Wien bleibt eben doch Wien

Georg Kreislers unverzichtbarer Anekdotenführer durch die vielleicht schönste Stadt der Welt

Von Clemens GötzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Götze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Nicht-Wiener gefragt wird, was ihm zu dieser Stadt einfiele, so findet sich in einer möglichen Antwort gewiss etliches von dem, was Georg Kreislers  Buch „Wien. Die einzige Stadt der Welt, in der ich geboren bin“ für den Leser bereithält. Angefangen vom vermeintlich gemütlich-provinziellen dieser Stadt über deren unbestreitbare historische Bedeutung, die Flut an Kultur bis zu den einzigartigen kulinarischen Genüssen. Wer von Wien spricht, ohne dabei nicht wenigstens einmal das Kaffeehaus, den Heurigen und die schöne Leich’ zu erwähnen, hat nicht von Wien gesprochen, sondern vermutlich von irgendeiner anderen beliebigen Stadt, derer es ja so viele gibt.

So wird es niemanden erstaunen, dass auch dieser Satirenband in dieselbe Kerbe schlägt wie schon dutzende Andere vor ihm. Der Unterschied besteht in diesem Fall lediglich darin, dass es sich hierbei um eine Reloaded-Version handelt. Das 1977 verfasste Buch erschien nämlich erstmals 1987 beim Wiener Verlag Ueberreuter und wurde nach Kreislers eigenen Angaben „schnell wieder fallen gelassen“. So zumindest äußert sich der 2011 verstorbene Autor in seinem Vorwort zu diesem Buch. Dass man es nun aus den Tiefen des Donaukanals wieder gehoben hat, wie Kreisler süffisant bemerkte, ist ein kleiner Glücksfall für Wien-Fans sowie alle Kreisler-Antipoden. Nur ein kleiner deshalb, weil das Buch bis auf besagtes Vorwort keine weitere Ergänzung erfahren hat, was den euphorischen Interessenten gewiss ein wenig enttäuschen dürfte. Was aber ist an diesem Buch, das inzwischen mehr als 30 Jahre alt ist, noch immer aktuell? Ist Wien nun Wien geblieben, wie es die Volksliedkunst ihrer Stadt verspricht? Der Autor gibt in seiner Einleitung selbst zu bedenken, dass manches nicht mehr zutreffend sei, da sich Wien durchaus verändert habe. Dem ist jedoch schon deshalb zu widersprechen, weil der Band satirischer Natur ist und dabei auf eine zeitgenaue Kontextualisierung verzichtet. Ferner handelt es sich ohnehin um eine Mentalitätsbeschreibung Wiens, und die ist, wenn überhaupt, nur sehr langfristig wandelbar. So wird es möglich, die Texte auch noch nach langer Zeit erneut mit Freude zu lesen. Vielleicht war es ja auch nur Koketterie eines durch die Neuauflage begründet überschwänglichen Autors.

Man kann mit Gewissheit bestätigen, dass Wien nicht überflüssig ist, wie Georg Kreisler in seinem Buch schreibt. Die Wiederveröffentlichung dürfte indes Beweis genug dafür sein. Und doch gibt es Nachträgliches, das zu erwähnen sich lohnt. Denn wenn die frühere Version dieses Bandes eines gezeigt hat, dann, dass er gar nicht so eine geringe Verbreitung fand, wie Kreisler in seinem Bedauern über die verstoßene Erstauflage suggeriert. Tatsächlich findet man in dieser Publikation ein ergötzliches Sammelsurium an Anekdoten über das Wien, wie man es zu kennen glaubt, stets jedoch voll Ironie und Selbstkritik. Dabei lässt der Autor zu keiner Zeit die Liebe zu seiner Heimatstadt vermissen: „In allen Wienern schlägt das gleiche goldene Wiener Herz. Wenn sie es nur merken würden!“

Was dieser Satirenband also verdeutlicht, ist die Ambivalenz des Wienerischen, denn genau diese hat die Stadt immer geprägt. An diesen Gesichtspunkt koppelt sich ferner die Freude an der Diskussion, die Kreisler an der Frage, ob Wien nun wirklich überflüssig sei, expliziert: „Man errichtete ein neues Gebäude auf dem Stephansplatz, das den Blick auf den Dom erschwerte. Auf diese Weise hoffte man, eine Diskussion in Gang setzen zu können, die die Überflüssigkeit des Stephansdoms zum Thema haben sollte – oder wenigstens die Überflüssigkeit des neuen Gebäudes. Vielleicht könnte man dann Gesamtwien vor der Überflüssigkeit retten.“

