Geschichtsstadt und Metropole der Pop-Moderne
Susanne Ledanff versammelt die literarischen „Hauptstadtphantasien“ der letzten zwanzig Jahre
Von Sabine Berthold
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSusanne Ledanffs materialreiche Studie zu „Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2008“ nähert sich Berlin-Romanen der letzten zwei Jahrzehnte aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln: zum einen untersucht sie die literarische Inszenierung Berlins als „Geschichtsstadt“, zum anderen den „Mythos Berlin“ in der Berlin-Prosa nach der Wende, der sich nicht zuletzt als „medialer Berlinhype“ darstellt. Berlin als Schauplatz historischer und politischer Umbrüche, als ein (Erinnerungs-)ort, in dem Geschichte und Geschichten enggeführt werden, wird ergänzt durch den Blick auf das imaginäre Berlin, die mental maps der Metropole der Moderne und Lebensstilmoderne der Gegenwart. (Kathrin Rögglas Berlin-Roman „Mental Maps“, in dem die Lebensstilmoderne der Großstadt beschrieben wird, widmet Ledanff sogar ein eigenes Kapitel.) Eine postmoderne Lektüre der Großstadt, die die Stadt als Text liest, intendiert Ledanff mit ihrer panoramatischen Studie nicht. Vielmehr möchte sie im Anschluss an de Certeaus Arbeiten (etwa „Gehen in der Stadt“) das „Konzept der subversiven Alltagserfahrung in der zeitgenössischen rationalisierten Urbanität“ als Ansatz verfolgen.
Ausgangspunkt der nach chronologischen Gesichtspunkten strukturierten Arbeit, der über 140 Romane oder Erzählungen (!) als Quelle zugrunde liegen, ist die Prämisse, dass es nach dem Mauerfall im Verlauf von nahezu 20 Jahren zu beachtlichen „Teilrealisierungen“ des Berliner „Metropolenromans“ gekommen ist. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass der nach der Wende viel beschworene Metropolenroman sich als Utopie darstellte, dass sich die Erwartungen an neuartige modernistische Beschreibungsweisen bis hin zum „Paradigmenwechsel in der oft beklagten Metropolenfeindlichkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ nicht erfüllten.
Das Ausbleiben eines Berlin-Romans, der aus der Sicht der Literaturkritik die hohen Erwartungen an literarische und zeitdiagnostische Qualität und die Anschlussfähigkeit an avantgardistische Metropolenästhetik erfüllen konnte, steht im Kontrast zu der großen Anzahl an Berlin-Romanen nach der Wende. Ledanff erklärt die enorme Produktivität, die sich gerade in der Konsolidierungsphase nach der Wende abzeichnete, mit einem großen Dokumentationsdruck, mit dem Bedürfnis nach literarischer Aufarbeitung und autobiografischer Bilanzierung. Man könnte also sagen, dass es sich bei den frühen Berlinromanen nach der Wende um eine Form der Zeugnisliteratur handelte, um autobiografiebasierte Romane vornehmlich von Autoren und Autorinnen aus der ehemaligen DDR.
Die Wende bedeutete zugleich auch eine Umstrukturierung des Literaturbetriebs – dies betraf in erster Linie den Zusammenbruch des Literatursystems der DDR. Die Bewertung der „literarischen Hauptstadtphantasien“ geschieht folgerichtig auch vor dem Hintergrund der Veränderungen im deutschen Literatursystem. Die Studie legt ihrer Betrachtung dabei eine doppelte Perspektive zugrunde und erschließt vergleichend literarische Stadtlektüren in Ost und West. Gerade in der ersten Phase der Berlinliteratur lassen sich „krasse Polarisierungen in den literarischen Stadtlektüren“ von Ost und West feststellen. Diese liegen in den Gegensätzen von überwiegend von ehemaligen DDR-Autoren und -Autorinnen geschriebener Wendeliteratur und westlichen, oftmals ironisch-polemischen Stilisierungen der Erlebniswerte des Nachwendeberlins.
