Späte Liebe

Über Kathrin Gerlofs Roman „Alle Zeit“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kathrin Gerlof debütierte im vergangenen Jahr mit dem Roman „Teuermanns Schweigen“, in dem Geschichten aus dem wirklichen und gegenwärtigen Leben erzählt werden, wobei ein raffiniertes Spiel mit der Wirklichkeit getrieben wird, das unterhaltend und reflektiert zugleich ist. Ein Thema ihres Debütromans waren die Zynismen unserer von Werbung und Konsum vollgestellten Welt, die vielleicht nur deshalb so gut erzählt werden konnte, weil eine aus dem Osten Deutschlands kommende Autorin einen anderen Blick auf die westliche Konsumgesellschaft hat.

Der Debütroman war beeindruckend, und nun, ein Jahr später liegt mit „Alle Zeit“, wieder im Aufbau Verlag, der zweite Roman von Kathrin Gerlof vor, über den man froh sein kann. Denn er enthält nichts weniger als ganz viel Leben. Leben, von dem wir vielleicht gehört haben, aber von dem die Meisten wohl nichts wissen. Weil wir es uns nicht vorstellen wollen. Denn dieser Roman handelt vom Leben von der Geburt bis zur Demenz und den Tod. Kathrin Gerlof schreibt über vier Frauen, deren Schicksal es ist, dass sie nicht ins Gespräch kommen. Dass sie keine gemeinsame Sprache finden. Und dass sie sich verlieren.

Aus der Sicht der Enkelin Julia kommt in dem Roman „Alle Zeit“ die Urgroßmutter Klara vor, die sie zufällig trifft, aber nicht kennt, weshalb sie sie auch nicht erkennt. Außerdem treten ihre Mutter Elisa und ihre Großmutter Henriette auf, die jedoch auf ihrer Zeitebene nicht mehr leben. Und es gibt die gerade von Julia geborene Svenja. Alle sind auf der Suche: Julia mit den grünen Haaren sucht nach Halt und Orientierung als junge Mutter. Elisa und Henriette suchen nach der Vergangenheit und dort nach dem Grund der Trennung von Klara. Und Klara sucht ihren Verstand, der ihr immer häufiger in der Demenz abhanden kommt. Am Schluss versinkt sie in ihr. Und Elisa und Henriette kommen auf dem Weg zurück in die Vergangenheit im dichten Schneetreiben zu Tode. Alle Zeit bleibt am Schluss des Romans nur Julia mit Svenja.

Kathrin Gerlof erzählt diese Geschichten in drei Handlungssträngen, die sich manchmal fast berühren. Da ist zum einen derjenige aus der Sicht des Mädchens, das gerade Mutter geworden ist. Zum anderen gibt es die Perspektive Klaras, die ihre Demenz und zum letzten Mal in ihrem langen Leben eine Liebe erlebt. Und schließlich wird die Geschichte von Henriette und Elisa erzählt: Elisa ist mit ihrer Mutter Henriette auf dem Weg zu ihrer bis dahin verschwundenen Großmutter Klara. Sie möchte wissen, warum Henriette ihre Mutter Klara verleugnet und alle Verbindungen zu Klara so vollkommen getrennt hat. Henriette versucht Elisa abzuhalten, mit Klara in Verbindung zu kommen, doch Elisa bleibt hartnäckig: „Sie ist meine Großmutter, Julis Urgroßmutter. Ich habe keinen Kampf mit ihr ausgefochten, mich hat sie nicht verletzt und nicht allein gelassen. Ich will nur wissen, wie sie ist und wie sie riecht.“

Auf der Reise zu Klara erzählt Henriette bruchstückhaft von ihrer Mutter Klara: „Klara, ruft Henriette noch aus dem Badezimmer, hatte ihre eigenen Gespenster, was Männer und all das Drumherum anbelangte. […] In der Stadt… war Klara eine bekannte Person. Nomenklatura hat man das damals genannt. Sie gehörte zum eingeweihten Kreis, und als Stalin im März dreiundfünfzig starb, stand sie an seinem Ehrenmal zwei Nächte lang Wache. Vor der dritten Nacht hat sie gesagt, sie könne mich nicht noch einmal allein lassen. Da war ich ja erst elf und fürchtete mich vor der Dunkelheit.“

Und dann erzählt Henriette ihrer Tochter Elisa ihre Geschichte, berichtet ihr, dass sie sich in einen verheirateten Mann verliebt hatte. „Und dann haben sie’s Klara gesteckt. Unsere ganze kleine Welt war ja damals nur ein Dorf. Der Parteisekretär der Schule, in der Thomas arbeitete, erzählte es Klara. Am Ende waren sie alle Denunzianten. Irgendwie. Und Klara, die Verfechterin einer sozialistischen Moral, die katholischer war als die katholische Kirche, stellte mich zur Rede.“

Henriette beichtet ihrer Mutter das Verhältnis und außerdem, dass ihr Geliebter der DDR den Rücken kehren möchte. „Eine Woche später haben sie Thomas abgeholt, ihm den Prozess gemacht und ihn nach Bautzen geschickt. Ins Gefängnis. Für eine ganze Reihe von Jahren. Und sie haben ihm erklärt, dass ich am Ende doch mehr treue Staatsbürgerin als Ehebrecherin gewesen sei.“

Wer nun meint, damit sei der Stab über eine linientreue Genossin gebrochen, unterschätzt den Roman, den Kathrin Gerlof geschrieben hat. Denn fast parallel zu dieser Vergangenheitsbewältigung Henriettes erfahren wir aus der Sicht Klaras ihre Geschichte, die Elisa bündig so zusammenfasst: „Klara, eine Russenhure, eine Rabenmutter, eine Verräterin, eine Denunziantin.“

Diese Klara ist nun in einem Heim untergebracht und hat nur noch wenige Tage, an denen sie bei Verstand ist. In dieser Zeit verliebt sie sich in einen Mitbewohner – einen Juden, dessen ganze Familie während der Zeit des „Dritten Reichs“ ermordet wurde. Die vorsichtige und behutsame Schilderung dieser späten Liebe einer Frau, die langsam den Verstand verliert und sich nur noch gelegentlich an ihren eigenen Erinnerungen festhalten kann, die nicht immer schön sind, ist großartig und beeindruckend. Daneben gibt es die Geschichte des unsicheren Lebens von Julia, die mit ihrer kleinen Tochter bei ihrer Hebamme einziehen kann und so Obhut findet. Aber ob sie sich in dieser Welt wird zurechtfinden können, bleibt offen.
Kathrin Gerlofs Roman „Alle Zeit“ ist ein klug komponiertes, sprachlich makelloses und spannend geschriebenes Buch über eine Vergangenheit, die unsere Gegenwart bestimmt. Es enthält sich vorschneller Urteile. Als Lesende stehen wir diesen großartig erzählten Biografien gegenüber und wissen nicht, wie wir unsere Sympathien oder Antipathien auf die Figuren verteilen sollen. Wer sich darauf einlassen kann, wird dieses Buch mit großem persönlichen Gewinn lesen.

Titelbild

Kathrin Gerlof: Alle Zeit. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2009.
229 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783351027032

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