Intermaterialität im Expressionismus
Programm und Praxis einer materialen Konvergenz der Künste
Von Christoph Kleinschmidt
Intermateriale Programmatik
„Die inhaltliche Vermischung der Künste“, schreibt Ernst Roth 1925, „scheint ein Brandmal des Expressionismus zu sein“. Was der Musikverleger abwertend meint, stellt in der Tat eines der wesentlichen Kennzeichen einer Kunstbewegung dar, die von circa 1910 an Malerei, Literatur, Musik, Tanz, Theater, Architektur und Film erfasst und alle diese Kunstzweige miteinander in Beziehung bringt. Anders als es Roth einschätzt, weisen viele der Bestrebungen nicht nur eine inhaltliche Vermischung auf, sondern vollziehen eine Konvergenz in den Materialien der Künste. Im Expressionismus findet damit ein Typ der Intermedialität seine Ausprägung, der die Rekurrenz von Künsten und Medien radikalisiert und als Intermaterialität bezeichnet werden kann. Darunter ist die Beziehung zweier oder mehrerer Artefakte oder Zeichengebilde zu verstehen, wenn sie auf materialer Basis interagieren. Dies ist dann der Fall, wenn das Material selbst, seine technischen Voraussetzungen oder die materiale Qualität semiotischer Differenz verhandelt werden.
Voraussetzung für diese Art der Verbindung von Künsten im Expressionismus ist die Entdeckung des Materials im Namen der Abstraktion. Bereits vor dem Expressionismus gibt es immer wieder Versuche zur Kunstkonvergenz. Beispielhaft genannt seien die Begründung der Ekphrasis in der Antike, der Paragonestreit der Renaissance, die Konzeptionen des Gesamtkunstwerks in der Romantik und expressis verbis bei Richard Wagner sowie die kunstübergreifenden Stilisierungstendenzen des Jugendstils um 1900. Allen diesen Bestrebungen liegt zumeist die Absicht zugrunde, durch die Verbindung der Künste eine erhöhte Erlebnisdichte zu erzeugen und die künstlerische Wahrnehmung als eine ganzheitliche zu entfalten. Dies gilt auch für den Expressionismus, für dessen Vertreter die Kunst ohnehin eine „Erlebnisform“ (Yvan Goll) darstellt. Was ihn allerdings von den anderen unterscheidet, ist die radikale Abkehr von der Referenz- und Abbildfunktion der Kunst. In der Präsentation der „reinen“ künstlerischen Materialien – wie Farbe, Form, Klang und Bewegung – und deren Kombination glauben die Expressionisten einen unmittelbaren Zugang zur Kunst etablieren zu können und damit für das so genannte Geistige als eigentlichem esoterischen Ursprung und Ziel der Kunst einen adäquaten Ausdruck zu finden.
Ihre programmatische Begründung erfährt die intermateriale Ästhetik vor allem in Wassily Kandinskys einflussreichem Buch „Über das Geistige in der Kunst“ von 1912, in dem der Maler konstatiert: „nie standen in den letzten Zeiten die Künste, als solche, einander näher als in dieser letzten Stunde der geistigen Wendung.“ Mit der Parenthese „als solche“ zielt Kandinsky auf den abstrakten Materialwert ab, dessen Entdeckung in den Einzelkünsten zwangsläufig zu einem intermaterialen Vergleich führe: „Bewußt oder unbewußt wenden sich allmählich die Künstler hauptsächlich zu ihrem Material, prüfen dasselbe, legen auf die geistige Waage den inneren Wert der Elemente, aus welchen zu schaffen ihre Kunst geeignet ist. Und aus diesem Streben kommt von selbst die natürliche Folge – das Vergleichen der eigenen Elemente mit denen einer anderen Kunst.“ Kandinskys Überlegungen sind eingebunden in ein Gesellschaftsmodell, bei dem die Künstler die Vorreiterrolle für eine Entwicklung übernehmen, an deren Ende ein idealer geistiger Zustand steht. Da dieser im theosophischen Sinne als Ganzheit verstanden wird, leitet sich daraus in Kombination mit einem rezeptionsästhetischen Argument die Vereinigung der Künste ab: Während Sprachreduktion in der Dichtung, abstrakte Malerei und atonale Musik in ihrer Aufwertung des reinen Materialwerts bereits einen direkten Zugang des Wahrnehmenden zu den Formen und Materialien der Künste gewährleisten, jeweils aber nur einen Sinn ansprechen, resultiert aus ihrer Vereinigung eine ganzheitliche Erfahrung von Kunst, die der „kosmischen Einheit“ entsprechen soll.
