Sympathisch, aber enttäuschend

Über den von Ursula Heukenkamp und Peter Geist herausgegebenen Sammelband mit Autorenporträts deutschsprachiger Lyriker des 20. Jahrhunderts

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein sympathisches, aber doch enttäuschendes Buch. Beides will erklärt sein. Zuerst die Sympathie: Die Idee, die wichtigsten Lyriker des vergangenen Jahrhunderts essayistisch zu porträtieren, ist wirklich faszinierend. Sie verlangt souveräne Kennerschaft und äußerste Konzentration, und sie erlaubt - im Unterschied zu Lexikonartikeln oder literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen - die gerade für Lyrik unerlässliche Textnähe und erwünschte kritische Urteilsfähigkeit. Dem Spielraum für die Einzelanalyse von Gedichten, wie man sie in monografischen Untersuchungen zu den Autoren findet, sind im Autorenporträt enge Grenzen gesetzt; trotzdem erwartet man von ihm zu Recht den "neuesten Forschungsstand". Und schließlich: Das essayistische Autorenporträt verlangt eine Schreibweise, die anspruchsvoll und kompromisslos (im Hinblick auf die zu vermittelnden Sachinhalte) und verbindlich (im Hinblick auf den zu gewinnenden Leser) zugleich ist.

Viel gefordert. Aber die Namen der beiden Herausgeber bürgen für Kompetenz und Qualität. Beide sind erfahrene Anthologisten. Ursula Heukenkamp ist Mitherausgeberin der repräsentativen DDR-Anthologie "Die eigene Stimme" (1988) und einer Sammlung deutscher Naturlyrik des 20. Jahrhunderts unter dem Titel "Der magische Weg" (2003). Sie hat unter anderem über Porträtgedichte und über "Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre" gearbeitet. Peter Geist hat DDR-Lyrik der siebziger und achtziger Jahre unter dem Titel "Ein Molotow-Cokctail auf fremder Bettkante" (1991) herausgegeben und avancierte zu einem der Herausgeber der Neuausgabe des altehrwürdigen Echtermeyer. Beide Herausgeber sind darüber hinaus mit fundierten Aufsätzen und Rezensionen zu deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts hervorgetreten. An ihrer 'Zuständigkeit' für die Einrichtung einer Porträtgalerie deutscher Lyriker des 20. Jahrhunderts kann also kein Zweifel sein.

Ihre Kompetenz macht sich auch bemerkbar an der Wahl der Beiträger zu diesem voluminösen Sammelwerk, das immerhin 64 Einzelporträts von Lyrikern des 20. Jahrhunderts und fünf Artikel über Gruppierungen ("Lyriker des Expressionismus", "Konkrete Poesie", "Rumäniendeutsche Lyrik", "Die Wiener Gruppe" und "Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene der DDR") enthält, innerhalb derer weitere (etwa 25) Lyriker vorgestellt werden. Sehr viele Mitarbeiter wurden ganz offensichtlich aufgrund ihrer ausgewiesenen Kennerschaft - sie haben bereits über den Autor, den sie vorstellen, gearbeitet - um einen Beitrag gebeten. Das gilt beispielsweise für den Kästner-Artikel von Sven Hanuschek, den Wolfskehl-Beitrag von Cornelia Blasberg, den Eich-Aufsatz von Sabine Buchheit und viele andere. Wir haben es hier also in der Regel nicht mit ersten Annäherungen zu tun, sondern mit verlässlichen Resümees bereits erudierter Fachleute. Über die rund 50 Mitarbeiter erfährt man allerdings leider nichts als ihren Wohnort, der ihrem Namen in Klammern beigefügt wurde. Immerhin wird auf diese Weise die Beteiligung von Germanisten aus zahlreichen überwiegend europäischen Ländern sichtbar.

