982) „Napoleon bildete sich ein, der Krieg mit Russland sei durch seinen Willen entstanden, und kein Schrecken über die Greuel dieses Krieges erschütterten sein Gemüt.“ (982) Russland hatte einen moralischen Sieg errungen: Frankreich war der Untergang sicher, „da es an der bei Borodino empfangenen tödlichen Wunde verblutete.“ (985) „Napoleon, dieses nichtigste Werkzeug der Geschichte, dieser Mann, der niemals und nirgends, nicht einmal in der Verbannung, ein Zeichen menschlicher Würde bewiesen hat“ (1294). Auch wenn Napoleon einen Schnupfen hatte, die Heere zogen ins Schlachten. Das Schachspiel lief ohne ihn ab. „Wer am erbittertsten kämpft und sich am wenigsten schont, der wird siegen.“ Meint Andrej (931) Gefangene machen? Unnütze Ritterlichkeit nennt er dies an einer Stelle verbittert. Das Angriffsheer von fünfhunderttausend Mann wird letztlich vernichtet.
Im Epilog rechnet Tolstoi vollends mit Napoleon ab, dem „nichtigsten Werkzeug der Geschichte“ (1294). Ein Hasardeur des Zufalls, knabenhaft dreist, selbstsicher verlogen, beschränkt, brüste sich mit jedem seiner Verbrechen. „Er allein mit seiner Idee von Ruhm und Größe… mit seiner unsinnigen Selbstvergötterung, mit seiner Hemmungslosigkeit im Begehen von Verbrechen, mit seinen zur Wahrheit gestempelten Lügen“ (1353); der sei „überzeugt, er sei im Recht, da er die Macht hat.“ (1354) Er nahm „alle die Betrügereien, Plünderungen und Mordtaten für seine Soldaten und sich auf sein Gewissen“. „Ein Mann ohne Überzeugungen, ohne feste Gewohnheiten, ohne Tradition, ohne Namen.“ (1352) Dass ihm so viel gelingt, verwirrt ihn selber. „Zufälle, Millionen von Zufällen spielen die Macht in seine Hände, und als hätten sie sich verschworen, wirken alle Menschen dabei mit“ (1354). Anfangs wirken sie für ihn, am Ende kehren sich die Zufälle gegen ihn. Seine Herrschaft und sein Heer sind vernichtet. Sein Verstand ist krank, seine Handlungen sind kläglich und widerwärtig; „der Kraft und Gewalt beraubt, der Verbrechen und Ränke überführt“ steht er da als das, was er ist: „als ein Räuber, der außerhalb des Gesetzes steht.“ (1355) In Verbannung auf St. Helena spielt er sich selbst noch „eine klägliche Komödie vor, intrigiert und lügt, um seine Taten zu rechtfertigen“ (1356).
Sein kaiserlicher Gegenspieler auf russischer Seite ist Alexander I. Dieser ist ausgezeichnet durch Gerechtigkeitsgefühl, sittliche Größe, mildes, anziehendes Wesen. Nach dem Sieg über den Emporkömmling befördert der Zar jedoch die Reaktion, die wiederum Kritiker der Zustände auf den Plan rufen und verfällt interesselos dem „Mystizismus“ (1395). „Alles ist zu straff gespannt und muß unbedingt reißen… alle warten auf die unvermeidliche Revolution“ (1395f). Einmal wagt der Autor Tolstoi die Behauptung, Russen zeichneten sich durch „unerschrockene Selbstverurteilung und Selbstironie“ (442) aus. Im Gebet für Russlands Rettung (797) wird Moskau „teures Jerusalem“ genannt.
Als „Held aller Helden“ auf russischer Seite gilt jedoch Fürst Pjotr Iwanowitsch Bagration, (mit Georgstern) der mit dem Kursker Regiment Napoleon eine Niederlage zufügte, nämlich bei Schöngraben an der Donau in Österreich. Napoleon schätzt ihn so ein: „Viel Verstand hat er nicht, aber er hat Erfahrung, einen guten Blick und Entschlossenheit.“ (750) Bagrations Schicksal war jedoch besiegelt in Borodino. (Im Zweiten Weltkrieg gab es übrigens eine russische „Operation Bagration“, bei der die deutsche Heeresgruppe Mitte zerschlagen wurde.)
