Postkoloniale Studien in der Germanistik – Periodisierung und Perspektiven

Zur Einführung

Von Gabriele DürbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Dürbeck

Die folgenden Ausführungen im „Schwerpunkt Postcolonial Studies“ von literaturkritik.de periodisieren die Postkolonialen Studien in der Germanistik mit dem Ziel, das Feld in historischer und konzeptioneller Hinsicht zu gliedern. In künftigen Studien soll die spezifische Leistungsfähigkeit postkolonialer Analysekonzepte innerhalb der germanistischen Literatur- und Kulturwissenschaft gezeigt, theoretisch reflektiert und auf weitere Bereiche anwendet werden.

Zur Ausgangssituation: Mit dem Begriff Postkoloniale Studien wird sowohl ein theoretischer Ansatz, ein Forschungsfeld, wie auch ein Theoriediskurs in den Literatur- und Kulturwissenschaften oder ein Lektüremodell bezeichnet. Wesentliche Ausgangsüberlegungen wurden von Edward W. Said, Homi Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak formuliert. Theoretische Leitkategorien und Analysekonzepte wie ,Orientalismus‘, ,kontrapunktische Lektüre‘, ,Writing Back‘/,Rewriting‘, ,Hybridität‘, ,Third space‘, ,Mimikry‘ und ,Remapping‘ wurden in den letzten zwei Jahrzehnten umfassend diskutiert. Postkoloniale Studien sind mittlerweile ein fester Bestandteil in Studiengängen und Schwerpunktprogrammen angloamerikanischer Universitäten und sind in diversen Readern (Williams/Chrismann 1990; Ashcroft/Griffith/Tiffin 1995 und anderen) und der „Encyclopedia of Postcolonial Studies“ (2001) kanonisiert.

In der Germanistik haben sich Postkoloniale Studien erst später etabliert. Sie erhielten ihre wichtigsten Anstöße vor etwa zehn Jahren aus der amerikanischen Germanistik und entwickeln sich seitdem dynamisch und stetig, indem sie – vor dem Hintergrund einer stärker hermeneutisch und diskursanalytisch ausgerichteten Theorietradition – ein eigenständiges Forschungsdesign herausbilden. Allerdings haben sich bislang keinen eigenen Studiengänge etabliert, auch wenn es Interdisziplinäre Forschungszentren wie das „Centrum für Postcolonial und Gender Studies“ (CePoG) an der Universität Trier gibt. Außerdem sind in den letzten Jahren zahlreiche Sammel- und Tagungsbände zum Postkolonialismus in der deutschen Literatur und Kultur erschienen, die einen Dialog mit der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft suchen. Weiterhin ist zu beobachten, dass sich vor allem in den letzten fünf Jahren von postkolonialen Leitkategorien ausgehende Studien zur (kanonischen) deutschsprachigen Literatur und deren Repräsentationen des Fremden signifikant diversifiziert haben. Wenn man diese Entwicklung wissenschaftshistorisch betrachtet, lassen sich im Wesentlichen drei Phasen Postkolonialer Studien in der Germanistik unterscheiden: Kultur- und Herrschaftskritik, ästhetisch erweiterte Perspektive sowie Ausweitung und Ausdifferenzierung.

Die erste Phase ist stark politisch geprägt und zielt auf eine umfassende Kultur- und Herrschaftskritik, wobei vom Kolonialismus als einem hegemonialen Herrschaftsdiskurs westlicher Nationen ausgegangen wird. Ein Meilenstein stellt Susanne Zantops (1997) Übertragung von Saids Orientalismus-These auf den deutschen Kolonialismus dar, dessen Ursprünge als ,intellektuelle Antizipation‘ des tatsächlichen deutschen Kolonialreiches die Autorin auf die Zeit um 1770 vordatiert. Eine Fortsetzung hat dieser Ansatzpunkt in dem von Zantop mitherausgegebenen, breit rezipierten Sammelband „The Imperialist Imagination. German Colonialism and its Legacy“ (1998) erfahren. Russel Berman hingegen diagnostiziert für die präkoloniale Epoche bei den Deutschen Toleranz gegenüber dem Fremden, die sich aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgelöst habe. Zum Beleg kontrastiert er Georg Forsters „emancipatory reason“ mit James Cooks „instrumental rationality“, wobei nur letztere dem Kolonialismus zuarbeite.

Als repräsentativ für die zweite Phase in der Forschungsentwicklung können die Studien von Paul Michael Lützeler (1997, 1998, 2005) zur Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur gelten. Lützeler argumentiert, dass die Gewaltgeschichte kein Sonderthema der „Dritten Welt“ sei, sondern der ,postkoloniale Blick‘ auch auf die deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte zu fruchtbaren Einsichten führe. Er stellt eine Doppelfunktion des ,postkolonialen Blicks‘, nämlich ,Selbstreflexivität‘ und ,Polyphonie‘ heraus und lenkt damit das Augenmerk auf die ästhetischen Verfahren in den Texten.

