Die mörderische Macht der Erinnerung

Aller guten Dinge… Andrea Maria Schenkels dritter Roman „Bunker“

Von Holger DauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Dauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es bedarf keiner prophetischen Hochbegabung, um für den neuen Roman von Andrea Maria Schenkel nahezu ungeteilte Publikumsgunst und stolze Verkaufszahlen vorauszusagen. Nach ihren Sensationserfolgen „Tannöd“ und „Kalteis“, für die es in den letzten beiden Jahren Lobeshymnen und Preise am Fließband hagelte – genannt seien der Glauser-Preis, der Deutsche Krimi-Preis und der Corine-Preis –, kann es mit dem dritten Buch eigentlich nicht schief gehen. Das wäre denn auch ebenso verwunderlich wie ungerecht. Denn der Roman ist – mit wenigen Abstrichen – sprachlich und kompositorisch gelungen, fesselnd, spannend, anregend und erregend, kurz: unterhaltsam im besten Sinne. Das liegt sicher auch daran, dass Schenkel mit „Bunker“ neue Wege geht. Während die beiden ersten Romane auf kriminalhistorisch verbürgtem Fundament stehen – „Tannöd“ und „Kalteis“ basieren auf tatsächlichen Verbrechen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Öffentlichkeit in Atem hielten –, schöpft die Autorin diesmal ganz aus ihrer eigenen Vorstellungskraft. Und die ist vielleicht etwas weniger mörderisch, aber nicht minder originell als die realen Vorlagen, deren sie sich bisher bediente.

Die Angestellte einer Autovermietungsfirma wird auf ihrer Arbeitsstelle brutal überfallen. Der Täter hat es auf die Firmenkasse abgesehen, so scheint es. Da die Frau den Schlüssel zum Safe nicht besitzt, verschleppt sie der Mann in einen abgelegenen Bunker mitten im Wald. Dort sperrt er sie ein, versorgt sie notdürftig mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten, schlägt sie immer wieder und überlässt sie weitgehend ihrem Schicksal. In den nächsten Tagen kann sie zweimal fliehen, doch jedes Mal muss sie in ihr Gefängnis zurückkehren, weil sie im dichten Unterholz, im dornigen Gestrüpp, das den Bunker umgibt, die Orientierung verliert, keinen Weg in die Freiheit findet. Die quälend lange Zeit der Isolation ist angefüllt mit Angst- und Panikattacken, mit Todesfurcht und Hoffnungslosigkeit, mit körperlichem und seelischem Schmerz, mit Scham, ohnmächtiger Wut und unsagbarem Ekel und – gegen Ende – mit Gleichgültigkeit, Apathie und geistiger Verwirrung.

Was der Gefangenen aber am meisten zusetzt, sind die ineinanderfließenden Erinnerungsfetzen und Tagtraumsequenzen über den gewaltsamen Tod des ungeliebten Bruders Joachim vor vielen Jahren, die immer wieder unwetterartig ihr Inneres durchfluten. Merkwürdigerweise findet sie im Bunker eine Fotografie von Joachim. Der Peiniger, so die erschreckende Erkenntnis, muss in ihrer Wohnung gewesen sein, wo das Bild seinen Platz auf dem Bücherregal hatte. Und das wiederum bedeutet: Er muss sie schon länger beobachtet, ihre Lebensgewohnheiten ausgekundschaftet haben. Das schließlich könnte heißen, dass es ihm nie um den Tresorschlüssel, um das Geld, sondern von vornherein nur um ihre Person gegangen ist. Könnte der Entführer, so der allmählich reifende Verdacht, ein Bekannter aus früher Jugend sein, einer, der noch eine Rechnung mit ihr zu begleichen hat, eine Rechnung, die er seinerzeit zu Unrecht für den Mord an Joachim, die er für ihre ureigene Schuld zahlen musste?

Was die Entführte nicht weiß, nicht wissen kann: Der, auf den sich die schrecklichen Spekulationen beziehen, wird ebenfalls von düster-schaurigen Vergangenheitsbildern geplagt. Als Kind wurden er und seine Mutter von seinem alkoholkranken Vater immer wieder misshandelt und gedemütigt, die Mutter musste – blutig und besinnungslos geprügelt – tage-, wochenlang eingeschlossen in jenem Bunkerzimmer verbringen, das nun wieder als Zelle, als physischer und psychischer Folterort dient. Die Entführung als zwanghafte Wiederholung kindlicher Schreckenszenarien also? Schenkel lässt das, dankenswerterweise, völlig offen – es gibt auch keinen, der darüber nachvollziehbar spekulieren, der darüber glaubhaft, ‚objektiv‘ psychologisieren könnte. Denn das alles wird aus der Innenperspektive der Figuren geschildert, eine übergeordnete Erzählinstanz fehlt, nur ab und zu schieben sich kurze Textpassagen ins Ganze, die auf das Konto eines neutralen Erzählers zu gehen scheinen – ihre Funktion wird erst gegen Ende des Romans klar, als eine dritte Figur ins Spiel kommt, sie wirken dennoch etwas deplatziert, sind für die eigentliche Handlung entbehrlich und atmosphärisch verzichtbar. Übrigens sind die unterschiedlichen Perspektiven durch drei verschiedene Drucktypen kenntlich gemacht – völlig unnötigerweise: Schenkel macht textlich immer deutlich, wer gerade erzählt, dem Leser muss hier wahrlich nicht auf die Sprünge geholfen werden.

„Bunker“ ist ein bedrückend-beklemmendes Kammerspiel um Schuld und Macht, um Leben und Überleben und um das Erschrecken darüber, das Opfer- und Täterrollen nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind und es wahrscheinlich auch nie waren. Von der ersten Seite an entfaltet der Text eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann. Schenkel erreicht das durch eine beeindruckende inhaltliche und sprachliche Verdichtung, durch eine geschickt entfaltete erzählerische Unmittelbarkeit, durch den – wie schon in „Tannöd“ und „Kalteis“ – bewussten Verzicht auf epische Breite. Der Leser ist ganz dicht dran, erschreckend dicht zuweilen – dank der atemlosen inneren Monologe, dank der extremen Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit, dank eines peniblen, überexakten Sekundenstils, der das Quälende, das Unausweichliche noch potenziert und schließlich zielgenau auf einen Showdown der ganz eigenen Art zusteuert.

Nach dem beispiellosen Erfolg von „Tannöd“ im Jahr 2006 war klar, dass die kommenden Bücher von Andrea Maria Schenkel gnadenlos daran gemessen werden würden. Lob- und Hymnenkredit wird selten gewährt. Für „Kalteis“ musste die Autorin schon einige rüde Seitenhiebe einstecken, obwohl das Buch den Vergleich nicht scheuen musste. Mit „Bunker“ dürfte sie sich allerdings von unterschwelligen Misserfolgserwartungen und unkenrufenden Flop-Propheten emanzipiert haben. Schenkel hat die Messlatte für ihren vierten Roman in der Tat sehr hoch gelegt. Zu fürchten braucht sie diese Höhen freilich nicht – nicht mehr.

Titelbild

Andrea M. Schenkel: Bunker. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2009.
121 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015862

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