Eine ähnliche Erklärung für die intermateriale Verbindung von Künsten liefert Lothar Schreyer. Neben der Programmatik Kandinskys stellen dessen umfangreichen, in den Zeitschriftenorganen des Expressionismus publizierten Schriften die wichtigste Begründung einer intermaterialen Ästhetik dar. Schreyer zufolge gibt es „keine Grenzen der Kunst. Es gibt keine Künste, sondern Kunstwerke. Es gibt keinen Materialstil. Es gibt keinen Kunststil, sondern Künstler. Der Machtwille zerreißt die Grenzen der Kunst, der Künste, des Materials durch das Kunstwerk des Künstlers zur Kunst.“ In einer emphatischen Absolutsetzung des Künstlers gibt das Material für den Leiter der Sturmbühne (1919-1921) und der Bauhausbühne (1921-1923) nicht mehr die Behandlungsweise für den Künstler vor, sondern kann von seinem traditionellen Gebrauch entbunden und frei bearbeitet werden. Ähnlich wie Kandinsky will Schreyer dabei die Künste auf ihre Grundformen, -farben, -bewegungen und -töne reduzieren und diese im Kunstgebilde zu einer intermaterialen Einheit arrangieren. In dem für Schreyer typischen Sprachgestus beschwört er in vielen seiner Artikel diese Einheitsvorstellung, die durch die visionäre mystische Schau des (Gesamt-)Künstlers begründet ist. Derartige Vorstellungen beruhen auf einem dualistischen Weltbild, wonach die Welt der Erscheinungen durch eine heterogene Vielfalt gekennzeichnet ist, die im intermaterialen Kunstgebilde ihre Entsprechung und zugleich Überwindung hin zur Welt des Geistigen erfährt: „Jede Kunstgestalt kündet, daß das Viele der gegensätzlichen Kunstmittel eine Einheit finden kann, daß alle Gegensätzlichkeit zu lösen ist“. Aufgrund dieser ambiguen Vorstellung verstehen Kandinsky in seinem theosophischen und Schreyer in seinem mystischen Ansatz die Materialien in ihrer Äußerlichkeit als voneinander unterschieden und die innere Einheit des Kunstgebildes erst im Zusammenwirken realisiert. Beide konzipieren die Überwindung der Kunstgrenzen in der Verwendung und Gerichtetheit der Materialen aufeinander.
Neben dieser esoterischen Fundierung ist der intermateriale Expressionismus durch zwei weitere Begründungszusammenhänge gekennzeichnet: einen rationalen und einen provokativen. In Bezug auf den ersten formuliert bereits 1917 Oskar Walzel seine (wissenschaftliche) Forderung nach einer wechselseitigen Erhellung der Künste auf der Grundlage einer Gestalt- und Materialästhetik, vor allem aber im Spätexpressionismus verschiebt sich das Interesse an einer Konvergenz der Künste hin zu einer Erkundung der Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten von Materialien. Abzulesen ist dieser Prozess an der Entwicklung des Weimarer Bauhauses (1919-1925), an dem zu Beginn zahlreiche Expressionisten – neben Kandinsky und Schreyer Paul Klee und Johannes Itten – als Werkmeister tätig sind, die jedoch mehr und mehr durch konstruktivistisch beeinflusste Künstler ersetzt werden. Schon in der Gründungsphase mischen sich jedoch in die emphatischen Postulate nach einem Gesamtkunstwerk rationale Töne. So ist das Bauhausmanifest (1919) von Walter Gropius zwar noch weitgehend einer esoterischen Rhetorik verpflichtet, die Forderung nach einer „Wiedervereinigung aller werkkünstlerischen Disziplinen“ markiert aber bereits eine Ausdehnung des intermaterialen Prinzips auf eine handwerkliche Beherrschung der Materialbearbeitung. Kern des Curriculums am Bauhaus bildet daher eine breite Materialkunde, um die Studierenden für das große Ziel der gemeinschaftlichen Arbeit – den Einheitsbau – vorzubereiten. Besonders die Ablösung Lothar Schreyers als Leiter der Bauhausbühne durch Oskar Schlemmer im Jahr 1923 beschreibt eine Veränderung der intermaterialen Interessenlage. Während Schreyer die Inszenierung als eine gemeinsame „mystische Schau“ konzipiert, verfolgt Schlemmers intermateriale Bühnenästhetik das Ziel, eine „Grammatik der Bühnenelemente“ aufzustellen.
