Zu gut für die Short List

Rudolf Lorenzen informiert über Werbung, Liebe und andere Lügen

Von Frank HertelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Hertel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Du bist jung, hübsch, intelligent und du bist verliebt. Deine Freundin bekommt einen guten Posten in Zürich. Du bekommst einen guten Posten in Hamburg. Was nun? Diese Frage stellt Rudolf Lorenzen in seinen "Beutelschneidern". Sie war schon in den 1960er-Jahren beim ersten Erscheinen des Buches hochaktuell. Und sie ist heute aktueller denn je. Der Markt ist globalisierter, es gibt mehr Akademiker. Die Frauen sind emanzipierter und immer weniger gewillt, sich nur noch um die Kinder zu kümmern. Und es gibt vermehrt gute Arbeitsplätze. Untrügliches Kennzeichen hierfür: der englische Jobtitel.

"Überlassen wir das Zusammenleben den niederen Ständen", sagt die Freundin zur Hauptfigur Bruno Sawatzki. Er war für ein Jahr Werbefachmann bei Gottfried Kockel in der Nähe von Konstanz. Jetzt geht er nach Hamburg zum nächsten guten Posten, dort bekommt er 200 Mark mehr. Die zehn kleinen Negerlein lässt er zurück - seine Freundin, Redakteurin bei der Lokalzeitung, wird von ihm in Gedanken so genannt, weil sie mit dieser unkorrekten Bezeichnung ihre Glosse auf der Kinderseite unterschreibt. Er verlässt seine Freundin, der Beruf ist ihm wichtiger. Sie folgt ihm nicht aus demselben Grund. Das Geld besiegt die Liebe.

In den 1960er-Jahren wurden "Die Beutelschneider" von der Kritik gut aufgenommen, aber nicht von den Lesern. Der Verbrecher Verlag meint, das Buch wäre damals zu hart gewesen. Es ist auch heute noch zu hart. Es zeigt die Gesellschaft und die Menschen wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Es streut dem Leser keinen Sand in die Augen, es verschleiert nicht, es lügt nicht. Doch die Menschen, zumal die Deutschen, mögen keinen Realismus. Sie wollen Idealismus, sie wollen, dass Bruno Sawatzki sich für die Liebe entscheidet, dass er alles stehen und liegen lässt, um bei seiner Frau zu sein, dass ihm Geld nichts bedeutet. Aber dem ist nicht so. Er ist wie wir alle. Er ist kein Held. Es gibt Denker, Herfried Münkler etwa, die behaupten, wir leben heute im postheroischen Zeitalter. Demnach müsste der Anti-Held Sawatzki heute besser ankommen als vor 50 Jahren. Das muss man nicht glauben, der Wunsch nach Heldentum könnte auch eine anthropologische Konstante sein.

Handwerklich ist das Buch ein Meisterwerk. Die Sprache ist exakt, die Anlage der Figuren vollständig. Die Darstellung des Chefs Gottfried Kockel ist überragend. Man weiß aus eigener Erfahrung, dass die Chefs mittlerer Betriebe genau so sind wie sie Lorenzen beschreibt. Die Betrügereien sind wunderbar geschildert. Manchmal könnte man meinen, die Szenen tendieren ins Erdachte, aber das täuscht. Genau das ist das Leben: eine groteske und absurde Satire. Man blickt in einen frisch geputzten Spiegel und man sieht die Wahrheit.

Doch will man die Wahrheit sehen, wenn man einen Roman liest? In der Regel nicht. Der typische Romanleser will erbaut werden, will Fantasien, hehre Vorstellungen, Märchen. Allerdings gibt es eine kleine Zielgruppe, für die dieses Buch und Rudolf Lorenzen überhaupt, sehr interessant sein dürfte. Menschen, die gerne Sachbücher lesen, werden an den "Beutelschneidern" ihre wahre Freude haben. Denn es handelt sich um eine Art Sachbuch in Romangestalt. In ihm finden sich Antworten auf viele Fragen unserer Zeit. Die wirklich Suchenden unter den Lesern werden in diesem Buch fündig. Dass es daher nur für relativ wenige Menschen wirklich geeignet ist, gehört zur Standardklage der deutschen Buchkritik. Wenn dieses Buch in die Bestsellerlisten kommt, ist die Aufklärung vollendet, könnte man pathetisch sagen, aber gerade in einer Rezension über die realistischen "Beutelschneider" wollen wir uns das Träumen verbieten.


Titelbild

Rudolf Lorenzen: Die Beutelschneider.
Verbrecher Verlag, Berlin 2007.
414 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783935843935

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