Aber der mit Abstand fähigste Gegenspieler ist der beleibte, uneitle Michail Ilarionowitsch Kutusow, im Juli 1812 in den Fürstenstand erhoben, zum unumschränkten Oberbefehlshaber der Armee ernannt (852), ein Feldmarschall, der sich nie untreu wird (1294). So begrreift er „als einziger den ganzen ungeheuren Sinn des Geschehens“ (1295), dass weder Gedanken noch Worte die eigentlichen Triebfedern der Geschehnisse sind. Er allein betrachtet Borodino als Sieg, weil seit dort das französische Tier tödlich verwundet war. Bei Generälen und am Hof des Zaren ist Kutusow umstritten, weil er Wissen und Verstand, sogar den latenten Patriotismus verachtet. Er lässt aus väterlicher Erfahrung Plündereien zu, weil beim Holzhacken Späne fliegen (894). Er kann fast einnickend zuhören und schätzt „Geduld und Zeit“ (1223) als stärkste Krieger ein. Sein Schwur der Vernichtung lautet: „Die Franzosen werden bei mir Pferdefleisch essen.“ (896) Er weiß, dass Russland gerettet ist, als Napoleon aus Moskau abzieht. (1225) Er wird von Höflingen als Lügner und Feigling bezichtigt, weil er Schlachten aus dem Weg geht und lieber die Armee anstatt Moskau rettet. Sein klares, dreifaches Ziel ist: „alle Kräfte zu einer Schlacht mit den Franzosen anzuspannen, sie zu besiegen, sie aus Russland zu vertreiben und dabei nach Möglichkeit das Leiden des Volkes und des Heeres zu erleichtern.“ (1295) Dieser Zauderer Kutusow besteht darauf, „sich in keine Kämpfe mehr einzulassen, die jetzt nutzlos wären, keinen neuen Krieg zu beginnen und Russlands Grenzen nicht zu überschreiten.“ (Teil 15. Kap.5, S.1296)
Kutusow trägt nach Tolstoi das „ursprüngliche Volksempfinden in seiner ganzen Reinheit und Kraft in sich“ (1296). Sein letzter generöser Aufruf an die Soldaten: „Haltet aus! Es dauert nicht mehr lange. Wir wollen unsere Gäste hinausgeleiten und uns dann ausruhen. Der Zar wird euch eure Dienste nicht vergessen. Ihr habt es schwer, aber ihr seid immerhin zu Hause; aber sie – seht, wie weit es mit ihnen gekommen ist, sagte er und wies auf die Gefangenen. Schlimmer als die elendsten Bettler. Solange sie stark waren, haben wir uns nicht geschont, nun aber können wir sie schonen. Es sind ja auch Menschen. Nicht wahr, Kinder?“ (1298f) In diesen Worten liegen Größe und Gnade. Feierlichkeit und Mitleid mit dem Feind verbinden sich. Mit dem Georgkreuz erster Klasse ausgezeichnet, vor versammelten Offizieren wird er gewürdigt: „Sie haben nicht nur Russland – Sie haben Europa gerettet“, sagt der Kaiser – und entzieht ihm die Befehlsgewalt.
Kleines Zwischenfazit
Allgemein übertragbare Erkenntnisse, die ein Schlaglicht werfen auf heutige Kriege (wie den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022) sind folgende:
Vorwürfe wegen Verletzung von Sicherheitsbedürfnissen; Einmarsch, um einen bewaffneten Frieden zu erzwingen; Vorliebe für den gewohnten Krieg; Begeisterung für Rüstungen und nationale Machtdemonstrationen; die Notwendigkeit, Erfolge zu erlangen, um die Kosten für die Rüstung zu rechtfertigen; verblendete Huldigungen und Adressen; diplomatische Unterhandlungen, die die Eigenliebe der einen oder anderen Partei verletzen; alle Ursachen bündeln sich zum Verhängnis. Befehl und Ausführung klaffen notwendig auseinander. Ausblendung der (zivilen) Opfer. Militärische Fälschungen und prahlerische Unwahrheiten der Propaganda. Lenker, die sich meist selbst überschätzen, sind höchst abhängig und unterliegen Machtverhältnissen. Selbst die Kirche lässt sich missbrauchen. Der Zauderer (wie Kutusow) handelt klugerweise so, „sich in keine Kämpfe mehr einzulassen, die jetzt nutzlos wären, keinen neuen Krieg zu beginnen und Russlands Grenzen nicht zu überschreiten.“ (1296) Geschichte lässt sich nicht so einfach korrigieren. Das Leben hat eine Kraft, die kein Krieg ganz auslöschen kann.
Dies könnten Merk- und Lehrsätze für Putins Kriegsgedanken-Welt sein!
Vom Frieden
Gegengewicht: Heilsamer Schrecken (Kriterium: tremendeum)
In der Religionswissenschaft kennzeichnet man das Heilige, das göttliche Geheimnis (Mysterium) als (ehr-)furchtgebietend (tremendeum), golden/kostbar (aureum) und begeisternd (fascinosum). Schrecken, Faszination und Qualität des Mysteriums oder anders aufgefasst: Wahrheit, Schönheit und Güte können heilsam sein. Ich meine, bei Tolstoi lassen sich Belege für diese drei Aspekte finden.
Es ist ja keineswegs so, dass das Böse, das Unrecht, die Gewalttätigkeit und Grausamkeit nur an der Front, und zuhause stets Frieden herrschen würde. Ganz oft im Gegenteil. Tolstoi legt die Intrigen, das Kalkül, die Egoismen der Menschen offen, etwa wenn er Fürst Wassilij Kuragins Versuch beschreibt, ans reiche Erbe der Besuchows zu kommen, das Pierre zusteht, dann aber eine Zweckehe Pierres mit seiner schönen Tochter Helene einfädelt, die ihn betrügt, wegen der er sich duelliert, von der er sich trennt. Aber die Erfahrungen in Schlachten, die Tolstoi aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben detailreich schildern kann, rufen nach einer Kraft, die dem Morden Einhalt gebieten kann. An welchen Punkten leuchtet diese Lebenskraft auf? In und aus welchen Personen strahlt sie?
In der Begegnung mit dem Tod oder dem Sterben (anderer) wird plötzlich der ewige Himmel zum Gleichnis. Das große Entsetzen beim zig-tausendfach tödlichen, sinnlosen Gemetzel schreit nach Frieden. Der verwöhnte Sinnsucher Pierre erlebt wahrhaftig Erschütterung beim Anblick der Schlacht von Borodino. Durch das brennende Moskau irrend, kommen andere Verstörungen dazu.