Für die provokative Prägung des intermaterialen Expressionismus ist Kurt Schwitters verantwortlich. Zentrales Prinzip seiner Merzkunst ist es nicht nur, die für die Kunst verfügbaren Materialien auf alle Gegenstände einschließlich Müll auszudehnen, sondern auch „Beziehungen schaffen“ zu wollen, „am liebsten zwischen allen Dingen der Welt“. Diese radikale Extension öffnet die Kunst für eine Verwendung bis dato unerschlossener Materialien und erweitert die Intermaterialität zu einem ästhetisch-demokratischen Prinzip.
Intermaterialer Bühnenexpressionismus
Vor dem Hintergrund der skizzierten intermaterialen Programmatik wundert es nicht, dass viele Expressionisten das Theater als Modell für die praktische Umsetzung auswählen. Als ein Ort, der ohnehin verschiedene Künste integriert, können auf der Bühne die Materialien in ihren Relationen und in der Wirkung auf den Zuschauer erprobt werden. Zu den wichtigsten intermaterialen Bühnenkompositionen des abstrakten Theaterexpressionismus zählen Kandinskys „Der gelbe Klang“ (1912), Arnold Schönbergs „Die glückliche Hand. Drama mit Musik“ (1917) und Schreyers „Kreuzigung“ (1920). Für alle drei kennzeichnend ist eine disharmonische Beziehung der Materialien. Im Rahmen expressionistischer Ästhetik wird die Disharmonie generell zur „neuen Schönheit“ erklärt, um sich von den klassischen Harmoniegesetzen der Wohlproportionalität abzusetzen.
Besonders eindrücklich demonstriert diese Disharmonie Kandinskys Bühnenkomposition „Der gelbe Klang“. Sie ist als letzter Beitrag im Almanach „Der Blaue Reiter“ direkt hinter dessen eigenem Aufsatz „Über Bühnenkomposition“ abgedruckt, in dem er für eine gleichberechtigte Verwendung aller Bühnenmaterialien plädiert. Das Stück selbst besteht aus sechs Bildern und verzichtet auf einen kohärenten Handlungsaufbau. Konflikte und Entwicklungen resultieren aus der Beziehung von Licht, Farbe, Orchester, Chor und den wenigen konkreten Figuren wie den gelben Riesen oder den Menschen in verschiedenfarbigen Trikots. Dass auch sie in ihrer Materialität eingesetzt werden, zeigt sich daran, dass sie keine psychologische Tiefe aufweisen, ja nicht einmal bestimmte Typen repräsentieren, sondern als Farb- und Bewegungsformen ausgearbeitet sind. Gleichwertig mit den anderen Bühnenmaterialien befinden sie sich in einem steten Wechsel von Parallelisierung und Kontrastierung, der im fünften Bild seinen kakophonischen Höhepunkt findet: „Allmählich ist alles in arhythmischer Bewegung. Im Orchester – ein Durcheinander. Der grelle Schrei des Bildes 3 wird hörbar. Die Riesen zittern. Verschiedene Lichter streifen die Bühne und kreuzen sich. Ganze Gruppen laufen von der Bühne. Es entsteht ein allgemeiner Tanz: er fängt an verschiedenen Stellen an und zerfließt allmählich, alle Menschen mitreißend. Laufen, Springen, Laufen zueinander und voneinander, Fallen. Manche bewegen hastig im Stehen nur die Arme, die andern nur die Beine, nur den Kopf, nur den Rumpf. Manche kombinieren alle diese Bewegungen. Manchmal sind es Gruppenbewegungen. Ganze Gruppen machen manchmal eine und dieselbe Bewegung. In dem Augenblicke, wo das größte Durcheinander im Orchester, in den Bewegungen und Beleuchtungen erreicht wird, wird es plötzlich dunkel und still.“ Kandinskys Bühnenanweisungen zeigen, dass der Materialeinsatz einer genauen Choreografie folgt, bei der es um ein alternierendes Mit- und Gegeneinander geht. Eine genaue Analyse aller Bilder bestätigt dies und macht den „Gelben Klang“ als eine Bühnenkomposition einsichtig, bei der der Kontrast in den Veränderungen einer einzelnen Kunstart stattfindet (wie im zitierten Passus innerhalb der Bewegungsfolgen und der Lichtregie), während die Parallelisierung zwischen unterschiedlichen Künsten erfolgt. Im „Gelben Klang“ haben wir es also mit einem intermaterialen Parallelismus des Kontradiktorischen zu tun.
