Unschuldige Täter

Håkan Nessers grandioses Spiel über das Leben, über späte Sinnstiftung und über Schuld

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich gestehe, ich bin kein Freund von Håkan Nesser. Er ist mir eigentlich zu umständlich und seine Texte zu aufgebläht, seine Figuren sind mir zu normal und schlicht zu langweilig, nein, ich bin nicht sein Fan. Aber dieser Krimi hat es verdient, dass man sein Fan wird.

Denn alle Kritikpunkte, die man gegen Nessers Schreibe ins Feld führen kann, treffen immer noch, aber sie wandeln sich von Kritik in Lob. Und das aus gutem Grund, denn Nesser versteht es in „Das zweite Leben des Herrn Roos“, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel punktgenau einzusetzen.

Obwohl jenseits der Schmökergrenze gelandet, ist keine der gut 520 Seiten zu viel. Obwohl Nesser uns in das Leben seiner Verlierergestalten Detail für Detail einführt und sie dadurch erst einmal kein bisschen weniger langweilig wirken, erreicht er es nicht nur, dass man ihm über seine einführenden Seiten hinweg dann ins eigentliche dramatische Zentrum seines Romans folgt. Ganz im Gegenteil, nach kurzer Zeit ist man versucht, ihm vorauszueilen, das Lesetempo zu verschärfen, ohne diese zahlreichen Details aus den Augen verlieren zu wollen, die die Seiten füllen. Das ist großartig und erstaunlich. Und schon dafür gebührt Nesser allergrößte Anerkennung.

Ante Valdemar Roos – der Name ist, zumindest für deutsche Leser, exotisch und verheißungsvoll, der Mann, der ihn trägt, ist jedoch das Gegenteil jeder Verheißung. Roos ist kaufmännischer Leiter einer Thermoskannenfabrik, eine Arbeit, die viel mit Zahlen, ein wenig mit Menschen und rein gar nichts mit Kreativität zu tun hat, zumindest wenn man der landläufigen Ansicht folgt. Und Roos bestätigt diese Ansicht in vollem Umfang.

Der Mann ist nicht nur langweilig, er ist unmöglich. Mit Ende fünfzig verläuft sein Leben in einem trotteligen Einerlei, er fährt zur Arbeit und zurück, er schweigt viel, und wenn er redet, erreicht das schnell jede Peinlichkeitsschwelle, die auch nur überschritten werden kann.

Er führt eine langweilige zweite Ehe mit einer nichtssagenden Frau, die zwei heranwachsende Gören bewältigen muss und sich ebensowenig für ihren Mann interessiert wie er für sie. Beide sind froh, dass es jemanden gibt, auch wenn wenig für jeden von beiden spricht. Das wissen sie und sie geben sich drein.

Bis eines Tages etwas geschieht, was zwar nicht weniger banal ist als das bisherige Leben Roos’, aber alles verändert sich: Roos gewinnt im Toto einen Haufen Geld.

Was aber tut er? Er nimmt das Geld, versteckt es auf einem neuen Konto, überweist sich jeden Monat sein bisheriges Gehalt und kauft außerdem noch ein Holzhaus weit weg von zuhaus, immerhin aber nahe genug, dass er dort seine Tage verbringen kann. Denn in der Firma kündigt er vom einen auf den anderen Tag.

Seit diesem Moment fährt er jeden Morgen zur gewohnten Zeit los, aber nicht in die Firma, sondern in sein neues Haus. Er führt ein merkwürdiges Doppelleben, das aber aus dem wortkargen Einzelgänger einen reflektierten und überlegten Mann macht, der sich über sich und das, was ihm geschieht, im Klaren werden will.

Damit aber nicht genug. Denn eines Tages taucht in der neuen, kleinen Welt Roos’ eine zwanzigjährige Frau auf, die aus einem Resozialisierungsheim für Drogensüchtige geflohen ist und nun eine Bleibe sucht.

Die junge Frau mit Namen Anna Gabowska, die schon an ihrem Ende angekommen zu sein scheint, und der ältere Mann, der ein verpfuschtes Leben zu einem angenehmen Ende führen will, freunden sich auf eine ruhige und freundliche Art miteinander an.

Anna ist die Tochter, die Valdemar nie hatte, und die mit ihrer ruhigen Art und mit den Songs, die sie ihm vorspielt und singt, eine Saite anspielt, die vor ihr niemand auch nur berührt hat. Aus dem trostlosen Mann wird ein getrösteter, der zugleich Trost spendet.

Denn Anna braucht ihn nicht weniger als er sie. Die Flucht aus dem Heim ist auch eine Flucht vor den Drogen und vor ihrem ehemaligen Lover, der nicht hergeben will, was er einmal besessen hat.

Womit wir im kriminalen Zentrum des Romans wären: Denn Steffo, so sein Name, taucht irgendwann vor dem Holzhaus auf – und ist kurze Zeit später tot. Erstochen und binnen Minuten verblutet. Anna und Valdemar aber sind ab dem Moment verschwunden, auf der Flucht vor der Polizei und vor dem, was nun folgen mag.

Jetzt erst kommt Inspektor Barbarotti ins Spiel und mit ihm seine Kollegin Eva Backman. Denn sie werden auf die Suche nach dem flüchtigen Mörderpärchen geschickt, dem das gesamte Umfeld schlechte Noten ausstellt, dem alternden Langeweiler, der mit der blutjungen Drogenbraut geflohen ist. Was soll man davon auch halten? Eine Menge, wenn es nach mir geht, zumindest wenn man Håkan Nesser folgen darf. Der Roman ist – gelesen von Dietmar Bär – auch als Hörbuch erhältlich.

Titelbild

Håkan Nesser: Das zweite Leben des Herrn Roos. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Christel Hildebrand.
btb Verlag, München 2009.
525 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783442751723

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