Graf Rastoptschin soll als Gouverneur die Ordnung aufrechterhalten in Moskau. Gekränkt durch Kutusows Preisgabe Moskaus, versucht er mit patriotischem Hass gegen die Franzosen und inquisitorischen Maßnahmen durch Flugblätter die Empörung zu lenken. Vergebens und sinnlos. Er lässt die Verrückten des Irrenhauses frei – wenn sogar Verrückte Armeen kommandieren. Einen nur zu Zwangsarbeit verurteilten, geketteten, politischen Gefangenen, Wereschtschagin, gibt der Graf dem Pöbel zur Lynchjustiz preis: „Er hat seinen Zaren und sein Vaterland verraten, er hat sich Bonaparte überliefert, er hat als einziger unter allen Russen den russischen Namen geschändet, und durch seine Schuld geht Moskau zugrunde… Vollstreckt an ihm das Urteil. Ich übergebe ihn euch!“ (1065) Die Anklänge an Jesu Auslieferung durch Pilatus sind überdeutlich. „Schlag zu, ich befehle es!“ „Blank ziehen!“ „Das Verbrechen war begonnen, es mußte notwendig vollendet werden.“ (1066) Anklagendes Stöhnen, Gedränge der Meute, zorniges Brüllen der Menge. Man würgt den kahlgeschorenen Fabrikarbeiter, schlägt ihn mit dem Beil tot. „O Gott, das Volk ist doch wie ein wildes Tier… es fürchtet sich vor keiner Sünde…“ (1067). Der Graf redet sich ein, er habe zum Wohl des Volkes gehandelt und lässt sich nach seiner Villa kutschieren. Ausgerechnet ein freigelassener Irrer in weißem Anzug schreit ihm eindringlich zu: „Dreimal hat man mich getötet, dreimal bin ich auferstanden von den Toten… sie haben mich gesteinigt und gekreuzigt… Man zerfleischte meinen Körper. Das Reich Gottes wird zerstört. Dreimal wird es zerstört, und dreimal werde ich es wieder aufrichten“. Flieht der Mordanstifter auch in voller Karriere, so empfindet er doch deutlich, „daß die blutige Spur dieser Erinnerung sich nie verwischen, sondern bis an sein Lebensende aus seinem Herzen nicht weichen würde.“ (1070)
Wer tötet da eigentlich? Pierre, der ein Kind aus den Flammen rettet, wird als vermeintlicher Brandstifter verhaftet; er entgeht aus unbegreiflichen Gründen der Erschießung durch Schützen des 86. Regiments der Franzosen (1150ff). Eine Hinrichtung angeblicher Brandstifter folgt. Angst, Grauen, innerlicher Kampf, zitternde Kinnladen, Schuld beim Erschießungskommando. Das noch lebende Opfer wird noch halblebendig begraben. „Offenbar wußten alle zweifellos, daß sie Verbrecher waren, die die Spuren ihres Verbrechens so schnell wie möglich beseitigen mußten.“ Beseitigung unnützer Verwundeter (Keine Gefangenen!) von Partisanen. In Pierre zerspringt eine Feder. Sein Glaube ist vernichtet. Das Ganze - ein „Müllhaufen“. (1154)
Gegengewicht: Religion, christlicher (Auferstehungs-)Glaube (Kriterium: aureum)
Dann kommt bei Tolstoi Religion heilsam ins Spiel. Er verweist auf Menschen, die von der eigenen Kraft nicht wissen und andererseits eine unermessliche Anzahl von „Wesen, in denen sich die Gottheit, die höchste Kraft… offenbart“ (463). Ein Streitgespräch zwischen Andrej und Pierre (im 5. Teil, Kapitel XI. und XII.) über die tiefsten Fragen bietet eine Schlüsselszene. Pierre ist eine tragende Gestalt im Epos. Er macht eine deutliche innere Verwandlung durch. Danach will er sein Riesenvermögen sozial einsetzen, ist aber dem oberschlauen Oberverwalter nicht gewachsen, da der sich seiner Kontrolle entzieht. Er stolpert lernend durch die tragische Zeit. Wird Kriegsbeobachter, Gefangener, plant sogar ein verzweifeltes Attentat auf Napoleon. Pierre diskutiert mit dem Skeptiker Andrej Bolkonskij, woher man wissen könne, was das Böse sei. Andrej sieht nur Gewissensbisse und Krankheit als Übel. Er flüchtet aus der unglücklichen Ehe in den Krieg. Er lebt für den Ruhm, für den Wunsch, etwas für andere zu sein, indem er sich zum Heer meldet, natürlich als Adeliger zum Stab des Oberkommandierenden. Sein Idol Napoleon wird entzaubert, als Andrej verwundet auf dem Schlachtfeld von Austerlitz in den „hohen Himmel“ blickt und Napoleon begegnet als Teilnahmslosen in generöser Siegerpose. „Sein Gesicht strahlte vor Selbstzufriedenheit und Glück.“ (346) Andrej erkennt „die Nichtigkeit menschlicher Größe“, die von Leben und Tod. Aber zu wem soll er sprechen, beten? Zu wem um Erbarmen flehen? Hoffnungslos liegt er da, „als plötzlich der kleine Napoleon vor ihm auftauchte, mit seinem beschränkten, teilnahmslosen und über das Unglück anderer glücklichen Gesichtsausdruck“ (347). Der Nimbus von Größe ist zerstört.
