Wegweiser in unübersichtlichem Terrain

David Bankiers Anthologie mit Interviews renommierter Holocaustforscher

Von Felix WiedemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Wiedemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer angesichts der stetig wachsenden Menge an Literatur zu Holocaust und Erinnerung den Überblick behalten will, hat es zweifellos nicht leicht. Viele Publikationen beschäftigen sich dabei mit Einzelaspekten und Detailfragen, wobei übergeordnete historische und philosophische Aspekte bisweilen in den Hintergrund zu geraten drohen.

Um solche grundlegende Fragen geht es hingegen in dem von David Bankier im Auftrag der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem herausgegebenen Band "Fragen zum Holocaust". Darin sind 15 Interviews mit renommierten Historikern, Philosophen, Kultur- und Literaturwissenschaftlern gesammelt, die Ende der 1990er-Jahre im Rahmen des Projektes "The Eclipse of Humanity" von Studenten an der internationalen Schule für Holocaustforschung in Yad Vashem durchgeführt wurden. Die Besonderheit des Buches liegt vor allem in der interdisziplinären Auswahl der Gesprächspartner: Es handelt sich um die Historiker David Bankier, Yehuda Bauer und Israel Gutman (alle aus Yad Vashem selbst), Christopher Browning, Saul Friedländer, Susanne Heim, Michael Marrus und Hans Mommsen; die Literaturwissenschaftler Aharon Applefeld, James E. Young, Dominick LaCapra und Gabriel Motzkin; den Theologen Franklin H. Littel sowie den Philosophen Jacques Derrida. Da die Gespräche bereits in den Jahren 1997 und 1998 geführt wurden, spiegelt der Band zwar nicht immer den neuesten Forschungsstand wider, vorrangig geht es jedoch um jene zentralen Fragen und Positionen, die die historiographische und philosophische Debatte über die Bedeutung des Holocaust seit Jahren prägen. Diese können an dieser Stelle freilich nur angeschnitten werden.

Ideologie oder Struktur

In den Gesprächen mit den Historikern nimmt die Frage nach den ideologischen Faktoren des Holocaust den größten Raum ein. Wiewohl die meisten Gesprächspartner die Debatte der 1970er-und 1980er-Jahre zwischen "Intentionalisten" und "Funktionalisten" für überholt halten, lassen sich anhand der Interviews beide Positionen exemplarisch aufzeigen. So erläutert etwa Hans Mommsen seinen klassischen funktionalistischen Ansatz, wonach der Holocaust "nicht das Ergebnis einer ideologischen Entscheidung", sondern eines verschlungenen Prozesses "kumulativer Radikalisierung" gewesen sei. Dass er, wie er sagt, im Laufe der Jahre auch einige Punkte der intentionalistischen Schule "akzeptiert" habe, ist diesem Gespräch allerdings nicht zu entnehmen.

Obwohl alle interviewten Historiker bestimmte funktionalistische Erklärungsansätze übernehmen, wird Mommsens extremer Standpunkt im Rahmen dieses Bandes lediglich von Susanne Heim geteilt. Ähnlich wie Götz Aly, mit dem sie Anfang der 1990er-Jahre die nicht unumstrittene Studie "Vordenker der Vernichtung" geschrieben hatte, führt Heim vor allem ökonomische Faktoren als Motive der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik an.

Die Rolle des Antisemitismus

Alle anderen Gesprächsteilnehmer messen den ideologischen Faktoren hingegen eine weitaus größere Bedeutung zu. Dabei geht es vor allem um den Charakter des nationalsozialistischen Antisemitismus und die Frage, in welchem Verhältnis dieser zu traditionelleren Formen des Judenhasses stand.