Den Mitarbeitern wurden, wie es scheint, wenige oder gar keine 'Richtlinien' oder Vorschriften für die Abfassung ihrer Beiträge gemacht. Alles ist erlaubt: Die Nacherzählung des Lebenslaufs ebenso wie die Geschichte der Rezeption eines Lyrikers, die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung ebenso wie die Einordnung in die Literaturgeschichte. Und das alles darf auch fehlen. Daraus ergibt sich eine extreme Uneinheitlichkeit der Aufsätze. Aber warum sollte man das begklagen? Schließlich handelt es sich hier ja nicht um ein Nachschlagewerk, in dem alle Informationen und Kommentare nach einem festgelegten Schema positioniert werden, sondern um subjektive Vorstellungen, die um Verständnis für den jeweils Vorgestellten werben. Die Herausgeber bemühen zur Rechtfertigung der Uneinheitlichkeit der Beiträge "die Handschrift des Verfassers"; auch dagegen ist nichts einzuwenden, so lange diese Handschrift lesbar und lesenswert ist; aber davon kann leider bei weitem nicht durchgehend die Rede sein. Man findet gelegentlich hochgestochenes Germanisten-Kauderwelsch, Unklarheiten und Ausdrucksschwächen, sprachliche Unbeholfenheiten und sogar fehlerhaftes Deutsch. Hier wäre eine wenigstens moderate Redaktion erforderlich gewesen. Das betrifft auch die Literaturangaben, um so mehr, als sie im Vorwort ausdrücklich als regelmäßiger Bestandteil der Porträts angekündigt werden: "Auf jeden Fall wird im Anhang jedes einzelnen Porträts unter der Rubrik 'Forschung' auf weiterführende Studien hingewiesen". Das geschieht jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Zu Brecht werden gerade mal vier Titel genannt, zu Jürgen Becker sogar nur einer, dagegen 21 zu Rose Ausländer und 25 zu Hans Magnus Enzensberger.

Liest man die Bedeutung der porträtierten Lyriker an dem Umfang ab, der den Beiträgen über sie zugestanden wurde, dann sind Gottfried Benn und Rolf Dieter Brinkmann [!], Georg Heym und Brecht - in dieser Reihenfolge - die wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts, gefolgt von Volker Braun, Oskar Loerke und Peter Huchel. Sie alle und ebenso auch Johannes R. Becher und Erich Arendt rangieren noch vor Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke.

Bedenklich und zum Teil wirklich ärgerlich ist die Auswahl der Autoren, die eines Porträts für würdig erachtet wurden. Hier mussten die Herausgeber ja nicht kleinlich sein; standen ihnen doch immerhin 800 Seiten zur Verfügung, so dass selbst Zweifelsfälle ihren Platz hätten finden können. Dabei sind es nicht etwa die Aufnahmekriterien selbst, die angreifbar wären: "Die Herausgeber haben", so liest man, "die Auswahl auf Autoren begrenzt, die sich, mit welchem Resultat auch immer, mit der Moderne auseinandergesetzt haben". Das lässt sich doch hören! Und: "Die Herausgeber gehen davon aus, daß die Bedeutung eines lyrischen Werkes sich daran misst, wie es auf das Profil der Gattung einwirkte und welche Spuren es hinterlassen hat. [...]Wir entschieden uns, die Bedeutung eines Dichters oder einer Dichterin an dem Einfluß auf andere Dichter zu messen oder doch wenigstens abzuschätzen. So hatten wir zu bedenken, wer Muster oder Modelle lieferte, die den Nachfolgenden keine Ruhe ließen". Bravo!

Aber: Welche Spuren haben denn Uwe Greßmann, Beat Brechbühl und Peter Waterhouse als Lyriker hinterlassen? Sind sie wirklich unentbehrlich? Da hätte doch Georg Maurer, dem alle DDR-Lyriker unendlich viel verdanken, eher eine Würdigung verdient. Und wenn man sich die Namen derer vergegenwärtigt, die in diesem Buch nicht porträtiert werden, stellt sich geradezu so etwas wie ein Schock ein: Theodor Däubler, Rudolf Borchardt, Hermann Hesse, Georg von der Vring, Klabund, Georg Britting, Hans Carossa, Josef Weinheber, Rudolf Alexander Schröder, Franz Werfel: Fehlanzeige. Haben sie sich alle mit der "Moderne" nicht auseinandergesetzt? Und: Nichts gegen Elke Erb, Wolfgang Hilbig und Reinhard Priessnitz, die eingehend porträtiert werden; aber: ist es wirklich richtig, unter diesen Umständen auf Reiner Kunze, Wolf Biermann und Heiner Müller gänzlich zu verzichten?