Die Episode spielt auf das Mitte der 1980er- Jahre errichtete Haas-Haus an, das bei seiner Erbauung seinerzeit einen Architektur-Skandal hervorgerufen hatte, wie immer, wenn in Wien etwas Neues entstehen soll. Hernach, wenn sich die Wogen geglättet haben, erscheint naturgemäß alles in einem ganz anderen Licht. Dann allerdings zeigt sich, dass die Aufreger im Grunde die Erregung gar nicht wert waren und innerhalb kürzester Zeit zum akzeptierten Gemeingut erklärt werden. Nicht anders verhielt es sich im Falle des Haas-Hauses, das inzwischen zu einer Art Markenzeichen der Wiener Innenstadt geworden ist.

Besonders erbaulich ist die Satire zu den „Nachweinern“, die nicht zu verwechseln sind mit den Nachwienern. Jene Nachweiner jedenfalls bedauern den Untergang der Kaffeehauskultur mit all ihrem schmutzigen Geschirr und den unfreundlichen Obern und das Dahinscheiden der Wiener Operette, von der es faktisch nur eine einzige, nämlich die „Fledermaus“, gegeben habe. Bei aller Zuspitzung steckt viel Wahrheit in diesem Stückchen Text: „Wer nachweint, hat mehr von seiner Vergangenheit, wenn auch weniger von der Gegenwart.“ Über diesen Gedanken lohnt es sich tatsächlich einmal kurz zu sinnieren, wenn es wieder einmal inmitten eines mehr oder minder gewöhnlichen Stammtisches heißt: Früher war eh alles besser. Da wird man sich dann die Frage gefallen lassen müssen: Heißt das nun, dass heute zwangsläufig alles schlechter ist? Oder einfach nur anders? Oder…

Natürlich spielt Kreisler in seinem Buch wie gewohnt mit Klischees und den altbekannten Bildern von Wien, etwa bei seiner pointierten Darstellung der Musikstadt Wien, bei der seine Protagonisten (vom Hofrat bis zum Musikwissenschaftler) die Bedeutung des musikalischen Erbes Wiens ad absurdum führen. Es komme nicht darauf an, dass ein Komponist in Wien geboren sei, es reiche aus, wenn er dort gestorben ist. Darin drückt sich die kritische Haltung Kreislers aus, wenn es um den Umgang mit Kulturgut geht. Dies ist natürlich kein unberechtigter Einwand, erscheint doch diese Vorgehensweise wie die Instrumentalisierung eines künstlerischen Erbes, die eben nicht mehr auf Kunstverständnis und lokalpatriotischem Ehrgeiz fußt, sondern einzig die Vermarktung zahlreicher großer Namen der Musikgeschichte zu touristischen Zwecken im Sinn hat. Dem entspricht ferner der Hinweis darauf, dass man an keinem noch so unscheinbar-grau wirkenden Haus vorbeigehen könne, ohne dass an der Fassade eine Gedenktafel davon kündet, dass hier irgendwann einmal irgendjemand irgendetwas getan oder vielleicht sogar gerade unterlassen habe, um damit in die Geschichte einzugehen. Die Geschichte der Stadt Wien, versteht sich. Die Wahrheit entpuppt sich manchmal komischer als erwartet, denn es ist einfach nachweislich so, dass die Wiener ihre historischen Schauplätze wörtlich zur Schau stellen, ganz so als habe man es nötig darauf hinzuweisen, um nicht in der Bedeutungslosigkeit der Zeitläufe unterzugehen. Man verfährt auch in diesem Fall in Wien getreu dem von Helmut Qualtinger geprägten Vorgehen: „In Wien musst’ erst sterben, dass s’ dich hochleben lassen. Aber dann lebst’ lang!“