Für die frühere Periode wählt Ledanff die Kategorie des „Ostberliner Wenderomans“ (Romane von Monika Maron, Marion Titze, Brigitte Burmeister, Klaus Schlesinger und andere) und die Kategorie des den Stadtwandel thematisierenden „Berliner Wenderomans“ (Romane wie die von Bodo Morshäuser, Thomas Hettche und Thorsten Becker). Als dritte Kategorie beschreibt sie den in der späteren Phase auftretenden Renouveau des „Berliner Gesellschaftsromans“. Texte dieser späteren Schreibperiode werden zum Teil auch als Berliner Surreapolis charakterisiert – es handelt sich dabei um eine „spielerische, stadtmythologische, teils auch neoexpressionistische Aufladung von Berlindarstellungen, die sich in erster Linie dem neuartigen Popdispositiv in der deutschen Gegenwartsliteratur zu verdanken hat.“ So entfaltet etwa der Autor Georg Klein in „Barbar Rosa“ (2001) eine Semiotik des Visuellen und Stadtmythologischen, in der die Rezeption der amerikanischen Postmoderne eine zentrale Rolle spielt. Zu den Berlin-Romanen dieser letzten Periode zählt zum Beispiel Ulrich Peltzers Roman „Teil der Lösung“ (2007) – ein Metropolenroman in „urbanomaner Schreibtradition“ Eine Besonderheit der jüngeren Berliner Stadt- und Literaturgeschichte stellt das Phänomen des „Atlantis Westberlin“ dar – Romane, in denen in einem nostalgischen Erinnerungsmodus subkulturelle Stadtlegenden der Vorwendezeit thematisiert werden – Beispiele dafür sind Sven Regeners Bestseller „Herr Lehmann“ (2001) und Christoph Geisers „Wenn der Mann im Mond erwacht“ (2008).
Ledanff macht in ihrer Studie einen erfahrungs- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz stark. Gerade in der Berlin-Literatur nach der Wende ließe sich, so Ledanff, von der Erfahrungsgeschichte der Autoren und AutorInnen nicht absehen – die divergenten Deutungsmuster der Berlinfiktionen werden daher auch aus den höchst unterschiedlichen Biografien in Ost und West verständlich. Hier schließt die Studie an die soziologische Generationenforschung an, die untersucht, inwieweit die historischen Umbrüche von 1989 generationsbildend waren beziehungsweise das kulturelle Deutungsmuster Generation zur Beschreibung einer kollektiven Erfahrungsgeschichte genutzt wurde: „Wie in keiner anderen Thematik deutschsprachiger Literatur wird deutlich, wie das Schreiben über Berlin von einem doppelten Oppositionsgeflecht bestimmt ist, ältere versus jüngere Generation einerseits sowie die Ost- und West-Identitäten der Autoren und Autorinnen andererseits.“
Eine dritte Opposition wird von Ledanff identifiziert, nimmt aber einen verhältnismäßig kleinen Raum ein – die der internationalen Berlin-Lektüren aus der Außenperspektive. Yadé Karas Berlin-Fiktion „Selam Berlin“ (2003) ist ein Beispiel für einen doppelten Metropolenblick, für den Blick auf das geteilte Berlin aus der Sicht einer Familie mit Migrationshintergrund. Gerade diese dritte Perspektive ist ein reizvolles Gedankenspiel, da die Ost-West-Problematik – und damit die binäre Opposition unterschiedlicher Erfahrungslagen – hier in einem weiteren Rahmen gesehen wird. Berlin erscheint hier als multikultureller Stadt- und Metropolenraum, in dem sich Globalisierungs- und Regionalisierungsphänomene auf einzigartige Weise überschneiden.
Ledanffs Studie untersucht ein großes Spektrum der Berlin-Literatur seit 1989 und vermittelt durch den chronologischen Zugang einen guten Überblick über Entwicklungsphasen und Zäsuren. Aufgrund des panoramatischen Zugangs nehmen Analysen einzelner Romane allerdings einen vergleichsweise geringen Raum ein. Zwar dominiert der zeitgeschichtliche Zugang des Ansatzes „Berlin als Geschichtsstadt“, dennoch werden auch postmoderne Stadtmythisierungen und die literarische Lebensstilmoderne der Popliteratur berücksichtigt und vor dem Hintergrund der (amerikanischen) Postmodernediskussion analysiert. Der Umbruch der Stadtwahrnehmung nicht nur durch historische Umbrüche (wie den Fall der Mauer), sondern auch durch Medienumbrüche (wie die sozialen Netzwerke des Internet) wird bei Ledanff nur ansatzweise diskutiert. Die Konvergenz von Stadt- und Medienwahrnehmung und das Konzept der virtuellen Stadt spielen gerade für eine jüngere Autorengeneration der „Digital Natives“ eine nicht zu unterschätzende Rolle. In der Metropole der Mediengesellschaft stellt sich die Frage nach realen und medial vermittelten Geschichtserfahrungen in einer neuen Weise – die urbane Lebensstilmoderne könnte damit auch mit einem neuen Geschichtsverständnis einhergehen.
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