Von Europamüden und Heimwehkranken

Feuilletons und Reportagen von Bermann/Höllriegel

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind als "Feuilletonistisches Zeitalter" (Hermann Hesse) in die Literaturgeschichte eingegangen. Peter Altenberg und Victor Auburtin, Erich Kästner und Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch und Karl Kraus, Dr. Owlglass und Kurt Tucholsky sind noch heute klingende Namen. Einer der Großen des Feuilletons war Richard Arnold Bermann. Er hat ein bedeutendes Erinnerungsbuch geschrieben, die leider Fragment gebliebene Autobiografie "Die Fahrt auf dem Katarakt".

Viele Feuilletonisten der Zeit dachten politisch liberal und ästhetisch konservativ. Die modernen Künste und ihre Programmatik lehnten sie ab. Richard Arnold Bermann aber stand der Moderne deutlich aufgeschlossener gegenüber als beispielsweise Victor Auburtin, sein Kollege beim "Berliner Tageblatt". Vor allem lehnte es Bermann entschieden ab, sich sein Geschmacksurteil soufflieren zu lassen. Er wollte die "neue Kunst" selber beurteilen, "bejubeln oder als Humbug ablehnen" dürfen: "Ebenso wie es uns nicht genügen kann, von allerlei radikalen expressionistischen und kubistischen und futuristischen Malern immer nur zu hören, dass sie existieren und anderswo ausgelacht werden. Nur Provinzler lassen sich so ihre Meinungen vorkäuen; eine wirkliche Kulturgroßstadt muss Platz und eine Tribüne und einen Bildersaal und ein Theater auch für die radikalsten jungen Leute haben."

Bermann, alias Arnold Höllriegel, geboren am 27. April 1883 in Wien, in Wien und Prag aufgewachsen, promovierte 1906, sammelte erste journalistische Erfahrungen seit 1910, erst in Wien, dann in Berlin, arbeitete später für renommierte Blätter wie die "Vossische" und die "Frankfurter Zeitung", das "Berliner" und das "Prager Tageblatt", war von 1914 bis 1918 Kriegsberichterstatter, wechselte als Redakteur zum "Neuen Tag", berichtete über die Friedensverhandlungen 1919 in St. Germain und bereiste als Sonderkorrespondent des "Berliner Tageblatts" die Südsee. Bermann/Höllriegel trat in den zwanziger Jahren entschieden für die Demokratie ein, warnte frühzeitig vor der "Hitlerei", strebte, als er für das "Berliner Tageblatt" untragbar und seine Situation in Österreich unhaltbar geworden war, eine Professur an einem amerikanischen College an. Er floh via London nach New York und engagierte sich in Amerika für zahlreiche Exil-Autoren. Er war Mitbegründer und Sekretär der "American Guild for German Cultural Freedom", die zahlreiche Künstler und Schriftsteller im Exil unterstützt hat. Bermann starb am 5. September 1939 in Saratoga Springs.

Hans-Harald Müller hat diese verdienstvolle Sammlung von Feuilletons zusammengestellt, die Einblick gibt ins geistige und künstlerische Leben der Frühen Moderne. Wichtige Namen sind Peter Altenberg, den Bermann als seinen Lehrer begriff, Leo Perutz, mit dem er die Schulbank gedrückt hatte, Arthur Schnitzler, den er wenige Tage vor seinem Tod noch besuchte, oder Albert Einstein, dessen "intellektuelle Höhe" er als "große Einsamkeit" beschreibt. Die erste prägende intellektuelle Gestalt in Höllriegels Leben war Sigmund Freud: Man möchte sterben "an gelungener Psychoanalyse", rief er aus. Noch als Halbwüchsiger suchte Bermann den schon damals verrucht-berühmten Arzt in seiner Wiener Praxis auf, und kurz vor beider Tod, im Juli 1938, sahen sie sich im Londoner Exil. Freud hatte Bermann auf einen Traum hin geschrieben, den dieser im "Wiener Tag" veröffentlicht hatte, und zu sich eingeladen. Der "Angsttraum von der europäischen Politik" spreche mit der Symbolik der Psychoanalyse.

Ein "künstlerischer Journalismus" war Bermanns Ziel, dem Reisefeuilleton galt seine Leidenschaft. Er war 1933 beteiligt an der Wüstenexpedition des ungarischen Grafen Almásy, die vor zwei Jahren durch Michael Ondaatjes Roman (-Verfilmung) "Der englische Patient" zu hoher Popularität gelangt ist. Doch war Bermann überzeugt davon, dass der Dokumentarfilm den literarischen Reisebericht erübrigen werde. Seit 1911 begeisterte er sich für den Film, seit 1926 reiste er wiederholt nach Hollywood. Mit Charles Spencer Chaplin, dem "größten komischen Künstler der Welt", dem "größte[n] darstellenden Künstler der Zeit", war er befreundet. Seine Rezensionen der Chaplin-Filme, darunter "Der Zirkus", sind feine Selbstbeobachtungen des Kinogängers als Enthusiast. Minutiöse Nacherzählung und luzide Interpretation gehen hier Hand in Hand. Chaplins Filme sieht er als Lehrgänge in angewandter, mehr noch "gelungener Psychoanalyse". Auf lebendige Weise sei hier Erkenntnis mit Lust verknüpft: "Nach so viel Erkenntnis braucht man nicht weiter zu leben, man könnte sich sanft und selig auflösen, in Lachtränen."

Titelbild

Arnold Höllriegel: Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiographie ohne Helden.
Picus Verlag, Wien 1999.
352 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3854524234

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