Pierre dagegen führt lange ein leeres Gesellschaftsleben, bis er einem Freimaurer begegnet und Nächstenliebe und Selbstaufopferung als Ausweg entdeckt, um anderen (Kiewer Bauern) Gutes zu tun (Arzt, Krankenhaus, Asyl im Alter). „Hauptsache ist, dass diese Freude, Gutes zu tun, das einzige, wahrhafte Lebensglück ist.“ (458) Andrej vereidigt „das animalische Glück“ als einzig mögliches Glück des Bauern vor dem Bestreben nach sittlichen Bedürfnissen. Was gut ist, könne nur Er, der alles weiß, beurteilen. Der Fürst würde „furchtbare körperliche Arbeit“, der Bauer körperliche Untätigkeit nicht ertragen, und Krankenhäuser zögerten nur das Sterben der Überflüssigen hinaus. „Im Gegenteil, man muß sich bemühen, sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen.“ (459) Pierre ist entsetzt über solch hoffnungslose, feudalistische Ansichten. Die Unerbittlichkeit des tyrannischen Vaters dringt bei Andrej durch. Bauern befreien? fragt Andrej. „Wenn man sie prügelt, peitscht und nach Sibirien verbannt, so meine ich, daß es ihnen um nichts schlechter geht. In Sibirien führt so ein Kerl dasselbe tierische Leben fort“ (460). Andrej bedauert stattdessen die Gutsherren, die, erzogen „in diesen Traditionen unbegrenzter Machtvollkommenheit“, reizbar, hart und grausam wurden. „Jetzt weißt du, wer mir leid tut, die Menschen, die ihre Würde, die Ruhe ihres Gewissens, die Reinheit ihrer Seele verlieren; aber kein Bedauern habe ich für die Bauern; wenn du auch den Rücken mit Ruten peitschen und das Haar abrasieren läßt, es bleibt doch immer derselbe Rücken und der gleiche Kopf.“ (461) Adelszynismus pur! Pierre erzählt bei einer Überfahrt auf einer Fähre, dass ihn die Freimaurerei aus der Verzweiflung gerettet hat. Es „wäre eine Lehre des Christentums, aber befreit von staatlichen und religiösen Fesseln; eine Lehre der Gleichheit, Brüderlichkeit und Liebe.“ (461) (Später rückt Pierre angewidert von der dem Ideal entfremdeten Bruderschaft ab.) Ein „Reich des Guten und der Wahrheit“ aber sieht Andrej in der Welt nicht. Pierre dagegen fühlt sich als Glied einer Kette des harmonischen Ganzen: „Auf Erden gibt es keine Wahrheit, alles ist Lüge und Bosheit… Ich fühle, daß außer mir, über mir Geister leben, und daß in dieser Welt Wahrheit herrscht.“ (462f) In der ganzen, nicht der beschränkten Welt gebe es offenbarende Wesen. Fürst Andrej, der seine Frau verlor, die bei der Geburt seines Sohnes starb, fühlt sich schuldig, sie nicht geliebt zu haben. Ihn überzeugt kein Jenseitsbeweis, nur die Erfahrung von Leben und Tod und die allerdings verlorene Verbundenheit… Pierre nimmt ihn gleichsam an der Hand: „“Nun also! Sie wissen, daß es ein Drüben gibt und daß ein Jemand da ist. Das Dort ist das zukünftige Leben, der Jemand ist Gott.“ (463) Er betont: „Wenn es einen Gott und ein künftiges Leben gibt, so gibt es eine Wahrheit, so gibt es auch eine Tugend; und das höchste Glück des Menschen besteht darin, danach zu streben, es zu erreichen. Man muss leben, muss lieben, muss glauben, dass wir nicht nur jetzt auf dieser Erde hier leben, sondern dass wir ewig dort im All gelebt haben und leben werden.“ (464) Andrej bleib skeptisch. Doch beim Blick „zum hohen, ewigen Himmel“, erwacht ein besseres Gefühl seiner Seele und beginnt innerlich sein neues Leben. Obgleich er es nicht zu entwickeln verstand…
Dann ist da die faszinierende Gestalt und schlichte Güte des bäuerlichen Mitgefangenen Platon Karatajew (1155), der Pierre die Fußlappen wechselt und dem Ausgehungerten eine überaus köstliche „gebackene Kartoffel“ schenkt. Er tröstet den Geschockten: „eine Stunde leidet man, aber eine Ewigkeit lebt man“ (1156). „Wo menschliches Gericht ist, da ist auch Ungerechtigkeit“. „Der Wurm frißt am Kohl und kommt doch früher um als dieser“ heißt: „Der Mensch denkt, und Gott lenkt.“ Als Holzdieb verhaftet und unter die Soldaten gesteckt, stellvertretend für seinen Bruder, trägt Platon sein Los mit Würde – „das Schicksal sucht sich immer den Richtigen.“ (1158) Er bäckt, kocht, näht, hobelt, flickt Stiefel, nur am Abend gestattet er sich, Gespräche zu führen und unerlässlich Lieder zu singen. Seine Volksweisheiten würzen den Alltag. Da dringt die russische Seele herauf. Platon „lebte als Liebender mit allem zusammen, womit ihn das Leben zusammenführte“ – ob Hund, Kameraden, Franzosen, Nachbarn. „Jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen war das Produkt einer in ihm wirkenden Kraft, und diese Kraft war sein Leben.“ (1162) Sie entströmt als Teil dem Ganzen und wirkt im Zusammenhang. Obwohl Mütterchen Moskau brennt, endet sein Nachtgebet: „Lass mich, Gott, schlafen wie einen Stein und morgen frisch wie eine Semmel sein.“ (1159) In Pierres Seele erhebt sich „die vorhin zerfallene Welt in neuer Schönheit“. Als Platon auf dem Gefangenentransport umgebracht wird, spürt Pierre den unersetzlichen Verlust. Er kann nicht hinschauen, hört aber den Schuss – und lenkt sich ab, indem er Schritte zählt. Er schätzt „von allen niemand so wie Platon Karatajew.“ (1405)
