Lachend ernst sein
Zum 70. Geburtstag des Schriftstellers Urs Widmer
Von Peter Mohr
"Ich heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi." So leitete der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer seinen letzten Roman "Mein Leben als Zwerg" (2006) ein, der - aus der Perspektive des Lieblingsspielzeugs des Sohnes - eine Fortsetzung seiner beiden "Familien"-Romane "Der Geliebte der Mutter" (2000) und "Das Buch des Vaters" (2004) bildete und uns gleichzeitig einzelne Facetten des Autors präsentierte: den ernsten nachdenklichen Schriftsteller und den märchenhaften Fabulierer.
Urs Widmer gehört zu den wenigen zeitgenössischen Schriftstellern, für die Humor und Tiefsinn keinen unüberbrückbaren Gegensatz darstellen. Moderne Märchen, bizarre Theaterstücke, sprachartistische Hörspiele und kunterbunte Erzählwerke hat der in Zürich lebende Autor in den letzten 40 Jahren vorgelegt - stets darauf bedacht, die Waage zu halten zwischen "Aufklärung" und anspruchsvoller Unterhaltung.
"Ich lebe seit 1968 von dem, was ich schreibe. Das muss mir zunächst einmal einer nachmachen, das ist realistisches Schreiben. Am Anfang hatten wir null Geld. Aber ich kann mich an keine Sekunde des Leidens, an keine Armut erinnern", erklärte Widmer, der vor 70 Jahren als Sohn eines Gymnasiallehrers, Übersetzers und Literaturkritikers in Basel geboren wurde. Als er 1968 mit seiner Erzählung "Alois" debütierte, hatte er sein Studium mit der Promotion abgeschlossen und arbeitete als Verlagslektor bei Suhrkamp. 17 Jahre lebte er in Frankfurt, ehe er 1984 wieder in die Schweiz zurückkehrte.
Urs Widmer, der sich ausgiebig mit Vladimir Nabokov und Joseph Conrad beschäftigt hat, beherrscht die gesamte Bandbreite der literarischen Genres und betreibt ein amüsantes Verwirrspiel mit den künstlerischen Formen. In den Erzählwerken "Der blaue Siphon" (1992) "Liebesbrief für Mary" (1993), und "Im Kongo" (1996,wie alle Werke bei Diogenes erschienen) dominiert eine eigenwillige Mischung aus surrealistischen Sequenzen und knallhartem Realismus. Mit den wechselnden Schauplätzen (Australien, Zürich, Kongo) changiert auch Widmers Erzählduktus. Je exotischer das beschriebene Ambiente, umso farbenfroher, ausdrucksstärker und vitaler wird die Sprache, die in einigen Passagen beinahe expressionistische Sphären tangiert.
Trotz seiner formalen Verspieltheit ist Widmer, der sich auch erfolgreich als literarischer Übersetzer betätigte, niemals ein Elfenbeinturm-Poet gewesen. Sein erfolgreichstes Theaterstück "Top Dogs", für das er 1997 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, ist das Ergebnis einer intensiven Recherche in Managementkreisen. In nur drei Monaten hat Widmer dieses Stück, das auf über 40 Bühnen gespielt wurde (und noch gespielt wird), in Zusammenarbeit mit dem damaligen Züricher Theaterintendanten Volker Hesse fertig gestellt.
Ob in dem skurrilen Geschichtenband "Vor uns die Sintflut" (1998), im weniger geglückten Theaterstück "Bankgeheimnisse" (2001 in Zürich uraufgeführt), im Essayband "Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück" (2002) oder in seinen diversen Zeitungskolumnen: Urs Widmer, der im letzten Jahr mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet wurde, ist ein präziser Beobachter des Alltags, ein feinsinniger Analytiker, der vehement gegen das "Paradies des Vergessens" (so hieß eine 1990 erschienene Erzählung) anschreibt.
"Es gibt keine Kunst ohne eine Moral. Ich will an dieser Welt teilnehmen, und ich nehme, wie die Dinge so liegen, leidend an ihr teil. Mein Lachen ist zur einen Hälfte Utopie und zur anderen Hälfte der verzweifelte Versuch, die Schrecken auszuhalten", erklärte Widmer einmal in einem Interview.
"Kann man denn nicht lachend auch sehr ernsthaft sein?", heißt es in Lessings "Minna von Barnhelm". Urs Widmer - mal spottender Harlekin, mal weiser Prophet, hat dies geschafft.