Eine ähnliche Anlage kann auch in Arnold Schönbergs „Die glückliche Hand. Drama mit Musik, op. 18“ beobachtet werden. Im Unterschied zum „Gelben Klang“ weist das Stück mit der tragischen Dreiecksbeziehung zwischen dem Mann, dem Weib und dem Herrn eine durchgehende Handlung auf, die indes auf einen elementaren Beziehungskonflikt und typisierte Figuren reduziert ist. Ohnehin will Schönberg das Stück, das formal als unabgeschlossene Wiederholungsschleife konzipiert ist, in seiner intermaterialen Gestaltung verstanden wissen. So schreibt er anlässlich einer geplanten, aber nie realisierten Verfilmung: „Das Ganze soll (nicht wie ein Traum) sondern wie Akkorde wirken. Wie Musik. Es darf nie als Symbol, oder als Sinn, als Gedanke, sondern bloß als Spiel mit den Erscheinungen von Farben und Formen wirken“. Schönberg erreicht dieses Spiel der Erscheinungen, indem er die zum Einsatz kommenden Materialien mit den Empfindungen des Mannes in Verbindung bringt. Am stärksten zeigt sich dies im dritten Bild, in dem die Reaktion des Mannes auf die Liaison des Weibes mit dem Herrn in einer abstrakten Inszenierung des Materials abgebildet wird: „Der Mann hat dieses Crescendo des Lichts und des Sturmes so darzustellen, als ginge beides von ihm aus. Er sieht erst (beim rötlichen Licht) auf seine Hand; die sinkt dann, sichtlich ermattet, langsam; seine Augen werden aufgeregt (schmutzig-grünes Licht). Seine Aufregung wächst; die Glieder spannen sich krampfartig; er streckt zitternd beide Arme von sich (Blutrot), reißt die Augen weit auf und öffnet entsetzt den Mund. Wenn das gelbe Licht da ist, muß sein Kopf so aussehen, als ob er platzen würde.“ Bedenkt man, dass diese Szene mit Schönbergs atonaler Musik unterlegt ist, so wird die intermateriale Dichte erkennbar. Genau wie bei Kandinsky resultiert sie aus einer Materialkombination, bei der die beteiligten Künste und Verfahren – Licht, Farbe, Ton, Musik, Bewegung – in ihrem steten Wandel miteinander disharmonisch korrespondieren.
