Heterotopische Konterdiskursivität

Rainer Warning konturiert anhand von Beispielen aus der französischen und deutschen Literatur „Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung“

Von Patrick BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Warning, emeritierter Professor für Romanische Philologie an der LMU München, ist wohl jedem Studenten der Literaturwissenschaft seit den siebziger Jahren als Herausgeber eines kanonischen Bandes zur Rezeptionsästhetik (1975, seitdem mehrfach neu aufgelegt) bekannt. In den 1990er-Jahren hat er eine Reihe von Aufsätzen vorgelegt, in denen er die Foucault’sche Diskursanalyse in spezifischer Weise für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht hat; die theoretische Grundlegung findet sich in dem Text „Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“ (abgedruckt in Warnings Aufsatzsammlung „Die Phantasie der Realisten“ von 1999). Nun ist Warning bei weitem nicht der einzige Literaturwissenschaftler, der auf die Diskursanalyse zurückgreift – der genannte Aufsatz versteht sich auch als eine Art Synthese der bisherigen Rezeption –, die Pointe seines Ansatzes liegt aber darin, dass er literarische Texte nicht einfach diskursanalytisch in den Blick nimmt, sondern Literatur als in besonderer Weise ausgezeichneten Gegendiskurs versteht. (Übrigens fehlt in Achim Geisenhanslükes 2008 unter dem Titel „Gegendiskurse“ vorgelegter Überblicksdarstellung zur literaturwissenschaftlichen Foucault-Rezeption jeder Hinweis auf Warnings Arbeiten, vermutlich sind sie dem Verfasser aufgrund ihrer romanistischen Provenienz entgangen.)

Literatur, so Warning – einen Gedanken Foucaults verallgemeinernd –, ist kein Diskurs unter anderen, sondern genuin konterdiskursiv. Mit dieser Auszeichnung der Literatur als eines Gegendiskurses grenzt Warning sich gegen eine verkürzte diskursanalytische Lektüre ab, die immer Gefahr läuft, den literarischen Text auf sein epistemisches Substrat zu reduzieren. Konterdiskursivität ist nun nicht so zu verstehen, dass Literatur grundsätzlich gegen Diskursformationsregeln verstößt (was ja auch offenkundig falsch ist), sondern meint vielmehr, dass literarische Texte nicht umstandslos einem herrschenden Diskurs zuzuschlagen sind. Sie unterliegen, und das macht für Warning ihre Literarizität aus, einer Dialektik von Diskurseinbettung und Diskursausbettung, das heißt, literarische Gegendiskurse inszenieren die jeweils gesellschaftlich virulenten Diskurse, entgrenzen sie spielerisch oder bestreiten und subvertieren sie sogar.

Auch an anderer Stelle hat Warning auf Foucault zurückgegriffen: Vergleichsweise früh, etwa ab 1990, unter anderem in Zola- und Rilke-Interpretationen, hat er den Begriff der Heterotopie für die Literaturwissenschaft erschlossen, noch bevor dieser – im Zuge des spatial turn – in den Kulturwissenschaften Karriere gemacht hat und unterdessen, analog zum Begriff des Postmodernen, fast zu einem „Passepartoutbegriff“ (Umberto Eco) geworden ist. Heterotopien sind Räume innerhalb des Sozialraums, die die merkwürdige Eigenschaft haben, dass sie die Ordnung dieses Raums abbilden und reproduzieren, sie aber zugleich in Frage stellen und eventuell subvertieren. Unter dem Begriff der Heterotopie subsummiert Foucault ein sehr heterogenes Ensemble von Orten (Park, Kino, Theater, Bibliothek, Gefängnis, Psychiatrie etc.); die Aufzählung ist, auch nach Foucaults Auffassung, keineswegs erschöpfend. Warning hat diesen sozialphilosophischen Begriff nun mit Gewinn auf literarische Topografien angewandt, etwa auf das Paris von Èmile Zola oder Rainer Maria Rilke.

In der jüngst veröffentlichten Studie „Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung“ führt Warning die beiden Linien seiner Foucault-Rezeption zusammen und versucht – in Analysen ausgewählter Werke der französischen und deutschen Literatur – das Spezifische der heterotopischen Konterdiskursivität zu ergründen. Es liegt nahe, Konterdiskursivität und Heterotopie zusammen zu denken; schon Foucault verknüpft die beiden Konzepte implizit in der Einleitung von „Die Ordnung der Dinge“, wenn er hervorhebt, dass die berühmte, von ihm eingangs zitierte Borges’sche Enzyklopädie, ein konterdiskursiver Text par excellence, ihren Ursprung in einem für den westlichen Blick mythisch aufgeladenen Kulturraum hat: Das ,andere Denken‘ ist einem ,anderen Raum‘ korreliert, dem aus okzidentaler Perspektive imaginierten China, einem „großen Reservoir von Utopien“. Den von Foucault auch als ,Gegenorte‘ apostrophierten Heterotopien sind in literarischen Texten Gegendiskurse korreliert; sie sind Schauplätze der Diskursinszenierung.

Diesen Gedanken versucht Warning in seiner Arbeit zu systematisieren und seine Gültigkeit an verschiedenen Beispielen zu erproben. Literarische Heterotopien sind seinem Verständnis nach „Räume ästhetischer Erfahrung“, die entstehen, wenn der „reale Raum“ im Text als „,anderer Raum‘ festgehalten und erfahren [werden] kann“; dies kann in Korrespondenz mit bereits gegebenen Besetzungen dieses Raums durch das „sozial Imaginäre“ geschehen, kann aber auch von diesem unabhängig sein. In diesem Sinne – und hier erweitert Warning den Foucault’schen Heterotopiebegriff – kann im Prinzip jeder Teil des gesellschaftlichen Normalraums, jede Homotopie, im literarischen Text heterotopische Qualitäten bekommen: „Literarische Heterotopien konstituieren sich in solchen Begegnungen von Stimuli des Imaginären mit einem Subjekt, das sich von ihnen affizieren lässt.“

Der von Warning in seiner Studie untersuchte Textkorpus reicht vom achtzehnten Jahrhundert (Rousseaus „Rêveries du promeneur solitaire“) über das neunzehnte (Victor Hugo, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, Zola) bis ins zwanzigste (Marcel Proust, Rilke, Louis-Ferdinand Céline, Thomas Mann, Jacques Réda); untersucht werden Gedichte und Prosatexte. Dramatische Texte sind aber, zumindest deuten das Fußnoten in der Einleitung an, zumindest nicht systematisch ausgenommen. Der Schwerpunkt liegt, was kaum verwunderlich ist – Warning ist ja Romanist –, auf der französischen Literatur. Einige Kapitel, namentlich die zu Zola und Rilke, beruhen auf früher publizierten Aufsätzen, das führt zu gelegentlichen Redundanzen im Text, die den Lesefluss aber nicht hemmen. In minutiösen Analysen konturiert der Verfasser den heterotopischen Charakter der jeweils verhandelten Räume. Angesichts des Umstandes, dass der Begriff der Heterotopie mittlerweile inflationär und nicht selten unscharf verwendet wird, ist die ausführliche theoretische Fundierung des Konzepts und seine Rückbindung an bis ins Detail gehende Analysen außerordentlich wohltuend. Jedem an Heterotopien interessierten Literatur- und Kulturwissenschaftler sei die nicht immer einfache, aber lohnende Lektüre des Bandes empfohlen.

Titelbild

Rainer Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn ; München 2009.
319 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770547593

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