Gegengewicht: Liebe und Lebenskraft (Kriterium: fascinosum)
Andrej Bolkonskij & Natascha Rostow, (6. Teil)
Sie begegnen sich auf dem Landgut Otradnoje. Tolstoi verwendet als Bild für Andrejs Verwandlung eine Eiche (500), auf dem Hinweg zehnmal älter als die Birken, nicht von zwei Männern zu umspannen, brüchig, rissig, plump und grimmig wie ein Krüppel, Frühling und Sonne verachtend. Die strahlende Freude der jungen, schwarzäugigen Natascha verzaubert ihn. Er hört bei geöffnetem Fenster über sich gegen zwei Uhr nachts ihre schwärmerische Stimme, „trunken von der Schönheit der Nacht“ (505), ein Mädchen, das in den Himmel fliegen will. Unmerklich steigt Hoffnung auf ein Leben in ihm auf, als müsse es so sein. Bei seiner Abreise hat sich die alte Eiche verwandelt: saftig grün sprossen junge Blätter, die symbolhaft sein Leben frühlingshaft erneuern. (505) Der Einunddreißigjährige beschließt spontan, wieder aktiv am Leben teilzunehmen. „Er verstand es nicht einmal mehr, wie er früher hatte meinen können, daß er sich damit herabsetzen würde, wenn er nun, nach allen ihm vom Leben erteilten Lektionen, wieder an die Möglichkeit würde glauben wollen, Nutzen zu bringen und Glück und Liebe zu empfinden.“ (505) Alle sollen wissen, was in ihm ist, auf „daß alle mit mir vereint leben!“
Tolstoi wäre nicht Tolstoi, wenn er das glatt laufen lassen würde. Es kommt zwar zur Verlobung, geheim, wegen einer Öffnungsklausel, aber weil sein strenger Vater sich dagegenstemmt, verspricht Andrej, erst nach einer einjährigen Europareise zu heiraten. Bis dahin erliegt die lebensprühende Natascha der Versuchung. Anatol Kuragin, bereits verheiratet, macht ihr schöne Augen; sie fällt darauf herein und willigt in eine Entführung ein, die aber scheitert. Völlig zerstört ist damit auch ihre Aussicht auf Andrej, dem einst Tränen kamen, als sie Klavier spielte. Natascha, selbstverliebt (571), als Tanzfreudige in alle zugleich verliebt (395). Schwester Wera urteilt, wer so umschwärmt sei, so viel Freiheit lebe, ersticke Treue (564). Eine Art Versöhnung geschieht, als Andrej, mit Bauchschuss verwundet, ihr wiederbegegnet. Er entdeckt, was Feindesliebe ist, als er den Nebenbuhler als Invaliden sieht, Anatol Kuragin, der einst seine Verlobte entführen wollte. (979, 1101ff) Aber Natascha, die Ex-Verlobte, ist eine andere geworden. Andrej und Natascha versöhnen sich, bevor er stirbt. Die wiederempfundene konkrete (nicht abstrakte) Liebe verbindet sein Herz wieder mit dem Leben. Andrej dankt seiner tödlichen Wunde, die ihn mit ihr wieder zusammengeführt hat. Liebe kämpft mit dem Tod. „Liebe? Was ist das, Liebe? … Liebe stört den Tod. Liebe ist Leben. Alles, alles was ich erfasse, verstehe ich nur darum, weil ich liebe. Alles lebt, alles existiert nur darum, weil ich liebe. Durch die Liebe allein ist alles miteinander verbunden. Die Liebe ist Gott, und Sterben bedeutet, daß ich, dieses Teilchen der Liebe, zu der gemeinsamen und ewigen Quelle zurückkehre“, spricht der Todgeweihte (1174). Der Tod stößt die Türflügel auf. „Der Tod ist ein Erwachen.“ (1175) Und Andrej spürt „Befreiung“ und „Leichtigkeit“. Alle spüren, wie er fortgleitet, und alle „wußten, daß es so sein mußte, und daß es so gut war.“ (1176) Andächtig gerührt und ergriffen weinen die Zurückgebliebenen „angesichts des schlichten und erhabenen Mysteriums des Todes“ (1176). Das schwerste Gegengewicht zum Krieg ist Liebe. (1174).
Nikolaj Rostow & Marja Bolkonskij
Nikolaj Rostow überlebt den Krieg. Nach der Vertreibung Napoleons aus Moskau heiratet er Andrejs Schwester Marja, allein schon, um aus den Schulden zu kommen. Sie verkörpert die gläubige Seele. Sie lehnt den Antrag Anatols ab, bleibt unter der grimmigen Herrschaft ihres Vaters, löst sich nach dessen Tod von ihm und gesteht sich eine „irdische Liebe“ (259) zu. Ihren Bruder Andrej, rät sie, um die Liebe zu beten, die er nicht für seine Frau Lisa empfindet. Für ihren Mann Nikolaj empfindet sie „eine hingebende, zärtliche Liebe, der niemals für all ihre Gedankengänge Verständnis haben würde“ (1402). Sie verspricht sich, „in diesem Leben ihren Mann, ihre Kinder, Nikolenka (Ihren Neffen) und jeden Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hatte. Gräfin Marjas Seele strebte immer nach dem Unendlichen, Ewigen und Vollkommenen und daher konnte sie nie Ruhe finden.“ (1402) Ihre Berufung sei es, „durch ein anderes Glück, durch das Glück der Liebe und Selbstaufopferung, glücklich zu werden.“ (272f) Sie weiß: Lebensverachtung wird durch Liebe geheilt. Sie umgibt sich mit Gottesleuten, frommen Pilgern. Erträgt geduldig fromm Vaters Demütigungen, ohne sich aufzulehnen. Sie hält Pierre für einen „Träumer“ (1401).
