Der Lyrik eine Gasse

Ulla Hahn hat eine ungewöhnliche Anthologie herausgegeben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulla Hahn schwimmt gern gegen den Strom. Mit ihren Gedichten Anfang der 80er Jahre traf sie den Nerv der Zeit, doch verübelten ihr manche Kritiker den Rückgriff auf traditionelle Formen und Inhalte. Mit ihrem Roman "Ein Mann im Haus" erregte sie Anfang der 90er Jahre wieder die Gemüter. Und ihre vergangenes Jahr erstmals aufgelegte Lyrikanthologie "Gedichte fürs Gedächtnis" fand ein geteiltes Echo. Das Gedächtnis sollen wir, nach Ulla Hahn, für das Memorieren von Gedichten benutzen. Diese etwas kurios anmutende Forderung steht am Anfang einer nicht weniger merkwürdigen Mischung von Gedichten und Kommentaren. Hahns Anweisungen zum "Inwendig-Lesen" und "Auswendig-Sagen" sind nun schon in der 8. Auflage erhältlich. Grund genug, sich zu fragen, warum der Erfolg Ulla Hahn offenbar (wieder) einmal Recht gegeben hat.

Es ist schon eine Zumutung, was die Autorin von uns fordert. Wir sollen Gedichte auswendig lernen! Ulla Hahn will (aber) die Uhr nicht in die Zeiten zurückdrehen, in denen das Aufsagen von Gedichten zum guten Ton gehörte. Dem "Auswendig-Sagen" gesellt sie ein "Inwendig-Lernen" hinzu: Wenn wir ein Gedicht lesen, dann sollen wir es so oft lesen, bis wir das Gefühl haben, dass wir es begreifen. Wir sollen die literarische Gattung, die bis ins 18. Jahrhundert mündlich vorgetragen wurde, wieder zum Klingen bringen. Wir sollen neben dem Inhalt die Melodie des Gedichts erforschen oder doch zumindest eine Ahnung davon bekommen, dass es eine solche Melodie gibt. Damit wird keinem Reimzwang das Wort geredet, auch das alternierende Metrum ist kein Muss: Hahn hat traditionelle wie moderne Lyrik aufgenommen.

In gewisser Weise liegt Hahn im Trend. Erfreuen sich nicht Hörbücher zunehmender Beliebheit? Was ist also dagegen einzuwenden, dass uns ein Dichter dazu auffordert, Dichtung einmal selber laut zu lesen. Die nahezu anstößige Forderung nach dem Auswendiglernen ist damit bereits relativiert, aber noch nicht aus der Welt geschafft. Das schließlich leistet Klaus von Dohnanyis Nachwort. Ulla Hahns Gatte gibt zu, er habe kein gutes Gedächtnis! Wenn er eine zentrale Forderung des Vorworts offenbar nicht erfüllen kann oder will, dann ist das keine Inkonsequenz, sondern es passt gut zu diesem Buch. Der Leser, das ist die Botschaft, möge sich eine eigene Meinung bilden! Über die richtige Art, Gedichte zu lesen, und über die Gedichte, die er lesen möchte.

Womit wir bei der Auswahl angelangt wären. Hier setzt sich der Eindruck von Kuriosität fort. Ulla Hahn hat eigentlich nicht Gedichte für Leser, sondern für sich selbst ausgewählt. Der Kenner wird darüber die Nase rümpfen, dass so viele Gedichte aufgenommen wurden, die er in ungezählten Ausgaben bereits im Bücherregal stehen hat: Gryphius' "Es ist alles eitel", Claudius' "Abendlied", "Goethes "Heidenröslein", Schillers "Handschuh", Eichendorffs "Mondnacht", Heines "Loreley", Hölderlins "Hälfte des Lebens", Benns "Astern", Celans "Todesfuge". Für den Kenner werden auch die Kommentare Ulla Hahns zu den einzelnen Gedichten ein mittleres Ärgernis darstellen. Was sollen die biographischen Angaben zum Autor, schon gar zu Autoren wie Goethe oder Schiller, mit deren Lebenslauf man doch vertraut ist?

Dem Kenner könnte man entgegnen, dass er wohl nicht der Adressat des Buches ist oder dessen Intention zumindest teilweise missversteht. Wer gern Gedichte liest, ohne dies professionell zu tun, wird sich über die Zusammenstellung von Bekanntem und Unbekannterem (Gedichte von Albrecht Haushofer, Simon Dach, Friedrich von Logau) freuen. Ein gutes Gedicht hält die mehrmalige Lektüre nicht nur aus, sondern fordert sie heraus. Die Kommentare hätten wohl etwas weniger faktenreich ausfallen können - Lebensdaten kann man leicht nachschlagen und für das Verständnis des Textes leisten sie kaum etwas. Aber die Kommentare sind, und das ist das Schöne, so wie der ganze Band: eigenwillig. Man kann sich lustvoll daran reiben - etwa an Hahns beinah grenzenloser Goethe-Verehrung und der damit korrespondierenden Abwertung Schillers; oder sich darüber freuen - etwa über ihr Inschutznehmen Erich Kästners gegen Walter Benjamin.

Titelbild

Ulla Hahn: Gedichte fürs Gedächtnis. Ein Lyrikspiel zum Fertig-Denken und Raten-Lassen.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999.
19,90 EUR.
ISBN-10: 342105147X

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