Auch in Schreyers Bühnenkomposition „Kreuzigung“ sind Darsteller und Bühnenmaterial exakt aufeinander abgestimmt. Schreyer fertigt zu diesem Zweck einen so genannten Spielgang (siehe Abbildung 1) an und entwickelt ein eigenes Zeichensystem für die Repräsentation des Bühnengeschehens: Anhand einer Wort-, Ton- und Bewegungsreihe arrangiert jeder Takt des Spielgangs die Bewegung, Sprache und Intonation der Darsteller neu. Für die Inszenierung sieht Schreyer zudem Ganzkörpermasken vor, um den individuellen Ausdruck der Darsteller zu verbergen und sie in ihren bewegten Farbformen gewissermaßen als intermateriale Konglomerate zu präsentieren. Strukturelles wie thematisches Prinzip des Stückes, das die Passions- und Auferstehungsgeschichte Christi verhandelt, ist die Vereinigung. Besonders deutlich wird dies an der Schlüsselszene, bei der alle drei Figuren – der Mann, die Mutter und die Geliebte –, gemeinsam dreimal hintereinander das Wort „Heiland“ ausrufen (siehe Abbildung 1). Dem Spielgang lässt sich entnehmen, dass der Sprechgesang dabei sehr hoch und leise sein soll, die Figuren die Arme ausstrecken, sich hinknien und schließlich aufeinander zugehen. Gemäß der intermaterialen Programmatik verbinden sich Farbformen, Klang, Bewegung und Sprache in ihrer äußeren Verschiedenheit zu einer gemeinsamen Wirkungsabsicht. An dieser Szene zeigt sich deutlich die Motivation für die intermateriale Verwendung der Bühnenmaterialien im Expressionismus. Da der Materialreduktionismus auf eine Entmaterialisierung abzielt – nicht zufällig geht es an dieser Stelle um die Auferstehung –, bedarf es ihrer wechselseitigen intermaterialen Durchdringung und Steigerung. Die Intermaterialität der Inszenierung bildet die Voraussetzung dafür, dass die heterogene Vielfalt der Materialien sich zu einer Erlebniseinheit für den Zuschauer verwandelt.
Intermateriale Text-Bild-Bezüge
Neben den abstrakten Bühnenkompositionen bringen die zahlreichen Text-Bild-Bezüge im Expressionismus Kunstgebilde hervor, bei denen die beteiligten Zeichensysteme materialiter interagieren. Die Relationstypen reichen dabei von bloßen intermaterialen Bezugnahmen wie in Kasimir Edschmids Gedichtsammlung „Bilder. Lyrische Projektionen“ (1913) über eine materiale Kopräsenz wie in Ernst Ludwig Kirchners Illustrationen zu Georg Heyms „Umbra Vitae“ (1924) bis hin zu intermaterialen Fusionen von Schrift und Bild wie in Paul Klees Schriftbild „Einst dem Grau der Nacht enttaucht“ (1918) und Kurt Schwitters Assemblage „Das Undbild“ (1924). Besonders die beiden letzteren weisen einen hohen Grad ästhetischer Dichte auf und demonstrieren eine radikale Konvergenz der Künste.
Klees „Einst dem Grau der Nacht enttaucht“ zählt zu den zehn Schriftbildern, die der Maler während seiner expressionistischen Phase in den Jahren 1916-1921 anfertigt. Für diese charakteristisch ist die großflächige Verschränkung von Text und Bild. In „Einst dem Grau der Nacht enttaucht“ erreicht Klee dies dadurch, dass die Farbformen und Buchstaben an ihren Rändern zu Ligaturen verschmelzen (siehe Abbildung 2). Dadurch wird die Lektüre des Textes erschwert und das Gedicht konstitutiv an die Farbgestaltung gebunden. Diese intermateriale Verdichtung potenziert sich in der inhaltlichen Ausrichtung des Gedichts, da es mit seinen Farbwörtern und -assoziationen auf die farbliche Bearbeitung Bezug nimmt:
Einst dem Grau der Nacht enttaucht
dann schwer und teuer
und stark vom Feuer
abends voll von Gott und gebeugt
nun ätherlings vom Blau umschauert,
entschwebt über Firnen,
zu klugen Gestirnen.
Formal auffällig ist das Fehlen eines Sprechers und Textsubjekts. Wer oder was dem Grau der Nacht enttaucht, bleibt unbestimmt. Aufgrund des intermaterialen Zusammenhangs liegt jedoch die Vermutung nahe, dass das Gedicht seine eigene Genesis aus der Farbe Grau reflektiert, die für Klee den Kern aller Komplementärfarben bildet und in Form eines Längsstreifens den Mittelpunkt des Schriftbildes darstellt. Ebenso wie die Buchstaben entziffert werden können, aber nicht von ihrem Material und der Farbhinterlegung zu lösen sind, bleibt auch das Gedicht in seinen inhaltlichen intermaterialen Bezügen an die Farben und Formen des Bildes gebunden.
