Eine Traumwelt voller Geister und Ahnungen

Hiromi Kawakamis Roman „Am Meer ist es wärmer. Eine Liebesgeschichte“ erzählt von einer verlassenen Frau

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kei ist Mitte vierzig, lebt mit ihrer Mutter und ihrer vierzehnjährigen Tochter Momo zusammen und hat einen verheirateten Geliebten, Seiji. Vor zwölf Jahren ist ihr Mann Rei plötzlich verschwunden. Bis heute weiß sie nicht, ob er sich umgebracht hat oder mit einer anderen Frau durchgebrannt ist: Einige Male hatte sie ihn vor seinem Verschwinden mit einer anderen zusammen gesehen, einmal sogar in der Nähe ihres Hauses in einer dunklen Ecke, als Kei noch mal schnell nachts zum Supermarkt musste. War er unglücklich? Und sie?

So richtig glücklich ist sie jetzt jedenfalls mit ihrem Geliebten nicht. Seit ein paar Jahren schon ist sie mit ihm zusammen, kennt ihn genau, seine Eigenarten, sein unhörbares Lachen. Aber vielleicht ist es doch mehr Gewohnheit als Liebe: „Seit wann hatte ich dieses Gefühl des Zerfließens nicht mehr?“ fragt sie sich einmal: „Bei Seiji zerfließe ich nicht.“

Und jetzt wird Kei verfolgt. Immer wieder merkt sie, dass jemand hinter ihr hergeht. Auf der Straße, in der U-Bahn, beim Einkaufen. Es sind aber keine realen Menschen, sondern geisterhafte Erscheinungen, die sich immer wieder verdichten, meistens zu einer Frau ihres Alters. Besonders in dem kleinen Küstenort Manazuru, wo sie manchmal hinfährt, trifft sie sie immer wieder. Redet mit ihr über ihren verschwundenen Mann, hat sogar die Hoffnung, dass sie ihr etwas über ihn erzählen oder sie zu ihm bringen kann. Manazuru – der Ort stand in seinem Tagebuch, ohne weitere Bemerkung. Also fährt sie immer wieder hin, obwohl sie gar nicht genau weiß, warum.

Mit ihrem wunderbaren Liebesroman „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ ist Kawakami hierzulande berühmt geworden. „Am Meer ist es wärmer“ ist auch eine Liebesgeschichte, aber eine der seltsameren Art. Die Ich-Erzählerin ist eine traurige, unsichere, etwas verstörte Frau, die den Leser allmählich in ihre Traumwelt hineinzieht. In eine melancholische Welt voller Erinnerungen an den geliebten Mann, den sie doch eigentlich nicht kannte, mit dem sie ein gemeinsames Leben verpasst hat. Eine Welt voller Visionen von einem untergehenden Schiff oder einem verlassenen Haus, voller Geister und Ahnungen, die Kei und den Leser noch unsicherer machen und bodenloser. Bis sie am Schluss doch wieder in die reale Welt zurückfindet.

Der Roman ist ein vorsichtiges Plädoyer für Menschen, die aus der Welt fallen. Die nicht nur „funktionieren“, sondern sich auch an ihren Träumen und Gesichtern orientieren. Und es ist eine ungewöhnliche Liebeserklärung an einen verschwundenen Mann, der auch im Nachhinein keine deutliche Kontur gewinnt. Das Leben ist geheimnisvoll, scheint Kawakami sagen zu wollen. Das tut dem Roman nicht immer gut, der dann insgesamt doch etwas zu sehr im Vagen verharrt, in einem geisterhaften Zwischenreich. Das nur die Träumer kennen, die Realisten vermissen es nicht einmal.

Titelbild

Hiromi Kawakami: Am Meer ist es wärmer. Eine Liebesgeschichte.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
208 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235533

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