Eine ästhetisch erweiterte Perspektive favorisiert auch Herbert Uerlings (1997, 2001), indem er für eine auf die Poetizität konzentrierte Analyse der literarischen Verfahren in der Darstellung von Alterität eintritt. Damit hat er eine theoretische Reflexion auf die spezifisch germanistische Anwendung der Postkolonialen Studien eingeleitet, für die eine Verbindung hermeneutischer und (post)strukturalistischer Verfahren detaillierter Textanalyse mit Methoden der Diskursanalyse bestimmend ist. Dies wird für eine Re-Lektüre vornehmlich kanonischer Literatur genutzt und hat mittlerweile nicht nur eine Reihe innovativer ,kontrapunktischer Lektüren‘ (Dunker 2008) angeregt. Darüber hinaus sind postkoloniale Fragestellungen auch auf Konferenzen etwa zu Theodor Fontane (Ehlich 2000) oder Gustav Freytag (Krobb 2005) diskutiert worden und haben neue Perspektiven auf kanonische Autoren eröffnet – eine Entwicklung, die andauert und noch viele Einzelergebnisse erwarten lässt.

Etwa seit dem Jahr 2002 differenziert sich das Forschungsfeld aus. Es werden neue Arbeitsfelder des Postkolonialismus konfiguriert, wobei sich mehrere Tendenzen unterscheiden lassen. Neben einer Vielzahl von Beiträgen zu einzelnen kanonischen Autoren stehen

- postkoloniale Studien, die sich auf die Literatur und Kultur einzelner – meist außereuropäischer – Länder beziehen. Diese Studien, die in der Regel zugleich diskursanalytisch und hermeneutisch fundiert sind, stehen im Kontext von Exotismus- und Reiseliteraturforschung. Dabei ist ein großes Interesse sowohl am Orientalismus (Polaschegg 2005 und andere) als auch an Studien zum Afrika-Diskurs (Fiedler 2005, Struck 2008 und andere) zu beobachten, während Forschungen zur deutschsprachigen (semi-)fiktionalen Literatur über geografische Gebiete wie Südamerika (Holdenried 2004) oder den Südpazifik (Dürbeck 2007) noch vereinzelt sind.

- Forschungen zu ,Kolonialismus als Kultur‘ mit dem Ziel einer auch in Deutschland zu vollziehenden Dekolonialisierung (vergleiche etwa Honold/Scherpe 2004). Die interdisziplinär angelegte Rekonstruktion von Kolonialismus als Kultur bezieht sich nicht nur auf bekannte und durch (post-)koloniale Fragestellungen neu zu erschließende Texte der Literaturgeschichte, sondern gleichermaßen auf andere Medien, Zeitschriften, Museen oder materielle Güter wie Kolonialwaren, welche im Sinne des Konzepts von Kultur als Text (Bachmann-Medick) gelesen werden.

- stärker theoretisch ausgerichtete Studien wie etwa der Ansatz einer ,intrakulturellen Hybridität‘ bei Jochen Dubiel (2007). Dieser schlägt in Erweiterung von Lützelers Konzept des postkolonialen Blicks ein systematisches Modell des Dritten als ästhetisches Verfahren vor, das die Alterität im Fremden als Projektion des Eigenen erkennt, sich „nomadisierend“ immer wieder in Frage stellt und sich damit für eine (An-)Erkennung des Fremden öffnet.

- postkoloniale Studien, welche Migrationsliteratur im Kontext von Multikulturalismus und Globalisierung erforschen. Dabei wird einerseits die interkulturelle Dimension deutschsprachiger Literatur erschlossen, beispielweise durch die Analyse der symbolischen Konstruktion kultureller Alterität im Zusammenhang globaler Machtbeziehungen und in kritischer Auseinandersetzung mit ,Ausländerfeindlichkeit‘ und Rassismus (Göttsche). Andererseits werden Anschlussmöglichkeiten an die rezente Migrations- und Globalisierungsforschung mit der Frage gesucht, ob diese auf eine breiter angelegte Theorie der Transkulturalität zu beziehen sei (Hans Jörg Bay).

Mit diesen Tendenzen konstituieren die Postkolonialen Studien ein vitales und facettenreiches Forschungsfeld innerhalb der Germanistik, das nicht nur durch punktuelle Ereignisse oder vereinzelte Adaptionen charakterisiert ist. Es bleibt abzuwarten, ob man in Zukunft von einem ,postcolonial turn‘ in der Germanistik wird sprechen können.

Literatur (Auswahl):

Berman, Russell A.: Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Literature. Lincoln, London 1998

Dubiel, Jochen: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld 2007

Dürbeck. Gabriele: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815-1914. Tübingen 2007

Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2008.

Fiedler, Matthias: Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert. Köln 2005

Göttsche, Dirk: Postkolonialismus als Herausforderung und Chance germanistischer Literaturwissenschaft. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart: Metzler 2004 (= Germanistische Symposien, Bd. 26), S. 558-576.

Holdenried, Michaela: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin 2004

Honold, Alexander / Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart, Weimar 2004

Lützeler, Paul Michael: Schriftsteller und ›Dritte Welt‹. Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen 1998

Lützeler, Paul Michael: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik, Bielefeld 2005.

Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin, New York 2005

Struck, Wolfgang: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen 2008

Uerlings, Herbert: Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte. Tübingen 1997

Uerlings, Herbert u.a. (Hg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2001

Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany. Durham/NC, London 1997 [dt. Fassung Berlin 1999].