Pierre Besuchow & Natascha Rostow
Der uneheliche Sohn und dicke, reiche Erbe und Sonderling - irgendwie das Auge des Epos - macht eine Entwicklung zur Erkenntnis voller Menschlichkeit durch. Aus existenzieller Verzweiflung klammert er sich an die allgemeine Menschenliebe der Freimaurer, in deren Orden er eingeweiht wird. Feindesliebe erlebt Pierre auch mit dem Franzosen Davout, als sie sich ansahen und erkannten, „daß sie Kinder der Menschheit, daß sie Brüder seien.“ (1149) In der Gefangenschaft (nur Nummer 17), in einer Baracke, erfasst er mit seinem ganzen Wesen, „dass der Mensch erschaffen war, um glücklich zu sein, dass das Glück in ihm selber liege, in der Befriedigung der natürlichen menschlichen Bedürfnisse, und dass alles Unglück nicht vom Mangel, sondern vom Überfluss herrührte. Nun aber, in diesen letzten drei Wochen des Marsches, hatte er noch eine neue, tröstliche Wahrheit erkannt, nämlich, dass es auf der Welt nichts Furchtbares gäbe. Er hatte erkannt, daß, wie es auf der Welt keinen Zustand gibt, in dem der Mensch glücklich und völlig frei ist, es genauso keine Situation gibt, in der er unglücklich und unfrei wäre. Er hatte erkannt, dass die Leiden eine Grenze haben, und dass die Freiheit eine Grenze hat, und dass diese Grenzen sehr nahe beieinander liegen;“ (1264) Ob im rosafarbenen Bett oder in einem Stall, in Kälte oder Wärme, in Ballschuhen oder barfuß, verheiratet oder eingesperrt – in der Not erfährt der Mensch „welche gewaltige Lebenskraft dem Menschen innewohnt und welche rettende Kraft in der ihm verliehenen Fähigkeit liegt, seine Aufmerksamkeit abzulenken“, d.h. Dampf abzulassen (1265).
Trostlektüre in Zeiten des Krieges
Tolstoi zu lesen ist wie Trost in Zeiten des Krieges. Das elementar Grausame wird ausbalanciert, indem das Allzu-Menschliche des gesellschaftlichen Treibens sein Recht erhält, ja als Pulsschlag den Krieg vertreibt, der stets Leben und Hoffnung zu verschlingen droht. Was dem grandiosen Erzähler da gelingt, ist nichts weniger, als im größten Gemetzel und Morden den Himmel aufzureißen und ein anderes Licht auf die Erde fließen zu lassen, aus dem christlichen Geist von Menschenliebe, Versöhnung und Verbrüderung. Auch wenn er dann in Konflikt mit der (russisch-orthodoxen Kirche gerät. Im Grunde vertritt Tolstoi die Werte der französischen Revolution besser als Napoleon, der sie aus Machtverblendung mit Füßen tritt. Tolstoi kennt das Herz des Menschen und die Abgründe der Seele – nicht nur seines russischen Volkes. Sein Blick sprengt die Grenzen des Realismus und wagt einen radikalen Humanismus. Trotz aller Gräuel der Menschen - Hoffnung ist nie ausgeschöpft. In seiner Einweihung erfährt Pierre: „Der Mensch vermag über nichts etwas, solange er Furcht vor dem Tod hat; aber wer den Tod nicht fürchtet, dem gehört alles. Gäbe es keine Leiden, so würde der Mensch seine Grenzen nicht erkennen und auch sich selber nicht. Das Schwerste… besteht darin, daß man es erreicht, in der Seele alle Dinge miteinander zu vereinigen.“ Pierre korrigiert sich, besser: zu umspannen. „Ja, wir müssen alles umspannen, es ist hohe Zeit! - - “ (1012) Nicht zufällig ist sein letzter Satz im Epos (1343) vor dem Epilog: „Es muß so sein.“
© Günther M. Doliwa, 8. Mai 2023
Zitiert aus: Leo N. Tolstoi Krieg und Frieden R. Löwit Wiesbaden 1960 (1464 Seiten)
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Bernhard Hahn schrieb uns am 13.04.2023
Thema: Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher
Jens Malte Fischers über tausend Seiten umfassende Karl Kraus-Biographie mit dem farblosen Untertitel „Der Widersprecher“ (Hermann Kesten spricht in seiner Würdigung Kraus‘ zum 100. Geburtstag vom „Widersprechenden“ [FAZ, Nr. 98 vom 29.4.1974]) beeindruckt durch ihre inhaltliche Vielfalt. Im Vordergrund stehen die von Kraus bevorzugten Themen wie Sprache, Literatur, Presse, Sexualität und Moral, (Welt-)Krieg, Judentum, Nationalsozialismus, die Verhältnisse zu seinen Schriftstellerkollegen und zu politischen Gegnern, daneben auch seine persönlichen Beziehungen zu Frauen. Die zeit-, geist-, kultur- und literaturgeschichtlichen Hintergründe werden unter Einbeziehung der spezifischen politischen Situation in Österreich zum Teil ausführlich beleuchtet, was die Einordnung der jeweiligen Krausschen Positionen besser verstehbar und nachvollziehbarer macht.