Da zu dem Zeitpunkt, als die Interviews entstanden, die Goldhagen-Debatte noch im vollen Gange war, liegt der Schwerpunkt der Gespräche vor allem auf der Frage nach der Verankerung des Antisemitismus in der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte. Goldhagens Erklärung des Holocaust aus einem spezifisch deutschen eliminatorischen Antisemitismus heraus wird dabei von allen Gesprächsteilnehmern als zu simpel zurückgewiesen. Zu Recht wird hier auf dessen Fehler hingewiesen, den radikalen völkischen Antisemitismus mit dem Alltagsantisemitismus weiter Teile der Bevölkerung gleichgesetzt zu haben anstatt zu erkennen, dass in der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft verschiedene Spielarten des Antisemitismus existierten, die in verschiedenen politischen und sozialen Milieus verankert waren. Alle interviewten Historiker betonen in diesem Zusammenhang die Besonderheit des radikal-völkischen Antisemitismus und heben den Unterschied zu parallel existierenden, traditionelleren Formen der Judenfeindschaft hervor. Als treffende Bezeichnung dieser bösartigsten Variante des Antisemitismus hat sich dabei der von Saul Friedländer geprägte Begriff des "Erlösungsantisemitismus" etabliert, wie er ihn jüngst in seiner herausragenden Gesamtdarstellung des Holocaust ("Die Jahre der Vernichtung") erneut fruchtbar gemacht hat.

Unterschiedlich beurteilt wird von den einzelnen Forschern hingegen die Rolle der deutschen Bevölkerung während der NS-Zeit und die Frage, inwieweit diese über den Judenmord informiert war. Historiker wie Bankier und Friedländer schätzen die wissentliche Teilhabe am Massenmord weitaus höher ein als etwa Mommsen, der der Ansicht ist, "höchstens sieben bis acht Prozent" der deutschen Bevölkerung hätten von der systematischen Judenvernichtung gewusst (ohne allerdings zu erläutern, auf welcher Basis diese doch recht präzise Prozentzahl zustande gekommen ist). Diese Angabe lässt sich freilich mit neueren Untersuchungen nur noch schwer vereinbaren. Ähnlich wie Friedländer hat jüngst etwa auch Peter Longerich in seiner Studie ",Davon haben wir nichts gewusst'" den Judenmord als "öffentliches Geheimnis" dargestellt und die "prinzipielle Öffentlichkeit" der Verfolgung betont.

Legenden

Ein weiterer Fragekomplex befasst sich schließlich mit der Stellung der Juden in der deutschen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Trotz unterschiedlicher Bewertung des Antisemitismus stimmen alle befragten Forscher darin überein, dass es sich bei der viel beschworenen "deutsch-jüdischen Symbiose" um einen Mythos, zumindest aber um eine höchst einseitige Sache gehandelt und die Identifizierung vieler Juden mit der deutschen Kultur keineswegs auf Gegenseitigkeit beruht habe.

Ein zentraler Aspekt der Gespräche mit Bauer, Gutman und Marrus stellt zudem die Frage nach dem Verhalten der Juden während des Holocaust dar. Im Hintergrund steht dabei der bereits aus dem Krieg stammende Topos, die jüdischen Opfer hätten sich "wie Schafe zur Schlachtbank" führen lassen. Energisch und zu Recht werden derartige Vorwürfe von allen interviewten Historikern, insbesondere von Bauer und Gutmann, als realitätsfremd zurückgewiesen. Stattdessen wird auf die große Spannbreite jüdischer Reaktionen auf die nationalsozialistische "Judenpolitik" und die Schwierigkeit der Zeitgenossen verwiesen, deren wahre Intention - die totale physische Vernichtung - frühzeitig erkennen zu können.

Singularität, Unvergebbarkeit und Erinnerungskultur

In den Gesprächen mit Friedländer, Derrida, Appelfeld, LaCapra, Motzkin und Young stehen eher universalhistorische Aspekte im Vordergrund. Dabei geht es um die Singularitätsfrage, die Zentralität des Holocaust in Geschichte und Gedächtnis westlicher Gesellschaften sowie die philosophischen, ethischen und theologischen Konsequenzen des Menschheitsverbrechens. Alle Autoren unterstreichen dabei die Einzigartigkeit des Holocaust. Diese wird allerdings weniger an der bloßen Quantität als vielmehr an Systematik und Radikalität festgemacht.

