Der einsame Weg zu Gott

Ibn Tufails Inselroman "Hayy Ibn Yaqdhan" gegen die Mär vom geistig unterlegenen Islam

Von Marcus Andreas BornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Andreas Born

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der allegorische Roman "Hayy Ibn Yaqdhan" - zu deutsch "Der Lebende, Sohn des Erwachten" - ist die einzige Schrift, die von Abu Bakr Ibn Tufail erhalten ist. In ihr beschreibt der muslimische Arzt, Astronom und Philosoph aus dem arabischen Spanien des 12. Jahrhunderts den stufenweise fortschreitenden Werde- und Erkenntnisgang des Protagonisten Hayy Ibn Yaqdhan. Als Säugling befindet er sich auf einer tropischen Insel und wird von einer Gazelle großgezogen. Anhand von Naturbeobachtungen und Reflexionen erreicht er tiefere wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihn bis in die Sphäre der Erkenntnis des Göttlichen erheben. Nach der rationalen Einsicht in die Existenz Gottes erreicht er durch Askese auch die spirituellen Stufen des Daseins.

Erst im höheren Alter gerät der Einsiedler in Kontakt mit anderen Menschen. Auf einer benachbarten Insel lebt ein Volk, das die Erkenntnisse, die Ibn Yaqdhan durch die Natur und seine Kontemplation gewann, durch Offenbarung erhalten hat. Trotz der wesentlichen Übereinstimmung der Religion dieses Volkes mit den Einsichten Ibn Yaqdhans begnügen sich die Menschen auf der Insel damit, der Offenbarung wortwörtlich zu folgen, ohne sie auf ihre tiefere Bedeutung zu prüfen. Sie fühlen sich durch Ibn Yaqdhans Erklärungen ihrer Bilder und Symbole beraubt und lehnen seine Lehre ab. Der Einzige, der versucht, tiefer in den Glauben einzudringen, ist Asal, der Ibn Yaqdhan zuvor auf der Suche nach einem Platz für ein asketisches Leben auf seinem Eiland gefunden hat. Die beiden kehren wieder zur Insel zurück, nachdem Ibn Yaqdhan eingesehen hat, dass die einzige dem Volk mögliche Art des Glaubens das Befolgen von Regeln ist. Dieses soll nicht hinterfragt werden, um den Glauben nicht zu erschüttern.

Ibn Tufails Text, der Daniel Defoe zu seinem "Robinson Crusoe" inspirierte, vermittelt neben religiösen Einsichten auch einen Eindruck von der Spannbreite der Wissenschaft im Andalusien des 12. Jahrhunderts, insbesondere der Medizin und Astronomie. Von einfachen Elementen ausgehend, entwickelt er auch Einsichten in komplexere Probleme bis zur Einheit der Natur.

Der Roman wurde insbesondere in der Aufklärung rezipiert, die Übersetzung ins Lateinische erfolgte 1671 unter dem Titel "philosophus autodidacticus". Gottfried Wilhelm Leibniz, Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing und andere bezogen sich auf den Text, in dem die Zeit eine Rückführung und des Glaubens auf die Vernunft erkennen will. Ganz so einfach stellt sich der Sachverhalt bei Ibn Tufail jedoch nicht dar. Man kann eher von einer vermittelnden Anordnung der beiden Sphären Glauben und Vernunft sprechen, die nebeneinanderliegend auf das Gleiche abzielen. Weder die vernünftige Erkenntnis Gottes, noch die mystische Wahrheit sollen dem geoffenbarten Glauben widersprechen. Der tiefere Zugang zur Göttlichkeit ist nur wenigen Denkern zugänglich, während sich das Volk auf die Religion verlassen muss, um zum Glauben zu finden. Vernunftwahrheit und Offenbarungswahrheit sind bei Ibn Tufail identisch.

Ibn Tufails Inselroman bietet sich dem Leser an, der einen Einblick in die vielfältigen Dimensionen der islamischen Philosophie und Wissenschaft sowie in deren Verquickung im 12. Jahrhundert haben möchte. Er zeigt darüber hinaus den Versuch, unterschiedliche Wege zur Wahrheit als gleichrangig zu behandeln. Damit sollte die Gefahr abgewehrt werden, die von einem Erstarken der philosophischen Kritik ausging, nämlich, dass dieses sich gegen den Glauben wandte.

Die kommentierte Ausgabe, die bei Edition Viktoria erschienen ist, verzichtet aus "Respekt vor dem viel diskutierten islamischen Bilderverbot" auf Bildillustrationen. Stattdessen finden sich im Text Kalligrafien von Koranstellen, auf die sich Ibn Tufail bezieht. Neben der Kommentierung und einer Bibliografie ist der Text mit längeren Erläuterungen zu den Anfängen der islamischen Philosophie und Theologie ausgestattet, die sich bei der Lektüre als sehr hilfreich erweisen und auch als kleines Wörterbuch zum Thema dienen können.

Im Nachwort "Hayy Ibn Yaqdhan - Eine moderne Lektüre" wird der Bezug zur gegenwärtigen Problematik hergestellt. Wenn auch der Vergleich der Darstellung des Ibn Yaqdhan in Ibn Tufails Roman mit dem postmodernen Intellektuellen gewagt ist, wird doch gezeigt, dass im Text die Möglichkeit einer Selbstkritik des Islam angelegt ist und dieser nicht als eine dogmatisch geschlossene Front jeglichem aufklärerischen Bestreben entgegenstand und -steht: "Eine gewisse Analogie zu unserer Zeit könnte - gerade im Bezug auf den arabisch-islamischen Kontext - gezogen werden. Ein kritisch-aufklärerischer Auftritt gegen Fanatismus, Dogmatismus und Irrationalität ist damals wie heute gefordert."


Titelbild

Ibn Tufail: Hayy Ibn Yaqdhan. Ein muslimischer Inselroman.
Edition Viktoria, Wien 2007.
152 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-13: 9783902591012

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