An den Rändern

In dem Erzählungenband „Winterfisch“ erkundet Gregor Sander das beklemmende Gefühl, in einem Netz eingesperrt zu sein

Von Markus BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grenzsituationen setzen uns nicht allein den Rändern unseres Lebens aus, dem Tod und der Verlassenheit, sie treiben uns ebenso oft an die Ränder eines geografischen Raumes. Auf der Flucht vor sich selbst und vor anderen zieht es uns in die entlegensten und schroffsten Gebiete der Erde. In diese Regionen versetzt Gregor Sander seine an ihrem Schicksal zerbrechenden Charaktere. Am Polarkreis oder in der dörflichen Provinz, in Litauen oder Hiddensee nehmen sie Reißaus von zerrütteten Beziehungen und verlorenen Perspektiven und sehnen sich nach Vertrautheit und Freiheit.

Sander, ausgebildeter Krankenpfleger und Schlosser, studierter Germanist und Historiker, wurde 1968 in Schwerin geboren und lebt gegenwärtig als freier Autor in Berlin. Der 2011 erschienene Band „Winterfisch“ ist neben dem Band „Ich aber bin hier geboren“ und dem Roman „abwesend“ seine dritte Veröffentlichung.

Jede der in „Winterfisch“ gedruckten Erzählungen stellt ein stimmig komponiertes Gebilde dar, in dem verschiedene Grundmotive variiert werden. Einen konstanten Bezugspunkt Sanders bilden die Landschaften, die die „mattschwarze Ostsee“ umgeben. Im „feuchten Sand“ zwischen den „Dünen“ schaut der Leser den „Wellen zu, die sich an einem riesigen Stück Metall, vielleicht dem Teil eines Schiffes“ brechen. Meist nehmen die Gegenden die emotionale Färbung der beschriebenen Beziehungen an. Dann werden sie Schneelandschaften, in denen sich „Eisschollen in zackigen geometrischen Formen“ gegeneinander schieben.

„Gegenlicht“ ist eine verstörende Erzählung von zwei Zwillingsbrüdern namens Viktor und Vincent. Beide sind unzertrennlich und gerade deswegen von der Angst zu naher Bindung gezeichnet – eine in Vincents Worten „körperliche Angst, die daher rührt, dass er mir näher ist, als mir lieb ist“. Viktor verschwindet schließlich und lässt Vincent allein. Weil dieser nun von einer erdrückenden „Stille, wie ich sie nicht kannte“ umgeben ist, weil er „kaum sitzen kann irgendwo ohne ihn“, folgt er seinem Bruder bis zum Polarkreis. Verbunden sind die Brüder durch eine allumfassende Spannung zwischen wechselseitiger Sehnsucht und dem Drang, sich abzustoßen, die in dem Tod Viktors mündet. Vincent bleibt allein zurück und versucht, sich vorzustellen, „wie Viktor mich ankommen sieht, wie er mich hört… und dann die Wodkaflasche öffnet und trinkt. Wie er die Heizung abdreht und sich anlehnt an die Wand, hinter der ich liege und lese oder fernsehe, und wie er dann wartet, bis der Tod kommt“.

Neben der Erfahrung des Verlusts einer geliebten Person, weil diese „einen anderen liebt“ und man „das keinen Moment verstanden oder verstehen wollte“ – neben dieser Erfahrung thematisiert Sander ebenso Momente der Einsamkeit, die seine Figuren trotz der Anwesenheit der ihnen vertrauten Menschen überfällt.

In „Weiße Nächte“ unternehmen zwei Freunde einen Segelausflug nach Sankt Petersburg, der zunächst zur Reflexion über die verschiedenen Lebenswege gerät. Beide brechen ihr gemeinsames Medizinstudium ab. Der eine, Jakob, wird erst erfolgreicher, dann erfolgloser Künstler und verliert seine Frau, bevor er dem Alkohol verfällt. Der andere, namenlos, wird Fotograf und gründet eine Familie. Doch eine Angst sucht ihn immer wieder heim, wenn „es leise ist um mich und leer. Und ich alleine bin, obwohl das Haus voller Menschen ist“. Es ist eine rätselhafte Angst, eine „Scheißangst, vor was eigentlich? Davor, dass alles kippt“. Eindringlich beschreibt Sander, wie auch der Freund Jakobs zur Flasche greift, um diese Nächte der Angst zu bewältigen. „So viel trinken, dass ich bettschwer werde… dann lösche ich sie aus, so eine Nacht. Dann werden meine Nächte weiß und so hell, dass alles verschwindet und ich nichts mehr sehe. Nichts mehr.“

Doch die von Sander erforschten Beziehungen sind nicht ausschließlich durch private Probleme gekennzeichnet. An vielen Stellen offenbaren sich die Brüche und Verwüstungen in den Biografien als politisch induzierte Traumata. In jeder Erzählung findet eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Bundesrepublik statt, mit der nationalsozialistischen wie der sozialistischen. Die zerfallenen politischen Systeme wirken nach in den Leben der Betroffenen. Berufliche Werdegänge wurden zunichte gemacht, Familienmitglieder umgebracht.

Im „Haus Seeblick“ erinnert sich die Großmutter der Hotelbesitzerin an Schikanen der Stasi, an Gefängnisaufenthalte und Enteignungen: Die „kamen mitten im Winter… die sind reingekommen, fünf Mann, und haben alles auf den Kopf gestellt“. Auf Hiddensee trifft sich jährlich eine Familie, um den Geburtstag ihres auf der Flucht aus der DDR ermordeten Sohnes zu feiern. Und in Wustrow erschließt sich ein Pärchen die Geschichte der Gemeinde, in der „kurz nach der Machtübernahme […] die größte Flakschule des Reiches gegründet“ wurde. An den Ufern der heutigen Geisterstadt tauchten einst die tausend Wasserleichen der von den Nazis auf die Cap Arcona deportierten Juden auf. „Niemand hat sich darum gekümmert“.

Die private und die kollektive Vergangenheit werden von den Figuren durch vielerorts eingesprenkelte Erinnerungen an die jeweiligen Lebenswege wachgehalten. Ohne Vorwarnung versetzt Sander den Leser zeitlich zurück in bedrückende Situationen. Dank seiner lakonischen Sprache gelingt es, diese Situationen ergreifend zu schildern. Fast arm an Umschreibungen wirken seine Worte wie dünne, sparsam aufgetragene Pinselstriche, die umso deutlicher ein Bild entstehen lassen, in dem die Charaktere von dunklen Schattierungen umgeben sind. Am Rande eines Landes und ihres Lebens sind sie wacklige, aus krummem Holz geschnitzte Gefangene ihrer Vergangenheit – eingesperrt wie ein Fisch im Netz.

Das Faszinierende an Sanders Erzählungen gründet in der Erfahrung einer Fremdheit, die bei genauer Betrachtung in eine Vertrautheit übergeht. Aus einer schwer zu ergründenden Grundstimmung heraus setzt Sander klaustrophobische Zustände derart ins Licht, dass sie als verfremdete Momente des eigenen Lebens erscheinen. Darum ergreift der Band „Winterfisch“ den Leser und nimmt in selbst in seinem Netz gefangen, darum ist er überaus lesenswert.

Titelbild

Gregor Sander: Winterfisch. Erzählungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835308435

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