Ich radiere mich aus, ich zeichne mich neu

Nina Jäckles lyrischer Roman „Sevilla“ erzeugt ein sprachgewaltiges Spektrum eines radikalen Neuanfangs

Von Oliver DietrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Dietrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Stadt Sevilla im Süden Spaniens liegt in einem kargen, wüstenähnlichen Gebiet wie eine belebte Insel inmitten einer dünn besiedelten Landschaft. Auf dieser Insel strandet die Protagonistin – das lyrische Ich vielmehr –, um ein neues Leben an einem bewusst in der Fremde liegenden Ort anzufangen. Man erfährt nichts über ihre Vergangenheit. Sie ist einfach da, hält sich im Hintergrund, hat ausreichend Geld – und sie wartet. Dieses Warten bestimmt die Handlung, zieht sich ganz wie im Beckett’schen „Warten auf Godot“ als roter Faden durch den Roman.

Der Text ist nicht nur in kleine Kapitel gegliedert, sondern in viele kleine Absätze, in Sinneinheiten – fast möchte man meinen, in Strophen. „Sevilla“ erinnert mehr an ein lyrisches Werk als an eine Erzählung. Die Sprache ist assoziativ, die Sätze sind in viele, oft klimaktische Wortspiele aufgeschlüsselt, unterbrochen von vereinzelt eingestreuten spanischen Wörtern, welche ohne Übersetzung bleiben.

Die Personenkonstellation ist zwar überschaubar, die Charaktere werden jedoch nicht weiter erläutert. Es gibt ein „ich“, und auf der anderen Seite „ihn“ – später kommt „der Nachbar“ hinzu, er wird das Verbindungsglied in die zunächst fremde Welt. Diese Figur gewinnt an Bedeutung, konkurriert schließlich mit „ihm“ und nimmt mehr und mehr den Platz des Erwarteten ein. Und es gibt „Mercedes“: bald Vertraute, Verbündete in einer Welt, welche ohne Sprache als Kommunikationsmittel auskommen muss. Stück für Stück wird deutlich, dass es sich um eine Flucht handelt, dass Geld erbeutet wurde und die Protagonistin auf die Ankunft ihres Komplizen wartet. Dies sei jedoch nur am Rande erwähnt: von einem Kriminalroman kann keine Rede sein.

Nina Jäckles sprachgewaltiger Roman beschreibt nicht, sondern löst Assoziationen aus – er skizziert, anstatt auszuschweifen. Die knappen Absätze zeichnen kurze Bilder, welche schnell verschwinden, in ihrer Intensität jedoch nachklingen. Zusammengehalten wird die Komposition durch den melancholischen Grundton, welcher gemeinsam mit der reservierten subjektiven Zustandsbeschreibung überragend eindringlich die Entwurzelung der Protagonistin vermittelt.

Durch die Verwendung des außergewöhnlichen, stark reduzierten Schreibstils Jäckles wird der Leser schließlich in das Geschehen gezogen, ohne genauere Informationen darüber zu erhalten. Der Plot wird auf einen Kern reduziert, während sich das Gros der Handlung im Kopf des Lesers abspielt. Sicherlich ist dies generell ein wesentliches Kriterium guter Literatur, insbesondere der Lyrik; Nina Jäckle verfeinert diese Referenz auf das Außertextuelle jedoch noch und begibt sich an den Rand des Möglichen.

„Sevilla“ ist mehr als die Beschreibung einer Flucht, mehr als die Geschichte einer neuen Identitätsfindung. Es geht weniger um Schuld und Verantwortung als um den aktuellen Zustand einer Person, welche sich an der Schwelle zu einem radikal veränderten Leben befindet. Es geht um die letzte Zaghaftigkeit im Schatten einer heranrollenden, sich bereits brechenden Welle.

Titelbild

Nina Jäckle: Sevilla. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
141 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008978

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