Bemerkenswert ist hier zunächst das wohl ausführlichste Interview mit Derrida über die Bedeutung des Holocaust im westlichen Denken. Im Anschluss an Emmanuel Lévinas geht es hier vor allem um ethische Fragen wie die prinzipielle "Unvergebbarkeit" des Verbrechens. Eine ähnliche Position hinsichtlich der Unmöglichkeit von Vergebung - wie Derrida - nimmt schließlich auch der Theologe Frank H. Littel ein: "Es gibt nur zwei Parteien, die in dieser Situation vergeben können: Die eine ist tot und die andere ist Gott." Damit wendet er sich erklärtermaßen gegen die traditionelle christliche Vorstellung von Vergebung.

Die Literaturwissenschaftler Dominick LaCapra und James Young äußern sich vor allem zur Präsenz des Holocaust in der westlichen Kultur. LaCapra geht es hier um eine Kritik verschiedener konventioneller Narrative, die den Holocaust als eine Art erlösende Apokalypse präsentieren und ihm somit einen Sinn unterschieben. Dabei verweist er auf die Einordnung des Holocaust in ein dreigliedriges historisches Schema von Ursprung, Katastrophe und Wiedergeburt, wie es vielen populären Erzählungen über den Holocaust zugrunde liege.

In dem Gespräch mit Young geht es vorwiegend um die Transformationen der Erinnerung seit 1945 und die Präsenz des Holocaust in der westlichen, vor allem amerikanischen, Gegenwartskultur. Dabei warnt Young davor, dass trotz - oder gerade wegen - der fortschreitenden "Amerikanisierung der Shoah" der "Holocaust zu einer Art distanzierten Erinnerung", ohne Rückbindung an aktuelle moralische und politische Fragen und somit zu einer "Form des Vergessens" erstarren könnte.

Auch wenn mitunter wichtige Forschungsfragen wie etwa der Zusammenhang der Judenvernichtung mit anderen nationalsozialistischen Mordprogrammen in vielen Gesprächen lediglich angeschnitten werden können, bietet der Band insgesamt einen hervorragenden Überblick über zentrale Aspekte der Holocaustforschung und des Denkens "nach Auschwitz". Dies resultiert vor allem aus der Qualität der sehr dichten, aber niemals verkürzenden Gespräche.

Gedenken in Yad Vashem

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass im Wallstein-Verlag noch eine weitere Publikation aus Yad Vashem erschienen ist. In dem Band (Zeugnisse des Holocaust. Gedenken in Yad Vashem) geht es um die "Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum" selbst. Nach einer kurzen Einführung zu Geschichte und Bedeutung von Yad Vashem bietet das Buch eine knappe Darstellung der Geschichte des nationalsozialistischen Judenmords anhand von Bildern und Zeugnissen aus der 2003 eröffneten sehenswerten historischen Dauerausstellung. Anschließend werden die einzelnen Abteilungen der Gedenkstätte, das Dokumentationszentrum, das historische Archiv, die internationalen Schule für Holocaustforschung, das neue Museum für Holocaust-Kunst sowie die zahlreichen Skulpturen und Mahnmahle auf dem weit verzweigten "Berg des Gedenkens" am westlichen Rand von Jerusalem vorgestellt. Dieser Band zeichnet sich vor allem durch sein reichhaltiges und eindrucksvolles Bildmaterial aus. Leider klingen die deutschen Übersetzungen der Begleittexte und Bildunterschriften - gerade im letzten Teil - vielfach etwas ungeschickt.


Titelbild

David Bankier (Hg.): Fragen zum Holocaust. Interviews mit Christopher Browning, Jaquest Derrida, Saul Friedländer, Hans Mommsen u.a.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
344 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3835300954

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Bella Guttermann / Avner Shalev (Hg.): Zeugnisse des Holocaust. Gedenken in Yad Vashem.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
326 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3835300385

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