Bloß nicht zu Hause sein?

Die Herausgeber Hans Richard Brittnacher und Magnus Klaue sowie Winfried Gebhardt und Ronald Hitzler sind in ihren Sammelbänden den Ortlosen auf der Spur

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1957 eroberte Fred Bertelmanns "Lachender Vagabund" die Musiktruhen: "Was ich erlebt hab', / das kann nur ich erleben. / Ich bin ein Vagabund. [...] Meine Welt ist bunt! / Ha-Ha-Ha-Ha-Ha!" Im selben Jahr hielt Theodor W. Adorno seine "Rede über Lyrik und Gesellschaft", in der er Eduard Mörikes Gedicht "Auf einer Wanderung" rühmte, weil es nicht das philiströse "Glück im Winkel" feiere, sondern das Transitorische, die konstitutive Flüchtigkeit des Augenblicks der Versöhnung vorstelle. Erich Dombrowski wunderte sich seinerzeit in der "FAZ" über das Ende des Spazierengehens und den Beginn der bundesrepublikanischen Begeisterung für PKW-Ausflüge. Eine die Milieugrenzen überflutende Welle der Wertschätzung des Fremden und des Unterwegsseins in der doch so muffigen Adenauerzeit also.

Ein halbes Jahrhundert später erscheinen nun zwei Sammelbände, in denen sich teils etablierte, teils sich etablierende Wissenschaftler dem Reiz der Ortsungebundenheit überlassen: "Das ästhetische Bild des besitz- und ruhelosen Vagabunden erinnert an das uneingelöste Versprechen von Emanzipation, individueller Freiheit und ungeschmälertem sinnlichen Glück, das die bürgerliche Lebensrealität den Zeitgenossen immer konsequenter versagt", meinen Hans Richard Brittnacher und Magnus Klaue in ihrem Vorwort, das den Leser, den angesichts des "Glücksverprechen[s] des Nomadentums" Identifikationsgelüste befallen, allerdings zugleich über Kosten und Risiken des Sichherumtreibens unterrichtet: "Anders als der Flaneur, dessen Kultus ästhetischer Distanz ihn in die Nähe zum Dandy rückt, sympathisiert der Vagabund nicht einfach nur mit dem Lumpenproletariat, sondern ist selbst bis ins Innerste geprägt von den Erfahrungen des Weltverlusts, der Ich-Dissoziation und Marginalisierung." Bekanntlich gehöre es gemäß einem Diktum der "Minima Moralia" Adornos "zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein".

Während Winfried Gebhardt und Ronald Hitzler in ihrem Band als Soziologen an "typologischen Explorationen zu Wissensformen und Denkstilen der Gegenwart" gelegen ist, sehen die Literaturwissenschaftler Brittnacher und Klaue die Intention ihres Buches darin, "Vagabondage vor allem als ästhetisches und poetologisches Phänomen zu fassen". Gleichwohl sei ein Zusammenhang zwischen Dichtung und Biografie unabweisbar. Hatten doch "die meisten verhandelten Autoren auch in ihrem Leben den desperaten Zwiespalt der vagabundischen Existenz erfahren [...], den ihre Texte austragen".

Im einzelnen handelt es sich bei den literaturwissenschaftlich untersuchten Quellen um Schriften so unterschiedlicher Autoren wie Charles Baudelaire, Georg Simmel, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Franz Hessel, Friedrich Glauser, Walter Serner, Ernst Jünger, Franz Kafka, Robert Walser, Else Lasker-Schüler, Joseph Roth, Klabund, Joachim Ringelnatz, Arno Schmidt, Thomas Bernhard, Peter Handke, Herta Müller, Peter Kurzeck, Undine Gruenter und Christian Kracht.

Nun kann man den Beiträgen des bei Böhlau nüchtern und schnörkellos verlegten Buches Pedanterie im Terminologischen oder Typologischen gewiss nicht nachsagen. Wanderer, Entwurzelte, Flaneure, Spaziergänger, Streuner, Verjagte und Verfolgte - alles, was irgend sich von der Stelle rührt, figuriert als Phänomen des ortlosen Unterwegsseins. Eifrig fahnden die Autoren nach Personen, Texten, Tropen und vor allem natürlich Signifikanten im Zustand der (post)modernen Bewegungsunruhe und werden - von Baudelaire bis Bernhard und von Kafka bis Kracht - fündig: sei es (nachzulesen bei Uta Beiküfner), dass Franz Hessel in den 1920er-Jahren Berlin durchstreift, um "Heimatkunde" zu betreiben, das heißt das Vergangene und Vergehende dem Gegenwartssinn zu bewahren; sei es, dass die Lumpen und Ganoven des ewig flüchtigen Walter Serner in neusachlicher Kälte der "kleinbürgerlichen Moral" der Gefühlsliebe die frivole Freiheit des One-night-Stands entgegenstellen, wie Brittnacher mitteilt.

Gern lassen wir uns davon überzeugen, dass die aus der Lebensnot geborenen Gelegenheits- und Gebrauchsreimereien des gelernten Matrosen Ringelnatz "in ihrer Vorliebe für das Ephemere und Vorläufige nicht nur dem Paradigma des auf Dauerhaftigkeit angelegten geschlossenen Werks widersprechen, sondern auch die damit verbundene Disjunktion von Kunst und Ökonomie immer wieder unterlaufen". Auch ist nicht zu bestreiten, dass Kontingenzen mitunter fatale Folgen zeitigen, doch Thomas Wegmanns Überlegung, der Vater des Kuttel Daddeldu habe deshalb so akrobatisch und artistisch gedichtet, weil sein Gesicht ein zirkusreifes Profil hatte, ist womöglich doch ein bisschen weit hergeholt.

Indessen geht es bei Brittnacher und Klaue in der Regel nur gedämpft heiter zu. Zumeist scheint es, als folgten die Beiträger mit angestrengter Ernsthaftigkeit dem strengen Plan, die zur Verhandlung stehenden Schriftsteller und deren Texte mit der Absicht der Erzwingung von Nichtidentität aufs Prokrustesbett ihrer Deutungskunst zu spannen. Da stört es die Herausgeber etwa herzlich wenig, dass Robert Walser "die letzten, literarisch produktiven Jahre" (sic!) in Waldau ein geradezu pathologisch geregeltes und stationäres Insassenleben führte. Nein, er muss uns partout als "rastlos spazierender Patient" entgegenkommen.

Walter Benjamin ist in Sachen Flaneur fraglos die modernitätsgeschichtliche Instanz katexochen; doch wie Harald Neumeyer schon 1999 in seinem Beitrag "Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne" dargelegt hat, war seine Argumentation alles andere als konsistent. Insofern mag es angehen, wenn Annette Simonis, die - nebenher gesagt - im ersten Beitrag des Sammelbandes sowohl Georg Simmels soziologische Fundamentalkategorie der Wechselwirkung und seinen Kulturbegriff als auch Baudelaires Idee der Inhärenz des Ewigen im Momentanen gründlichst missversteht, die Unabgeschlossenheit des "Passagenwerks" in die Nähe des "wilden Denkens" (Bricolage) à la Lévi-Strauss rückt.

"Sensuelle Einfühlung und Phantasie" sind laut Ulrike Weymanns Interpretation von Peter Handkes "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" sehr wichtig. Denn: "Die Frau" ist in diesem langen Roman aus dem Jahr 2002 "letzten Endes auf der Suche nach sich selbst". Weymann postuliert daher in feinfühliger und feingeistiger Konkordanz mit Handke: "Das Wandern durch die Natur sensibilisiert". Schließlich "möchte Handke eine abweichende Sicht auf die Dinge ermöglichen". Beachtenswert findet Weymann den Versuch Handkes, "einen vorurteilsfreien Blick auf die ihn umgebende Welt zu werfen". Dass allerdings jemand wie - laut Weymann - Handke "die ganzheitliche Wahrnehmung" zum poetologischen Programm erhebt und überdies der welterkundenden Hauptfigur "Einheit und Harmonie zuteil" werden lässt, das kann wiederum kaum auf Beifall von seiten der poststrukturalistisch-dekonstruktivistisch Orientierten spekulieren.

Diese Fraktion bevorzugt - so etwa Mireille Tabah in ihrer Thomas-Bernhard-Analyse - eher das Scheitern und das Misslingen im Vollzug des Unterwegsseins: "Bernhards Protagonisten sind Vagabunden aus Verzweiflung, und vergeblich ist ihr unruhiges Umherziehen. Die Regeneration ihres Körpers und ihres Denkens, die sie sich von ihren Wanderungen erhoffen, gelingt ihnen immer nur vorläufig und endet stets in einer noch 'größere[n] Deprimation'." "Der Wahnsinn oder der Tod", kommentiert Tabah, "sind die einzige Erlösung aus dem Teufelskreis, in dem Bernhards Gestalten sich scheinbar bewegen." Recht gelesen, gebe sich das vagabundierende Denken dieses Autors als karnevaleske Kritik an der Hegemonie des männlichen, des "(phal)logozentrischen Diskurses" zu erkennen.

Und auch Norbert Otto Eke (über Herta Müller) und Wiebke Amthor (über Undine Gruenter) schätzen an ihrer jeweiligen Autorin die Verneinung eines einheitlichen Lebenssinns, das Dezentrierte, das Deviante, das Pendeln als Lebensprinzip, das Heterogene, das Fremde, die Wandlungsfähigkeit, das Ephemere, die Unterwanderung der majoritären Diskurse, das herumzigeunernde Nachtleben, das Subversive, die ziellose Offenheit, die Grenzzustände, die Zwischenreiche, das Lösen von Bindungen, das Vage, das Anexakte et cetera - und stützen sich dabei primär auf die Bestimmungen des dezidiert "Nomadischen", wie sie es in etwa bei Gilles Deleuze und Félix Guattari (vornehmlich in "Tausend Plateaus") finden.

Gewiss: Auch ein Mann wie Ernst Jünger (untersucht von Phuong Duong) zelebrierte das grenzenüberschreitende Abenteuer; und der vagierende Ulrich von Hutten (vorgestellt von Christian von Zimmermann) galt den Nazis als eine vorbildliche Gestalt des Deutschtums, so dass man Arno Schmidt, dem Jan Süselbeck eine "ambivalente Faszination für das moderne Vagabundentum" attestiert, durchaus auch verstehen kann, wenn er den 75jährigen William T. Kolderup aus der "Schule der Atheisten" brummen lässt: "In allen Verhältnissen bin ich für Beständigkeit: 'Nomadentum'? steht nach meiner Ansicht allem Guten im Wege".

Dass auch die Herausgeber des Aufsatzbandes des VS-Verlags für Sozialwissenschaften der inzwischen allüberall propagierten Vorherrschaft progredierender Vagabundisierung der Menschheit mit, wenn nicht Unbehagen, so doch mit distanzierter Skepsis begegnen, ließe sich vermuten, wenn man in ihrem Vorwort (zusammen mit Bernt Schnettler) liest: "Nicht nur bei soziologischen, philosophischen oder theologischen Gegenwartsanalytikern, auch in den Kultur- und Medienwissenschaften (hier ganz besonders), in den Feuilletons der großen Zeitungen und in den Selbstzeugnissen eines sich immer noch als Avantgarde definierenden Kunst- und Kulturbetriebs wimmelt es nur so von - einmal eher negativ, einmal eher positiv konnotierten - Adjektiven wie 'fluide', 'hybrid', 'multipel', 'optional', 'flexibel' usw., um sowohl den Zustand gesellschaftlicher Organisation als auch die Befindlichkeit des post-, spät- oder reflexivmodernen Subjekts angemessen zu charakterisieren. 'Hybride Subjekte', 'Existenzbastler', 'sinnsuchende Chamäleons', 'Grenzgänger' und 'multiple Identitäten' bevölkern eine sich zunehmend 'individualisierende' und 'verszenende' Gegenwartsgesellschaft. In Kultur und Religion dominieren das 'cultural hacking', das 'cross-over', die 'bricolage' und der 'Synkretismus' den Diskurs."

