Kulturelle Tour de Force mit Lustgewinn

China scheint auch bei spanischsprechenden Autoren Konjunktur zu haben. Mit viel Humor und Entdeckerfreude setzt sich Ariel Magnus in seiner urkomischen, wortstarken Liebeskomödie „Der Chinese auf dem Fahrrad“ mit den westlichen Vorstellungen auseinander

Von Luitgard KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luitgard Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Argentinien feiert dieses Jahr sein Bicentenario – also 200 Jahre Unabhängigkeit. Der Andenstaat, der mehr ist als Eva Perón, und Diego Maradona, mehr als Tango und Rindfleisch, rückt damit verstärkt ins Rampenlicht des Weltgeschehens. Das Land am Rio de la Plata ist gleichzeitig Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Darüber hinaus zählt die argentinische Literaturszene zu den derzeit lebendigsten Lateinamerikas.

Das Land brachte große Schriftsteller und Poeten hervor. Im 19. Jahrhundert löste sich mit der Unabhängigkeit des Landes die argentinische Literatur von der spanischen – ohne dieses Erbe zu verleugnen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts boomte die lateinamerikanische Literatur geradezu mit der Explosion des Realismus und den phantastischen Erzählungen von Julio Cortázar und Jorge Luis Borges, in denen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion aufgelöst wurden. Ein scherzhafter Ausspruch von Borges bezeichnet die Argentinier als „Italiener, die Spanisch sprechen und gerne Engländer wären, die glauben, in Paris zu leben“. Dadurch kommt die Mischung des Volkes aus Einwanderern verschiedener europäischer Länder zum Ausdruck, diesich in der Kultur deutlich bemerkbar macht.

In Buenos Aires, der Stadt der Einwanderer liegen Bankrott, Scheitern und Utopie schon immer nah beisammen. Gelassenheit ist in der kosmopolitischen Metropole mit seinen 13 Millionen Einwohnern das Grundgefühl der Krise. Not macht erfinderisch, hier mehr als anderswo. Die Königin am Rio de la Plata verzaubert seit jeher die Neuankömmlinge. Refugium bot die Stadt jüdischen Überlebenden aus dem Dritten Reich. Buenos Aires galt aber auch als Endstation der Rattenlinie der Herren Eichmann und Mengele.

Mit dem 35jährigen Romancier Ariel Magnus erlebt der Leser eine rasante Reise in die Schichten und Ränder dieser Metropole, in die Wunderwelt von Chinatown. Die ganze Stadt sucht einen mysteriösen Pyromanen. Genannt Fosforito, das Streichhölzchen. Der Brandstifter, so das Gerücht, flüchtet nach seinen Untaten immer auf einem Fahrrad. Schließlich ist er ja ein Chinese. Der junge Li passt unglücklicherweise genau in dieses Bild. Und so wird er von der Polizei verhaftet. Bei seiner Verhandlung kidnappt der Verzweifelte den Computerfreak Ramiro und entführt ihn ins Chinesenviertel von Buenos Aires. Mehr Gast denn als Geisel lernt der jüdische Porteno dort eine völlig neue Kultur kennen.

Li hält ihn mehrere Wochen im Hinterzimmer eines chinesischen Restaurants fest, damit er ihm hilft, seine Unschuld zu beweisen. Aber ermitteln ist nicht gerade Ramiros Stärke. Der 25jährige Programmierer und Ich-Erzähler tappt völlig im Dunkeln und vertieft sich stattdessen in die Parallelwelt der Immigranten, die ihm zunächst fremd ist. In einer merkwürdigen Abwandlung des Stockholm-Syndroms findet er immer mehr Gefallen an seinen Entführern und ihrer Lebensweise und lernt damit auch seine Heimatstadt neu kennen. Auch wenn er kein Wort versteht. Zwischen den beiden jungen Männern entwickelt sich sogar eine Art Freundschaft. Doch Li verschwindet plötzlich und Ramiro verliebt sich in die attraktive Chinesin Yintai.

Eigentlich wollte der Autor eine journalistische Reportage über Chinesen in Buenos Aires schreiben. Mit dieser Idee stieß er freilich nur auf Ablehnung. „Deswegen habe ich als Revanche gesagt“ verrät der Autor, der deutsch-jüdische Vorfahren hat und in Buenos Aires das deutsche Gymnasium besuchte, „dann schreibe ich meinen Roman.“ Es hat sich gelohnt. Denn dafür erhielt der ehemalige Taz-Kolumnist vor drei Jahren bereits den renommierten kolumbianischen Literaturpreis „La otra orilla“. Die Auszeichnung erhielt er, so Cesár Aira, der argentinische Schriftsteller und Mitglied der Jury, „für eine Liebesgeschichte, in der Abenteuer, Chinesen und die tausend Gesichter der glücklichsten aller argentinischen Leidenschaften – der Freundschaft – sich vermehren.“

Seine temporeiche Tour de Force, angereichert mit Sprachwitz, Slang und sarkastischen Pointen, kulturellen Rätseln und Verschwörungstheorien, unterhält auf jeden Fall, auch wenn die anfängliche Krimigeschichte des Plots schnell in den Hintergrund tritt und sich das Buch letztendlich mehr als Liebeskomödie entpuppt. Virtuos spielt Magnus zudem auf der Klaviatur gängiger Klischees über Argentinier und Chinesen gleichermaßen. Die schnoddrige Erzählweise ist zwar anfangs gewöhnungsbedürftig. Aber mit jedem Kapitel macht gerade diese flapsige Tonart die eigene Faszination der ungezügelten Geschichte aus.

Nur zum Schluss, beim Mythos über die jüdische Halbwelt und der kriminalistischen Auflösung des Brandstiftermotivs, trägt er dann doch ein wenig dick auf. Die Lösung der anscheinend fälschlichen Anklage, der sich Li Fosforito gegenübersieht, besteht nämlich darin, dass jüdische Geschäftsleute sich von der wachsenden Anzahl chinesischer Geschäfte bedroht sehen. Deshalb wollten sie dem Barrio Chino Grenzen setzen, indem sie die Chinesen, wie es dem Vorurteil entspricht, zu Verbrechern stigmatisieren. Li, der sich als Opfer beziehungsweise als chinesischer „Sündenwok“ eines jüdischen Komplotts sieht, diese Passage irritiert schon etwas.

Titelbild

Ariel Magnus: Ein Chinese auf dem Fahrrad. Roman.
Übersetzt aus dem argentinischen Spanisch von Silke Kleemann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
250 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041958

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