Das Meer in der Gabelstaplerhydraulik

Ohne Schnörkel und mit viel Gefühl: Clemens Meyers preisgekrönte Stories "Die Nacht, die Lichter"

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie wirken wie Auslaufmodelle, die Helden in Clemens Meyers Erzählungen aus der Anthologie "Die Nacht, die Lichter". So etwa der Boxer in der Geschichte "Ich bin noch da!", der nur noch als "Aufbaugegner" gebucht wird - einer, der das Ego seiner Gegner, die (noch) zu den Hoffnungsträgern zählen, aufpolieren und ihr Selbstbewusstsein stärken soll, indem er verliert. Wenn diese Anti-Helden dann entgegen aller Erwartung doch einmal gewinnen, bringt ausgerechnet dies sie in Schwierigkeiten. Und doch: Sie folgen einer anderen Logik, einem starken inneren Antrieb, der sie oft genug anecken lässt, einem Wertesystem, in dem sie sich selbst treu sind. Deshalb sind sie höchstens äußerlich "Verlierer", meistens Menschen auf der unteren Sprosse der sozialen Leiter und in schlecht bezahlten Jobs, wenn überhaupt. Neben der Spur, durchs Netz gefallen, nicht mitgekommen, Fresse poliert sowieso - und doch: "Er roch die Kotze auf seiner Jacke. Er hatte Schmerzen, wenn er atmete. Seine Beine zitterten, er konnte seine Beine kaum noch spüren und schwankte hin und her. Aber all das störte ihn nicht." Er hat einen Treffer gelandet. Einen Punkt gemacht. Gewonnen.

Was die Protagonisten zu Auslaufmodellen macht, ist - zumindest in den stärksten Geschichten dieses Bandes - nicht die soziale Randlage, in der sie sich befinden, sondern die mitunter verschrobene, verdrehte Integrität, der sie sich verpflichtet fühlen - so etwas wie ein Ehrenkodex der "alten Garde". Dazu passt die Nostalgie, die in manchen Geschichten durchscheint, wenn beispielsweise einer durch die Straßen geht, die er seit zig Jahren kennt und doch nicht mehr erkennt, weil sie immer mehr verfallen oder weil aus der Eckkneipe, in der man früher natürlich Bier (und Schnaps) getrunken hatte, nun eine dieser chicen Cocktailbars geworden ist. Ein Treuekodex, zu dem manchmal das Lügen gehört (wie in "Reise zum Fluss"), der bizarr anmutet, etwa wenn der alte Mann (in "Der alte Mann begräbt seine Tiere") seine Tiere umbringt, weil er nicht weiß, wo er sie gut abgeben könnte, bevor er sich selbst erschießt.

Dieser innere Antrieb, nach einer eigenen Gesetzmäßigkeit zu handeln, dieses irgendwie anders, stark und auf jeden Fall eigenwillig "Ticken" verbindet die Kurzgeschichten miteinander, aus denen der Autor, wie er betont, ein "richtiges" Buch, kein Sammelsurium von aus der Schublade Gezogenem gemacht hat - eine Komposition mit dem Grundthema in Variationen. Dies bringt starke Figuren hervor, die ihrem Ziel folgen und dafür viel riskieren - ein wesentliches Element starker Stories, die zu Recht in die Tradition bester amerikanischer Kurzprosa à la Hemingway oder Carver gestellt werden. Aber Meyer zeigt auch die Kehrseite dieser Außenseiterloyalität, etwa im "schwulen" Schwulenklatschen in "Wir reisen", den Absturz ("Das kurze und glückliche Leben des Johannes Vettermann") und den mörderischen Wahn ("Die Flinte, die Laterne und Mary Monroe").

Diese Geschichten sind stark wegen der eigenwilligen Figuren, des stimmigen Settings (Milieu hin oder her) und einer klaren prägnanten Sprache, die keine Schnörkel duldet. Der Autor führt mitten in die Geschichten und die Figuren hinein, liefert zum Glück keine Erklärungen, keine Vorgeschichten, setzt ganz auf die Dynamik des Augenblicks und die Motivation der Protagonisten. Dabei bleiben Lücken, Raum für den Roman im Kopf der Leserinnen und Leser. Das macht Meyer virtuos, mit dem Mut, Klischees zu streifen, wie das von dem arbeitslosen Ehemann der "zarten" Marion ("In den Gängen" ), "früher 'n netter Kerl, aber seit er arbeitslos ist, ist er 'n ziemliches Arschloch". Und er spielt mit den Assoziationen, den Klischees in den Köpfen, wenn er keine Erklärung liefert, warum Marion ein paar Wochen nicht zur Arbeit kommt.

Manches allerdings bleibt allzu skizzenhaft ("Es kommt ein Schiff" und Brunos Tod in "In den Gängen"). Und einige der "vielen bunten Lichter der Stadt" kommen zu oft vor, das Neonlicht der chicen Cocktailbars zum Beispiel (und überhaupt: die "bunten Cocktails"!). Dass die Lichter der Stadt auch dann auftauchen müssen, wenn einer auf dem Land hinterm Haus auf einer Bank sitzt, wirkt dann doch gezwungen. Dies ist jedoch verzeihlich, wie auch die kleinen sprachlichen Ausreißer - "Arschloch", "Schwuchtel", "er hatte nie was von erzählt" - und das in nicht wörtlicher Rede. Beinahe unverzeihlich hingegen ist das Ende der Geschichte "Von Hunden und Pferden", die leider - nachdem der Autor gekonnt mit der Lesererwartung gespielt und eine unerwartete Wendung eingebaut hat - eine Kehre zu viel nimmt.

Für seinen Erzählband hat Clemens Meyer den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen. So viel Gefühl findet sich selten - darin mag man Mut zum Pathos sehen oder beinahe schon Kitsch - das Meer in der Gabelstaplerhydraulik gibt es nur hier.


Titelbild

Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. Stories.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
265 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783100486011

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