Während Paul Klee seine Bilder eigenhändig beschriftet, zeichnet sich die Integration von Texten in Kurt Schwitters Merzbildern dadurch aus, dass die Trägermedien gleich mit importiert werden. Schwitters verwendet für seine Assemblagen Schriftfragmente, die aus ihren ursprünglichen Kontexten gelöst und mit den anderen Schrift- und Dingmaterialien zu neuen Sinneinheiten kombiniert werden. Im „Undbild“ (Abbildung 3) stellt das Titel gebende Segment in seiner syntaktischen Funktion die intermateriale Verknüpfungsinstanz par excellence dar. Als semantische Leerstelle tritt es darüber hinaus in seiner materialen Präsenz hervor und macht die Schrift in ihrer bildlichen Qualität einsichtig. Das „Und“ ist somit Bild- und Schriftinstanz, Signikant und Signifikat gleichermaßen. Mit dieser komplexen intermaterialen Verschränkung zeigt Schwitters die vielfältigen Möglichkeiten intermaterialer Text-Bild-Bezüge. Wie Klee mit seinem Schriftbild gelingt ihm eine radikale materiale Verbindung beider semiotischen Verfahren.
Kino intermaterial: Schrift im Film
Der expressionistische Film ist für seine durchgehende Stilisierung bekannt. Die Themen „Wahnsinn“ und „Phantastik“ werden in schiefen Häuserfassaden, verwinkelten Gassen sowie Halbschatten umgesetzt und überdies auf die Gestaltung der Zwischentitel übertragen. Als integrales Medium kann der Film die Schrift per se in ihrer Materialität hervorheben, und der expressionistische Film nutzt diese Kompetenz, um die Zwischentitel zu einem Teil seiner ästhetischen Gesamtkomposition zu machen. Vor allem zwei Filme zeichnen sich in dieser Hinsicht aus: Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) und Paul Wegeners „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920). In beiden Filmen kommen zudem Bücher oder Buchkapitel gleichen Titels zum Einsatz, so dass das Verhältnis zum Material der Schrift in mehrfacher Hinsicht für die Filme konstitutiv ist.
In Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ sind die Zwischentitel mit ihrer unruhigen gezackten Form der architektonischen Szenengestaltung nachempfunden und bewirken somit keine Unterbrechung des Films, sondern fungieren als intermateriale Verknüpfungsinstanzen von Handlung und Dekors. Seinen Höhepunkt erfährt der Einsatz von Schrift in der berühmten Szene der Caligariwerdung des Anstaltsleiters, bei der die Wahnvorstellung „Du musst Caligari werden“ buchstäblich zum Teil der Mise en Scène wird (siehe Abbildung 4). Ähnlich wie bei den oben diskutierten expressionistischen Bildern kann hier eine intermateriale Fusion von Text und Bild beobachtet werden, bei der die Transformation Caligaris begrifflich und visuell gleichermaßen dargestellt wird. Beide ästhetisch-technischen Verfahren – die Sukzessivität der Schrift und die Reihung der Filmbilder – vereinen sich zu diesem Zweck und aktualisieren somit ihre jeweiligen intermaterialen Potenziale.
Eine ähnliche Szene findet sich in Wegeners „Der Golem, wie er in die Welt kam“. In der Beschwörung des Geistes Astaroth, der das Leben spendende Wort für die Erschaffung des Golems preisgeben soll, materialisiert sich die Schrift in Gestalt eines Atemstroms (siehe Abbildung 5). In seiner Text-Bild-Dichte tritt in dieser Sequenz die Differenzqualität von Schrift als Material- und Imaginationsinstanz hervor. So resultiert die Geistererscheinung aus der Lektüre eines Buches, und das Wort Aemaet (hebräisch „Wahrheit“) stellt ein instabiles materiales Gebilde dar, das schließlich auf einem Papierstreifen niedergeschrieben und dem Golem in die Brust eingesetzt wird. Vor dem Hintergrund dieser beiden Szenen lassen sich Wegeners „Der Golem“ und Wienes „Caligari“ als Inszenierungen von Schrift deuten. Wie bei vielen weiteren expressionistisch geprägten Filmen – beispielsweise Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ (1921/22) oder Fritz Langs „Metropolis“ (1927) – wird der technisch bedingte Mangel an Verbalsprache durch die Vereinnahmung und Nutzbarmachung der Schrift mehr als kompensiert und das Verhältnis von Schrift und Bewegungsbild zu einem produktiven intermaterialen Zusammenspiel gestaltet.