An Informationsfülle und Themenbreite stehen freilich die von Edward Timms vorgelegten Bände („Karl Kraus, Satiriker der Apokalypse, Leben und Werk 1874-1918“, Wien 1995 und „Karl Kraus, Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes“, Weitra 2016: 559 und 679 Seiten) dem Werk Fischers kaum nach. Fischers Stil ist gegenüber Timms etwas gefälliger; die vielen „Regieanweisungen“ und die von anderen Rezensenten bereits vermerkte Langatmigkeit trüben allerdings die Lektüre. Negativ zu vermerken ist, daß Fischer die Fundstellen aus der Fackel in den Anhang verbannt hat, was den Lesefluß, wenn man die Zitate im Original prüfen will, erheblich stört. Das ist bei Timms durch Integration der Fackel-Nachweise in den Haupttext besser gelöst und so läßt sich das Nachlesen mit der Zweitausendeins-DVD-ROM (Die Fackel, ISBN: 978-3-86150-695-9) oder der Internetausgabe (>https://fackel.oeaw.ac.at<) wunderbar bewerkstelligen, wobei auffällt, daß Timms weit mehr Fackel-Belege bringt als Fischer. Bedient man sich zusätzlich der von Christian Wagenknecht herausgegebenen Krausschen Schriften in zwanzig Bänden (Frankfurt am Main 1986-1994; als Digitalisat in der Digitalen Bibliothek, Nr. 156 erschienen), dann verhelfen die Biographien beider Autoren zu größerem Durchblick. Deshalb ist es Fischer (und auch Timms) hoch anzurechnen, durch ihre ungeheure Fleißarbeit und Übersicht, die bekanntlich als schwierig eingeschätzte Sprachgenialität nicht weniger Kraus-Texte verständlicher gemacht zu haben.
Fischers Auftakt mit der Beschreibung von Kraus‘ Wohnung (I. Kapitel, S. 17 ff.) finde ich gelungen und wird noch anschaulicher, wenn man die ab S. 24 ff. im Marbachschen Karl Kraus-Ausstellungskatalog Nr. 52 abgedruckten Aufnahmen zur Hand hat.
Positiv ist, wie Fischer auf die widersprüchlichen und prekären Züge von Kraus eingeht und dem Leser durch Pro und Kontra ermöglicht, sich ein eigenes Bild zu machen. Daß nicht alle bereit sind, seinen Einschätzungen zu folgen, ist Fischer bewußt. Seine Darstellung des Verhältnisses von Kraus zu der anfangs vierzehnhalbjährigen Irma Karczewska (S. 157 ff.) beispielsweise entwickelt Fischer im Bewußtsein heutiger Empfindlichkeit gegenüber sexuellem Mißbrauch mit aller Vorsicht. Wie er allerdings Kraus von Pädophilie mit Hinweis auf die damalige österreichische Gesetzeslage (ab 14. Lebensjahr Zuerkennung einer [Teil-]-Mündigkeit vor der erst mit 24 Jahren zu erlangenden Volljährigkeit) freispricht, überzeugt nicht. Das rechtspositivistische Pochen auf die Gesetzeslage läßt die moralisch-ethische Verantwortung des dreißigjährigen Liebhabers vollkommen außer acht und übersieht, wie leicht es ist, sich mit Hilfe des Geldbeutels Kinder gefügig zu machen. In diesem besonders zweifelhaften Fall hatte sich Kraus nicht für das (oder die) Richtige entschieden! Als Dritter im Bunde der kinderliebenden Peter Altenberg und Adolf Loos rückte sich Karl Kraus in ein extrem schlechtes Licht.
Fischers gezeichnetes Psychogramm von Baronesse Sidonie Nádherný von Borutin, Kraus‘ Lebensliebe, das er zurückhaltend-beschwichtigend als „nicht immer schmeichelhaft“ (S. 354) resümiert, zeigt, daß Kraus bei seiner Frauenwahl einen bestimmten Typus bevorzugte. Entweder sind es junge Frauen aus der (Theater-)Halbwelt, deren Karriere er durch Vermittlung und Empfehlung fördern wollte, oder eben Sidonie, eine labile, entscheidungs-schwache, fast haltlose Briefadelige. Ja, wo die Liebe eben hinfällt, mag man denken, was Kritik an der Partnerwahl und -bindung verbietet. Widersprüchlich in der Person von Kraus ist allerdings sein Hang, sich in höheren Gesellschaftsschichten zu bewegen (S. 344) (in F 400, 90 von ihm selbst thematisiert), obwohl deren vorgebliches Attribut der „Kultiviertheit“ Sidonie gerade abgeht: sie promisk, ihr einer Bruder geschlechtskrank, ihr anderer Bruder standesfixiert; eine wirklich noble Familie! Wie liebesblind (oder triebgesteuert) muß Kraus gewesen sein, daß er Sidonies fassadenhaften Standesdünkel und überhaupt die dekadente Lebensführung der drei Geschwister nicht durchschaut hat. Immerhin - wenn man den Experten Glauben schenkt - soll die selbstquälerische Beziehung zu dieser Frau eine der stärksten Triebfedern für sein Werk gewesen sein (siehe Hannes Hintermeiers Rezension zur Neuherausgabe des Briefwechsels zwischen Kraus und Sidonie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [FAZ], 25.11.2005, S. L8), wofür ihr die deutsche Literatur zu danken hätte.
Ob der Unterschied von Polemik und Satire (IX. Kapitel, S. 206 ff.) gelungen und notwendig ist, um die polemisch-satirischen und satirisch-polemischen Kraus-Texte zu erhellen, mag dahinstehen.