Nicht berücksichtigt wurden auch Hilde Domin, Elisabeth Borchers, Doris Runge und Ulla Hahn, dafür ist aber Barbara Köhler vertreten. Die Lyriker Günter Grass, Walter Höllerer, Jürgen Theobaldy, Christoph Meckel und sogar Robert Gernhardt gibt es hier nicht, dagegen gibt es Thomas Rosenlöcher. Auskünfte über (alphabetisch) Thomas Bernhard, Marcel Beyer, Walter Helmut Fritz, Rolf Haufs, Karin Kiwus, Kurt Marti, Heinz Piontek, Helga M. Novak, Robert Schindel, Guntram Vesper, Wolf Wondratschek und Paul Wühr sucht man hier vergeblich, dafür darf man sich mit einem Porträt Adolf Endlers entschädigen. Kurz: Die Auswahl der Lyriker-Porträts ist nicht nur eigenwillig (und ein wenig ostprovinziell), sie ist schlicht enttäuschend.

Sympathisch bleibt dieses Buch trotz allem. Es zeigt auf eine insgesamt faszinierende Weise, wie angemessen gerade für die Lyrik die Fokussierung auf die Autoren ist, wenn es um eine Gesamtdarstellung der Lyrik eines Jahrhunderts geht. Keine Literaturgeschichte und keine Gattungsgeschichte kann das leisten. Sympathisch ist das Buch auch wegen einer Reihe ganz vorzüglicher Artikel, von denen hier wenigstens einige genannt seien. Hervorragend gelungen (im Hinblick auf die Sachinformationen und die Schreibweise) scheinen dem Rezensenten beispielsweise die Porträts von Frank Möbus (über Ringelnatz und Rühmkorf) und diejenigen von Dorothea von Törne (über Ingeborg Bachmann und Jürgen Becker), die freilich im Hinblick auf die Nachweise verbesserungsbedürftig sind. Sehr gelehrt und weitführend sind auch die Beiträge von Walter Gebhard (über Oskar Loerke und Elisabeth Langgässer), die sich allerdings nachdrücklicher um ihre Leser hätten bemühen sollen; und Langgässers problematisches, aber überaus charakteristisches Gedicht "Frühling 1946" dürfte nicht aus lauter Diskretion übergangen werden. Schließlich wären noch die glänzenden Essays von Jan Röhnert (über Brinkmann und Raoul Schrott) zu nennen, die sensibles Einfühlungsvermögen mit souveräner Kenntnisvermittlung und eleganter Formulierungskunst verbinden. Durchaus lesenwert sind aber auch die Beiträge von Bernd Scheffer (über Kurt Schwitters), von Peter Bekes (über Günter Kunert) und von Michael Braun (über Uwe Kolbe) - von den Artikeln der Herausgeber einmal abgesehen. Und vielleicht - hoffentlich! - erweist sich ja diese Porträtgalerie als so erfolgreich, dass die Arbeit an ihr nicht ein für alle Mal abgeschlossen ist, sondern fortgesetzt werden kann. Dann könnte einigen der hier vorgebrachten Monita Rechnung getragen werden, es könnten Artikel verbessert, ausgetauscht oder zusammengefasst werden, es könnte Übersehenes nachgetragen und Überschätztes eliminiert werden. Es würde dann ein nicht nur im Prinzip sympathisches, sondern ein in der Praxis gelungenes Kompendium der Lyrik des 20. Jahrhunderts werden.


Kein Bild

Ursula Heukenkamp / Peter Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006.
787 Seiten, 118,00 EUR.
ISBN-10: 3503079998

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch