Wenn der Strom ausfällt

Michael Tietz’ utopischer Roman „Rattentanz“ entfaltet ein Endzeitszenario im südlichen Schwarzwald

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über achthundert Seiten sind für einen Roman recht viel, vor allem wenn es sich um einen Debütroman handelt. Man darf also durchaus skeptisch sein. Das Eingangszenario ist relativ einfach und übersichtlich. Der Strom fällt aus und der Leser findet sich mit ungefähr einem Dutzend Protagonisten im südlichen Schwarzwald wieder: „Mit dem letzten Ton des Zeitzeichens schaltete eine unsichtbare Hand am Morgen dieses 23. Mai das Radio ab.“ Um sieben Uhr morgens hört das Leben, wie man es bisher kannte, auf.

Michael Tietz schildert die Chronologie der Katastrophe minutiös, protokolliert die Veränderungen der Menschen und ihrer Umwelt. Seine Stärke ist die detaillierte Beschreibung der Hauptfiguren, die ihm unter der Hand zu Menschen mit Persönlichkeit und Charakter werden, denen man teilnahmsvoll durch das Buch folgen wird. Mehrere geografisch weit auseinander liegende Handlungsstränge durchziehen das Buch und man erhält relativ schnell den Eindruck, dass die Katastrophe eine globale ist. Dabei ist völlig nebensächlich, ob der Computervirus, der den weltweiten Stromausfall verursachte, ein realistisches Gedankenspiel ist oder nicht. Der Leser wird sofort in den Strudel der Entwicklungen, in den schnellen Zerfall der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Regeln hineingezogen. Plünderungen, Gewalt, Mord, Überfälle, Hunger, Vergewaltigung – alles gehört schon nach wenigen Tagen zu dem neuen Alltag.

Tietz steht mit seiner negativen Utopie in einer Tradition, die er im Buch selbstredend reflektiert: „‚Ich fühle mich wie in einem schlechten Film‘, sagte Bea beim Aufbruch. ‚Oder einem Buch‘, schloss sich Eisele ihren Gedanken an. ‚So wie in Stephen Kings The Stand. Bloß, dass dort die Menschen durch eine Krankheit fast komplett dahingerafft wurden, alle Technik aber weiter ordentlich funktionierte. Bei uns scheint es genau umgekehrt zu sein!“ Dabei muss ganz deutlich gesagt werden: Tietz braucht den Vergleich mit Stephen Kings Roman „The Stand“ nicht zu scheuen, zumal die Fabel von Kings pseudoreligiösen Erklärungshintergründen erfreulicherweise verschont bleibt. Die detailfreudige Beschreibung des „Alltags unter neuen Bedingungen“ ist es denn auch, die den Leser in seiner eigenen Welt abholt und die Reise in die imaginierte Zukunft möglich macht. Offensichtlich kennt sich der Verfasser mit den beschriebenen Lebenswelten genau aus – was der Darstellung und dem Realismus des Werkes sehr zugute kommt.

Ohne die Handlung nachzuerzählen – man lese selber –, kann man mit wenigen Worten Tietz’ „Rattentanz“ beschreiben: Es ist eine den Leser in den Bann ziehende Geschichte, die die Tradition negativer literarischer Utopien würdig weiterschreibt und auch einen Vergleich mit Frank Schätzings „Schwarm“ nicht scheuen muss. Besser kann man Unterhaltung kaum in Szene setzen und literarisch gestalten. Dabei finden sich immer wieder erkenntnisreiche Textstellen im Roman, die zur Ruhe auffordern. So sinniert Thomas, einer der sympathischen Protagonisten, mit leichten psychischen Defekten „ausgestattet“ und ständig von drei inneren Stimmen geplagt, über die Möglichkeit von Kontemplation im Angesicht von lebensbedrohlichen Gefahren: „Stille kann etwas Wundervolles sein, wenn sie beruhigt und vom Ende einer Bedrohung erzählt, wenn sie tröstend Ängste erstickt und sich wie eine Arznei über die geschundene Seele legt. Dann ist Stille der Rettungsanker.“ Bloß, dass die Gefahr zu diesem Zeitpunkt nicht zu Ende ist, sondern erst beginnt – aber auch diese Geschichte sollte man besser selber lesen.

Titelbild

Michael Tietz: Rattentanz. Roman.
Bookspot Verlag, München 2009.
836 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783937357379

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