Daß die Ausführungen zum „Dokumentartheater“ (S. 310) und zur „satirischen Tragikomödie“ (S. 309) „Die letzten Tage der Menschheit“ (XII. Kapitel, S. 301-324) so kurz ausfallen, enttäuscht, wird vom Biographen doch gerade dieses Stück als eines der drei Säulen des Œuvres angesehen, das die Bekanntheit von Kraus bis heute rechtfertige (S. 924). Die von Kraus selbst konstatierte Unaufführbarkeit des Riesenstücks spricht dafür, daß es von ihm nur zum Lesen oder Vorlesen konzipiert war. Die beiden fragmentarischen Aufführungen, die ich in Frankfurt am Main (31.5.2001) und Kaiserslautern (7.2.2015) gesehen habe, hinterließen keinen nachhaltigen Eindruck. Helmuth Kiesel (Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, München 2017, S. 537) hat mit seinem Hinweis auf Tucholskys Beitrag „Über wirkungsvollen Pazifismus“ (Texte und Briefe, Bd. 9, Nr. 135, S. 537) wohl recht, daß Pazifismus und Kritik am Krieg, zumal in solch radikaler und einseitiger Form, die Menschen deswegen nicht erreicht habe, weil niemand es vermöge, „eine ganze Epoche seines Lebens als sinnlos zu empfinden“. Ich würde „Die letzten Tage der Menschheit“ durchaus lesen wollen, aber ohne Kommentierung, deren Fehlen Fischer bedauert (S. 301), fühle ich mich überfordert.
Das kurze XVII. Kapitel (S. 392 ff.) über die Gegner von Kraus ist interessant und amüsant. Mit Blick auf die von Dietmar Goltschnigg herausgegebenen Bände „Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik“ ist nachvollziehbar, warum bei Fischer die Darstellung kurz ausgefallen ist. Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki und andere werden abgewatscht, obwohl einiges von Reich-Ranicki für mich sehr wohl nachvollziehbar ist: die teilweise „blutrünstige Terminologie“ (siehe unter anderem den berühmten Satz zur politischen Ausrichtung im Vorwort des ersten Hefts der Fackel [danach auf „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ verengt]), die Langweiligkeit der Kraus-Briefe an Sidonie, von Fischer als „großartigstes Briefkonvolut“ (S. 326) bewertet, oder Kraus‘ Vortragsstil (S. 541 ff.), den Reich-Ranicki schon nach dem Ersten Weltkrieg als anachronistisch bezeichnet, und dessen angebliche Faszination sich beim Hören der Tondokumente heute nicht (mehr) erschließt. Zu „Karl Kraus und die Folgen“ von Niklas Maak und Volker Weidermann (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7.12.2014, S 45) hätte man gerne Fischers Meinung gelesen.
Fischer hält den Essay „Heine und die Folgen“ für überschätzt und problematisch (S. 937), der umstrittene Friedrich Sieburg, Nicht ohne Liebe, Stuttgart 1967, S. 129 ff. (133) sieht in ihm den einzigen Text von Kraus mit Wirkung.
Fischer lobt die Lyrik von Kraus (S. 375 ff.). Der Rezensent Burkhard Müller (Merkur, Heft 854, Juli 2020, S. 64 ff. [70]) vermißt eine Begründung.
Dem Rezensenten Helmut Mayer (FAZ, 7.3.2020, S. 10) ist beizupflichten, daß der Aufbau der Biographie dem Werk Handbuchcharakter verleiht und ihr durch die fehlende Bündigkeit Prägnanz abgeht, was folgenden Literaturwissenschaftlern die Chance zur konziseren Lebensbeschreibung gebe.
Summa summarum findet Fischers Biographie meine große Hochachtung; sie ist trotz ihrer 1008 Seiten Nettotext (Corinos Musil-Biographie bringt es auf 1460 Seiten), ihrer Redundanz, der zum Teil eher krausfernen Abschweifungen angenehm lesbar und bringt Licht in Bereiche, die sich dem Normalleser sonst kaum erschließen würden. Ich meine, daß es zur Beschreibung des „Lokalschriftstellers“ Kraus, der er eben auch war, zwingend geboten ist, auf die Historie Österreichs (und Wiens) einzugehen. Denn Kraus‘ idiosynkratische Österreichbezüge (vgl. Eva Menasse, FAZ, 12.1.2007, S. 31) machen sein Werk nicht nur unübersetzbar, sondern auch über weite Strecken (insbesondere die Fackel-Texte) schwer bis gar nicht verständlich. Für die frühen Schriften von Karl Kraus helfen die (Sach-)Erläuterungen von Johannes J. Braakenburg dem Leser immerhin weiter. Einem größeren Kreis von Lesern Kraus nahezubringen, setzt voraus, daß seine Texte (auch und gerade die - nach Fischers Ansicht - weltliterarisch einzigartigen „Letzten Tage der Menschheit“ [S. 319]) kommentiert werden, so wie dies bei Kurt Tucholsky mit der im Rowohlt-Verlag erschienenen zweiundzwanzig Bände umfassenden Gesamtausgabe in meinen Augen vorzüglich gelungen ist. Der Wunsch nach kommentierten Kraus-Texten wird sich wohl nicht erfüllen, dazu ist der „Wiener Wahnsinnige“ (so Eva Menasse, Titel des FAZ-Artikels: „Die Hölle das ist Kraus“), der „Haßrastelli“ (so André Heller, FAZ, 29.4.1974) zu wenig breitentauglich.
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