Jedoch wird man von der Lektüre der fünfzehn zumeist wissenssoziologisch ausgerichteten Beiträge bald eines Besseren belehrt: Auch die hier vorgenommene Untersuchung der "Wissensformen und Denkstile der Gegenwart" liefert mit akademischem Ernst die solide Diagnose, dass offenbar nichts in unserer heutigen Welt an seinem angestammten Platz zu bleiben geruht. Denn auf der Jahrestagung 2005 der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau, auf die der Band von Gebhardt und Hitzler hauptsächlich zurückgeht, fand man in sämtlichen Sphären unseres Daseins die Präsenz des Flüchtigen und Nichtidentischen: "Unstete Intellektuelle" (1. Abteilung), "Multiple Identitäten" (2. Abteilung), "Verwischende Grenzen" (3. Abteilung), "Mediale Schau-Spiele" (4. Abteilung) und "Sinn-Sucher" (5. Abteilung).

Die ganze Veranstaltung verdankte, so das Vorwort, dem "berühmten Essay" "Flaneure, Spieler und Touristen" von Zygmunt Bauman wesentliche Anregungen, der - so zitiert ihn Jo Reichertz in seinem Beitrag über die Frage nach Aufrichtigkeit und personaler Authentizität in Zeiten ubiquitärer Uneigentlichkeit - 1994 dekretiert hatte: "Moderne ist die Unmöglichkeit, an Ort und Stelle auszuharren. Modern sein bedeutet in Bewegung sein".

In Bewegung ist, folgt man der letzten und sinnschwersten Abteilung: dem Block über religiöse "Sinn-Sucher", durchaus nicht nur Hape Kerkeling. Vielmehr changieren die Leute heutzutage generell zwischen dem religiös Vorgegebenen und dem individuell zu Erkundenden; sind, wie Winfried Gebhardt pointiert, als Wanderer "hin- und hergerissen zwischen moderner 'Zielstrebigkeit' und postmoderner 'Beliebigkeit'". Charakteristisch für den Idealtypus des wandernden Sinnsuchers ist eine Äußerung wie jene: "Du hast die Freiheit, du darfst deinen Lebensweg gehen. Und du musst nicht das Alte übernehmen, was die Alten jetzt sagen, nur das gilt. Finde für dich heraus, was für dich wichtig ist, und was für dich gilt." Und - der Lebenserfahrene hätte ohnehin darauf gewettet - es handelt sich laut Martin Engelbrechts empiriegestützter Erkenntnis "mehrheitlich um Frauen", die unruhig auf dem Weg sind, "z.B. zu finden was 'gut tut', oder was einen 'weiterbringt'".

Für das Problem der vagabundierenden Weiblichkeit ist in diesem Band an erster Stelle Paula-Irene Villa ("Fremd sein - schlau sein? Soziologische Überlegungen zur Nomadin") zuständig. Sie beruft sich mit einiger Emphase auf das feministische Konstrukt der Nomadin, wie es vor ein paar Jahren "von der kosmopolitischen Philosophin Rosi Braidotti in gut (de)konstruktivistischer Manier ebenso gesichtet wie entworfen" wurde. Als Vorläuferinnen nennt Villa programmgemäß Hedwig Dohm, Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer und Judith Butler.

Mit der Existenzform der Nomadin sind, so Villa, die Intentionen der großen Frauenrechtlerinnen Wirklichkeit geworden; bedeuteten nicht einst Heim und Heimat Fixierung und Einschnürung? Tempora mutantur! - Noch vor einer Dekade meinte der englische Althistoriker James N. Davidson ("Kurtisanen und Meeresfrüchte"): "Ein ungeschütztes Dasein und ein nomadisches Leben sind nicht der Stoff, aus dem Denkmäler geformt werden", und dachte dabei an die vielen anonymen, vergessenen Straßenhuren des antiken Athens, die man mit Spitznamen wie "Läuferin" (dromas) oder "Herumlungerin/Vagabundin" (peripolas) diskriminierte. Im Jahr 2008 fordert das EU-Parlament nun die endgültige Verbannung der Hausfrau aus der Werbung.


Titelbild

Winfried Gebhardt / Ronald Hitzler (Hg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006.
269 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3531150413
ISBN-13: 9783531150413

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Titelbild

Hans Richard Brittnacher / Magnus Klaue (Hg.): Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
305 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783412200855

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