"Bestellen Sie, ich muß vom Buche leben."
Von der (Wieder-) Entdeckung des Westfälischen Lyrikers Wilhelm Stolzenburg
Von Jens Zwernemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Lyriker, Buchhändler, Übersetzer und Redakteur Wilhelm Stolzenburg zählt zweifellos zu den Unbekannten der deutschen Literaturgeschichte. Eigentlich zu Unrecht, wie die kürzlich im Aisthesis Verlag erschienene Ausgabe seiner Werke zeigt: Auf rund 150 Seiten versammelt der Herausgeber Dieter Sudhoff (beinahe) das gesamte Œuvre des 1879 in Wetter an der Ruhr geborenen und 1938 in Essen gestorbenen Lyrikers, der nicht nur vier Gedichtbände veröffentlichte, von denen der eponyme Band "Ernte" allerdings nur noch bibliografisch nachweisbar ist, sondern auch in Avantgarde-Zeitschriften wie "Die Aktion", "Die Kugel" und "Der Strom" publizierte. Dass er dennoch selbst von seinen Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurde, lag neben der von Sudhoff beklagten "Arroganz der in Berlin konzentrierten Kulturschickeria gegenüber der Provinz" wohl nicht zuletzt auch an den ausgesprochen geringen Auflagen, in denen seine Gedichtsammlungen veröffentlicht wurden.
So auch Stolzenburgs Debütband "Gedichte", der, 1907 im Berliner Verlag Curt Wigands erschienen, jedoch zumindest einem zeitgenössischen Rezensenten hymnisches Lob entlockte: "Ein duftiges Heftchen" sei es, schwärmte der Kritiker des "Dortmunder Tageblatts", das der Dichter da vorgelegt habe und das "eine Anzahl wirklich entzückender, stimmungsvoller Poesien birgt." Selbst vor superlativischem Beifall schreckt der solcherart Enthusiasmierte angesichts der neoromantischen Verse nicht zurück und lobpreist, dass "[m]anche Stücke [...] zum Feinsten [gehören], was die moderne Lyrik hervorgebracht hat." Fraglich erscheint dabei, inwieweit sich auch heute noch Leser finden werden, die dieses Urteil zu teilen vermögen: "Gedichte" vereint sentimental-melancholische Liebesgedichte mit Gedichten über Stolzenburgs westfälische Heimat, deren Überdosis an "Schollenromantik" (Sudhoff) sie für den aktuellen Geschmack doch ziemlich schwer verdaulich machen. So etwa das Eingangsgedicht "Meine Heimat", das mit Versen wie "Als meine Heimat nenn ich stolz 'Westfalen'/ und drück der Mutter ihre raue Hand: / Du musstest mühsam deine Scholle bauen, / denn hart und schwer ist unser Heimatland" wohl in keinen gängigen Lyrikkanon Eingang finden wird und nur noch von primär literarhistorischem Interesse sein dürfte. Auch Stolzenburgs (über-)deutliche Heine-Verehrung schlägt sich hauptsächlich in Pastichegedichten nieder, die mit ebenso "entzückenden" wie klischeehaften Versen zu prunken versuchen: "Nun wo alle Blumen blühen, / tausend frohe Herzen glühen: / Du, nur du allein willst weinen? // Sieh, du stehst in Sonnenscheinen / und kannst weinen / - / - / -"
Mag "Gedichte" somit retrospektiv auch nicht als großer (selbst nicht einmal als mittlerer) literarischer Wurf gelten, so ist Stolzenburgs Erstling doch zumindest im direkten Vergleich mit seinem Nachfolger höchst interessant: Unmittelbar nach der Publikation seiner ersten Lyriksammlung erschien mit "Caviar fürs Volk" Stolzenburgs zweiter Gedichtband, in dem er gänzlich andere Töne anschlug: "zwei schmale Bücher, wie sie unterschiedlicher kaum zu denken sind, und die so bei allen äußerlichen Abhängigkeiten etwas von der Ambivalenz seines Wesens verraten" (Sudhoff).
Schienen die mit Jugenstilornamenten verzierten Gedichte seiner ersten Sammlung noch mit mindestens einem Auge auf den Publikumsgeschmack schielend geschrieben, so dominiert eine deutliche épater-le-bourgeois-Haltung die mit Exlibris Willi Geigers versehenen "Caviar"-Gedichte. Als "männlich-harte[...] 'Satiren'" bezeichnet der Herausgeber die dort versammelten Verse, in denen sich Stolzenburg gegen Spießertum und Militarismus wandte und dabei - so Sudhoff - gerne einen "anrüchigen Kabarettstil" einsetzte, wie er etwa in "Liebste Olly" deutlich wird: "Liebste Olly, sieh da kommt die 'Sitte', / Schließ das Mieder vor die süße Titte. // Nimm die Hand von meinem schmalen Knie, / Du, vergnügter war ich nie." Auch der immer noch greifbare Einfluss Heines erfährt hier eine entscheidende Wendung; nicht mehr der volksliedhaft-romantische "Buch der Lieder"-Ton steht nun im Vordergrund, sondern die dezidiert politische Diktion der Heine'schen "Nachtgedanken": "Denk ich an Deutschland in der Nacht, / So bin ich um den Schlaf gebracht. // Ein ungeheurer Automat / Spielt unaufhörlich tra-tra-trat. // Ein Impressario sitzt im Dunkeln, / Ich sehe seine Ringe funkeln. // Er liebt den lauten Musikschall, / Die Musik spielt den Donnerhall." ("Deutschland").
Die Rubrik "Verstreute Dichtungen" enthält neben Stolzenburgs 'Amerikanischen Impressionen' - kurzen, aus dessen Amerikaaufenthalt (1912-14) hervorgegangenen Prosagedichten, "die zu Stolzenburgs originärsten Leistungen gehören" (Sudhoff) - unter anderem auch "Am Galgen", Stolzenburgs 1918 erstmals erschienene Übersetzung von François Villons "Ballade des pendus", nebst einer Reproduktion der von Willi Jaeckel für die Vorzugsausgabe angefertigten Grafik.
Den Abschluss der Sudhoff'schen Ausgabe bilden die Gedichte des 1925 in einer Auflage von nur 175 Exemplaren veröffentlichten Sammlung "Östlicher Divan", in der der Lyriker seinen Nachdichtungen von Gedichten Li-Tai-Pes und Thu-Fus auch eigene Gedichte beifügte, die er einem "unbekannten" chinesischen Dichter zuschrieb. Dabei gelang es ihm, "höchst eigene, durchaus selbständige Verse" zu verfassen (Sudhoff), deren einfühlsam-exotischer Ton auch heutige Leserinnen und Leser noch anzusprechen vermag. Dass Stolzenburg sich dabei, wie auch schon bei seiner Villon-Übertragung, als Nachzügler der literarischen Moderne erweist - Klabunds und Ezra Pounds Li-Tai-Pe-Nachdichtungen etwa erscheinen bereits 1915 - mag ein weiterer Grund dafür sein, dass er bislang von der Literaturwissenschaft so wenig zur Kenntnis genommen wurde.
Dennoch: Dem - unlängst verstorbenen - Herausgeber Dieter Sudhoff gebührt das Verdienst, einen bislang fast völlig unbekannten Autor einem nicht nur akademischen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Damit hat er, wie auch bereits in seinem 2001 ebenfalls bei Aisthesis erschienen Band "Die literarische Moderne und Westfalen", die Geschichte der literarischen Moderne um eine Facette erweitert, die zur Kenntnis zu nehmen durchaus lohnenswert ist.
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