Synkrisis
Stilisierte Schrift im Film, Fusionen von Text und Bild, abstrakte Materialkombination auf der Bühne – die Kunstkonvergenzen im Expressionismus sind vielfältig und konnten in diesem Artikel nur in Ansätzen präsentiert werden. Für das ästhetische Profil des Expressionismus bleibt festzuhalten, dass es in der Zeit von 1910-1925 zu einer Radikalisierung in der Beziehung der Künste zueinander kommt. Gefördert durch Zusammenschlüsse zu Künstlergemeinschaften und Zeitschriftenprojekten erkunden die Expressionisten die Materialien der Künste und kombinieren sie zu intermaterialen Artefakten, deren gemeinsames Charakteristikum vor allem eines darstellt: eine ästhetische Verdichtung im Sinne einer gesamtkünstlerischen Durchdringung und Verabsolutierung der Kunst.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel basiert auf der Dissertation von Christoph Kleinschmidt, die 2011 unter dem Titel „Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus“ erscheint.
Literatur:
Goll, Ywan [Tristan Torsi]: Films (Verse). Berlin-Charlottenburg 1914.
Gropius, Walter: Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar. Weimar 1919.
Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. Mit einer Einleitung von Max Bill. 5. Auflage. Bern-Bümpliz 1956 [1912].
Kandinsky, Wassily: „Der gelbe Klang“. In: Der blaue Reiter. Hg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. 3. Auflage. München 1979 [1912], S. 103-113.
Kandinsky, Wassily: „Über Bühnenkomposition“. In: Der blaue Reiter. Hg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. 3. Auflage. München 1979 [1912], S. 189-208.
Roth, Ernst: Die Grenzen der Künste. Stuttgart 1925.
Schlemmer, Oskar: „Wissenschaftlicher Charakter der Versuchsbühne am Bauhaus“ (1925/26). In: Oskar Schlemmer und die abstrakte Bühne. München 1962, S. 36-37.
Schönberg, Arnold: „Die glückliche Hand. Drama mit Musik. Opus 18“ (1917). In: Arnold Schönberg: Sämtliche Werke. Abteilung III: Bühnenwerke. Reihe A, Bd. 6. Bühnenwerke I. Hg. von Ullrich Scheideler. Mainz/Wien 2000, S. 110-189.
Schönberg, Arnold/Kandinsky, Wassily: Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung. Hg. von Jelena Hahl-Koch. München 1983.
Schreyer, Lothar: „Das Bühnenkunstwerk“. In: Der Sturm, Jg. 7, 1916, S. 50-51; Jg. 8, 1917, S. 98-102.
Schreyer, Lothar: Kreuzigung. Spielgang. Werk VII. Werkstatt der Kampfbühne. Hamburg 1920.
Schreyer, Lothar: „Bühnenwerk, Spielgang und Spiel“. In: Der Sturm, Jg. 12, 1921, S. 65-68
Schwitters, Kurt: „Merz“ 1924. In: Das literarische Werk. Bd. 5. Manifeste und kritische Prosa. Hg. von Friedhelm Lach. Köln 1981, S. 187.
Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917.
Bilder:
Paul Klee: Einst dem Grau der Nacht enttaucht
1918
Aquarell, Feder und Bleistift auf Papier und Karton; 25x 15,5 cm
Kurt Schwitters: Das Undbild
1919
Assemblage, 35×28 cm
Filme:
Das Cabinet des Dr. Caligari
Deutschland 1920
Regie: Robert Wiene
Drehbuch: Carl Mayer, Hans Janowitz
Produktion: Decla-Film Gesellschaft Holz & Co., Berlin
Dauer: 74 Min
Format: 35 mm, 1:1,33, s/w, viragiert.
Der Golem, wie er in die Welt kam
Deutschland 1920
Regie: Paul Wegener, Carl Boese
Drehbuch: Paul Wegener, Henrik Galeen
Produktion: Projektions-AG Union (PAGU), Berlin
Dauer: ca. 84 Min.
Format: 35 mm, 1:1,33, viragiert.