Es kann also nicht verwundern, dass auch der Mythos Wien als unverwüstliches Original fortlebt. Die vermeintliche Hassliebe eines Karl Kraus oder Thomas Bernhard findet in Kreislers Prosaminiaturen ihre dezidierte Fortsetzung. Wenn auch in vielerlei Hinsicht ungleich verspielter, erinnert dieser Band zudem an Texte Alfred Polgars, der mit seiner unverkennbaren Melodie wie kein Zweiter das gute alte Wien beschrieben hat. Gewiss ist Georg Kreisler in seiner Darstellung bissiger, ja teils gnadenlos. Dennoch belegt sein Buch eine gewisse Bandbreite in der Beschäftigung mit seiner Heimatstadt, die er keinesfalls verklärt sieht oder gar vernichtend maßregelt. Es ist ein Blick in die Wiener Seele, das ureigene Herz dieser Stadt. Man spürt den Charme ihrer Einwohner, den viel gerühmten Wiener Schmäh. Und wie sooft liegen Lachen und Weinen auch hier beieinander, etwa in der Episode „Ein echter Wiener“, der bis zum Schluss an ein lebenswertes Leben glaubt und deshalb nicht untergeht. Wenn das Buch schließlich mit dem Bild des nahen Todes spielt, dann ist dies die letzte Reminiszenz an den typischen Wiener Humor, der selbst noch den Tod zu huldigen versteht. Ohne dies würde dem Buch tatsächlich etwas typisch Wienerisches fehlen.

Dennoch kommt an manchen Stellen ein wenig Wehmut auf, was durchaus biografisch gedeutet werden kann. Kreisler lebte ja kurz nach seiner Rückkehr nach Europa für ein paar wenige Jahre in Wien, ging dann nach Berlin und lebte später in Salzburg, wo er 2011 verstarb. Er hat es dem österreichischen Staat bis zuletzt übel genommen, dass ihm dieser seine Staatsbürgerschaft nach dem Krieg nicht wieder zuerkennen wollte. Vielleicht, so könnte man spekulieren, ist dies auch einer der Gründe, die ein zweites Mal diesen Band hervorbrachten. Die von Kreisler vorgenommenen Wertungen sind hingegen zumeist offen und lassen genügend Raum für eigene Lesarten. Dies macht zweifellos auch eine bedeutende Qualität des Buches aus, das auf der einen Seite zwar bissig-pointiert geschrieben ist, seine Leser aber trotzdem wie mit offenen Armen empfängt. Eine solch liebevoll und zugleich kritische Art, mit der Heimatstadt umzugehen, fand man  bisher selten.

Wien bleibt eben doch immer Wien, egal wie sehr es sich in den letzten 30 Jahren verändert haben mag. Trotz U-Bahn-Bau und Wolkenkratzern in der UNO-City, diese Textminiaturen von Kreisler treten den Beweis an, dass sich die österreichische Hauptstadt immer treu geblieben ist. Darum lohnt es sich auch, dieses Buch zur Hand zu nehmen, da es mit den derzeit am Markt äußerst beliebten Gebrauchsanweisungen für Stadt, Land und Leute mithalten kann. So erfährt man, wieso in Wien die Uhren einfach anders gehen. Ein Phänomen, an dessen Beschreibung sich schon etliche Autoren vergebens abgearbeitet haben. Kreisler gelingt es, dieses Märchen mit einem Augenzwinkern zu erzählen. Dies könnte zumindest ein Plädoyer für jene berühmt gewordene Spitze Gustav Mahlers sein, der meinte: „Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien – denn dort geschieht alles fünfzig Jahre später!“

Damit ist dieses Buch ein überaus amüsanter und kurzweiliger Begleiter für alle Wienfreunde und -kritiker, für Touristen und Gebürtige gleichermaßen. Da verzeiht man den peinlichen Druckfehler gleich auf der ersten Seite des Vorwortes gern, wenn es heißt: „Jeder österreichische Bundeskanzler ist Wieder, auch wenn er in Tirol oder Vorarlberg aufgewachsen ist.“ So gewinnt der Text eine zugegebenermaßen unfreiwillige Komik, die dem satirischen Tenor des Buches entspricht. Um mit einem definitiven Nicht-Wiener, dem berühmtesten Detmolder, Christian Dietrich Grabbe, zu sprechen: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung finden in diesem Werk eine sehr prägnante sowie lesenswerte Ausprägung.

Titelbild

Georg Kreisler: Wien. Die einzige Stadt der Welt, in der ich geboren bin. Satiren.
Atrium Verlag, Zürich 2011.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783855353668

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