Operation „Oberwasser“

In Karin Kerstens neuem Roman „An Schlaf war nicht zu denken“ schlägt sich eine kleine Detektei durch maue Zeiten

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sphinx“ heißt die kleine Berliner Detektei, deren Chefin Oda Lieberos geworden ist, nachdem ihre Tante Trud das Zeitliche gesegnet hat. Fest angestellt hat die Mittfünfzigerin mit der bunten Vergangenheit – Schauspielerin, Altenpflegerin und Altphilologin ist sie bereits gewesen, bevor sie völlig unverhofft zur Geschäftsfrau mutierte – ganze zwei Personen: die manchmal etwas arg unbedarft wirkende Lotte Matern und Leo Bonte, einen Mann, der sich gern einmal den Mund verbrennt. Wenn es pressiert, verstärkt die tatkräftige Chefin die Mannschaft ihrer Agentur mit zwei, drei weiteren dubiosen Gestalten, darunter der Ex-Kripomann Groschinski, der im Notfall auch noch einen Draht zu einem Gerichtsmediziner hat. Doch von einem „Pressieren“ der Agentur ist man zu Beginn von Karin Kerstens Roman meilenweit entfernt.

Zum Glück pflegt Oda Lieberos aber noch Kontakte zu einem alten Freund. Albert Chandellier kennt sie schon aus Schulzeiten. Allein während sie so durch die Welt tingelte und ihr Glück mal hier, mal da versuchte, hat Albert zielstrebig an seiner Karriere gearbeitet. Inzwischen ist er ganz oben angelangt, ein aalglatter Geschäftsmann, das Auftragsspektrum international. Weil er Oda nicht vergessen hat, bedenkt er sie pro Jahr mit vier, fünf Ansichtskarten und kleinen Kuriositäten wie einem präparierten Gürteltier, um das sich dann Lotte und Leo zu kümmern haben. Doch so sehr der Mann auch in beruflichen Erfolgen schwelgt – mit der eigenen Mutter klappt es weniger gut. Momentan ist Claire beziehungsweise Klara Chandellier sogar völlig von der Bildfläche verschwunden. Da das dem weltläufigen Sohn ganze zwei Wochen lang verborgen blieb, quält ihn sein Gewissen. Also wird Odas Detektei engagiert – und die „Operation Oberwasser“ kann anlaufen.

Kersten (Jahrgang 1943) ist eine ganz eigenständige Stimme in der deutschen Gegenwartsliteratur. In ihrem dritten Roman, der im April 2011 auf Platz 1 der renommierten SWR-Bestenliste zu finden war, widersetzt sie sich noch mehr dem erzählerischen Mainstream als bisher. Sprachlich brillant, ideenreich und skurril, heiter und doch voll stiller Nachdenklichkeit und Mitgefühl für seine Figuren kommt dieses Buch daher. Seine großen Themen sind Einsamkeit, Suche und Aufbruch. Um sie zu entwickeln, braucht die Autorin keine weiten Räume. Geografisch wird das Stadtgebiet von Berlin kaum verlassen. Nicht auf die große Geste, den Start ins Unbekannte, die Expedition in ferne Welten kommt es an, sondern darauf, dass manchmal schon unsere Nächsten – Nachbarn, Freunde und Verwandte – sich jenseits unserer Aufmerksamkeitsschwelle befinden. Es wundert deshalb auch nicht, dass jene Frau, hinter der ein halbes Dutzend Menschen Tag und Nacht her ist, die Luft derselben Stadt mit all den fleißig nach ihr Ausschau Haltenden atmet.

Einst nämlich lebten sie zu zweit: Klara und Mette. Und die beiden älteren Damen fühlten sich wohl und behütet, weil sich die eine für die Probleme der anderen und die andere wieder für die Probleme der einen interessierte – eine Symbiose. Dann glaubte Klara Chandellier eines Tages, dass es auch ohne Margarete (Mette) Stallwach gehen müsse und zog sich auf ihren Alterswohnsitz ins kleine Bad Zwischenahn zurück. Aber es funktionierte nicht. Nicht für Klara und – wie sich nach deren Rückkunft nach Berlin herausstellt – auch nicht für Mette. Denn die ist plötzlich aus ihrer Wohnung verschwunden und so wird Klara, nach der intensiv gesucht wird, selbst zu einer Suchenden.

„Acedia“ heißt das Laster, vor welchem Oda Lieberos in einer tristen Bürostunde Lotte warnt – aus Melancholie und Überdruss entstehende Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und den in ihr Lebenden. An Abarten dieser Sünde leidet man generell in Kerstens Roman. Man nimmt den anderen mit dem Auge wahr, verfolgt und beobachtet sein Tun, öffnet ihm aber nicht das Herz. Albert Chandellier lässt nach einer Mutter suchen, von der er im Prinzip kaum etwas weiß. Oda Lieberos, die das alte Wochenendhäuschen ihrer Eltern einer dort seit Jahrzehnten lebenden Frau abkaufen will, ist vollkommen überrrascht, als sie erfährt, dass die seit einem halben Jahr bereits tot ist. Margarete Stallwach hat sich selbst in die gerontopsychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingeliefert, weil die Einsamkeit sie in Angstanfälle trieb. Dort, hinter den Mauern des Emmaus Krankenhauses fühlt sie sich wenigstens ihrem (bereits verstorbenen) Vater nah, der einst hier Chefarzt war. Und Leo Bonte wie Lotte Matern stöbern eifrig im Vergangenen, während sie mit ihrer eigenen Gegenwart kaum zurechtkommen. Eine der ersten Notizen, die Leo in das „Schwarze Heft“ einträgt, in dem er seinen Arbeitsalltag dokumentiert, lautet: „Agentur Sphinx, 19. März. Jemand hat die Telefonleitung gekappt. Jemand hat vor den Fenstern graue Lappen aufgehängt. Jemand hat uns vergessen.“ Das ist keine lakonische Feststellung mehr, sondern eigentlich ein Hilferuf.

„An Schlaf war nicht zu denken“ ist ein bewegender Roman über das Alleinsein in einer Welt, welche den Einzelnen täglich mit Tausenden von Signalen überflutet, die den Kernbereich seiner Angst allerdings nicht zu treffen vermögen. Eine Studie über die Einsamkeit in der modernen Gesellschaft. Jede von Kerstens Figuren bewegt sich in Deutschlands größter Stadt und Metropole unter Millionen Menschen – und findet doch kaum den Weg zu einem einzigen von ihnen. Doch allen ist bewusst, dass sich an dieser Situation etwas ändern muss. Und so ist man auf der Suche nicht nur nach den offiziell Vermissten, sondern vor allem nach sich selbst. Die Autorin dieses Romans allerdings hat ihren Weg längst gefunden und beschreitet ihn munter, humorvoll und mit viel Wärme und Sympathie für alle ihre Figuren.

Titelbild

Karin Kersten: An Schlaf war nicht zu denken. Roman.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2011.
270 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783863510039

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