Büro und Bleistiftgebiet
Zwei Robert Walser-Anthologien erschließen neue Werkzugänge
Von H. Ernst Stöckmann
Es ist vorteilhaft, ihn möglichst immer in der Tasche zu haben – aus vielerlei Gründen. Beispielsweise weil er zu den Autoren gehört, mit denen fertigzuwerden in etwa so wahrscheinlich ist wie das dauerhafte Nachlassen von Appetit. Oder weil seine schnörkelreichen Dichtungen stets so zielsicher ins Fantastisch-Übersteigerte, Heiter-Satirische, Worterfinderisch-Skurrile führen, dass noch ihr Zeitdiagnostisches und Bekrittelndes wohltuend poetische Grundzüge trägt. Umso erfreulicher, dass jetzt zwei neue Anthologien vorliegen, die zentrale Schlüssellochsichten in den Walser’schen Werkkosmos bieten, das Interesse nach einer handlichen Textform bedienen und sachkundig einführen in eine ungebrochen faszinierende Poetik und Ästhetik.
So mag die Strategie beider Herausgeber – Reto Sorg und Lucas Marco Gisi – gelautet haben, und sie ist aufgegangen. Während der thematisch orientierte Taschenbuchband „Im Bureau“ Walsers auch stilistisch facettenreiche Perspektiven auf das Angestelltenleben versammelt, organisiert die gestalterisch so aufwändige wie auffällige Oktavformat-Ausgabe Walsers „Mikrogramme“ als textliches und ästhetisches Gesamtkunstwerk. Die bewährten Walser’schen Basisausgaben bei Suhrkamp – die sechsbändige Edition „Aus dem Bleistiftgebiet“ sowie die zwanzigbändige Werk-Einzelausgabe – sind damit durch zwei unterschiedliche Konzepte sinnvoll ergänzt. Prädikat: Lohnenswert für die Neu-Gierigen der Walser’schen Artistik, bereichernd für ihre Liebhaber.
Die faktische Enge und öde Betriebsamkeit der Bürowelt hatte der junge Robert Walser als Banklehrling (Bern), Commis (Basel) und Bankangestellter (Zürich) selbst kennengelernt. Schon der vierzehnjährige Gehilfe wusste sich selbst zu helfen, diente nicht nur den Herren des Comptoirs, sondern – weit willfähriger – der Poesie: Büro und Dichterexistenz schienen einander zu bedingen. Wie die scheiternden oder obsiegenden Bürohelden des vorliegenden Bandes schlug Walser im laufenden Angestellten-Betrieb dichterische Funken, fand er das Gegenstück zur entzaubert-entzaubernden Arbeitswelt. Seine Gedichte und Kurzprosatexte zur Angestelltenexistenz (noch als freier Schriftsteller in den 1920er-Jahren empfand Walser sich als Angestellter – des Literaturbetriebs) entwerfen satirische, später zunehmend ironische Innen- und Gegenwelten zum bürgerlichen linearen Karrieremodell. Büromenschen zwischen Pflichtbewusstsein und Verträumtheit führen die Texte vor, Angestellte, die keine sind: Noch in der prompten Faulheit und Arbeitsverweigerung behaupten sie ihren freiheitlichen Lebensanspruch gegenüber der Vereinnahmung als Ware Arbeitskraft. Nur halb Knechte also (eigentlich halb Herren) wissen sie mit einem gewissen Übermut Sand ins Getriebe des Befehlsempfängertums, kafkaesk routinierter Abläufe zu streuen, reißen sie mit wortgewaltiger Regie den Dienstbetrieb an sich (das Büro, heißt es in einem Dialogstück, ist die „Bühne“), ja wird das Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Bürochef und Commis mitunter jäh entkräftet.
Walsers für die „Bureau“-Anthologie versammelten Texte zur Angestelltenthematik – Prosastücke, dialogische Szenen, Gedichte aus dem Zeitraum 1897 bis 1931/32 – es sind also nicht nur einmal mehr Bravourstücke der autortypischen: heiterkeitsgeladenen, wortakrobatischen, haltungsbezeugenden, charmanten Umständlichkeitsrhetorik. Es sind, bei aller Freiheit in der dichterischen Form, Psychogramme des scheinbar braven („politisiert hat er stets sanft“), rhetorisch souveränen Angestellten. Es sind soziologische Kleinabhandlungen des schüchternen Bürolehrlings, den Tagträumerei und Fabulierlust sicher aus dem Sumpf des Kanzleialltags hieven. Und es sind kulturanthropologische Essays über das Verhältnis von fremdbestimmter Arbeitswelt und individueller Überlebenskunst. Typusbestimmungen – mit poetischem Überschuss.
„Literarisierung des kleinen Mannes, der sich seiner (An-)Stellung bewusst wird“, benennen Gisi und Sorg diese Leistung der Walser’schen Angestellten-Phänomenologie denn auch treffend im Nachwort. Das ordnet kundig auch Walsers bleibende Leistungen für die Gattung der Angestelltenliteratur (neben Gogol, Tolstoi oder Raabe bliebe Georg Weerth noch zu entdecken) historisch ein. Nach der Lektüre von Texten wie „Der Commis“, „Das Buebli“ oder „Der Gehilfe“ weiß man zudem, was einer so „stolzen Seele“ wie der des Kontoristen das (rhetorische) Büro-Heldentum so versüßen kann: das aufmerksamkeitsfördernde und eigensinnige „Ausfaulenzen“, die mutwillige Tagträumerei gegen alle betriebserforderliche Beschleunigungshektik, das wortakrobatische Verballhornen von Vorgesetzen und nicht zuletzt ein wahrhaft genüssliches, Tristesse-bemeisterndes Zeittotschlagen. Zwar hat der Erzähler der Walser’schen Texte ein Vademekum gegen das Fronartige lohnabhängiger Arbeit nicht expressis verbis formuliert. Zwischen den Zeilen der gauklerisch-skurrilen Reden der Büroangestellten Glauser oder Helbling schimmert es allerdings deutlich durch. Wer so protestiert dagegen, „vermontaget“ zu werden; wer bereit ist, ‚im Geist Karriere zu machen‘ statt realiter, oder wer ‚gern gehorcht und sich leicht widersetzt‘, hat wohl gute Voraussetzungen, um zu den würdigen Walser’schen Angestellten-Seelen zu gehören und ihren Trumpf auszuspielen: Jenseits von Rebellion oder Gehorsam „äußerst verwandlungsfähig“ zu sein. „Und wenn er’s zu nichts bringt, so hat er doch reich gelebt: er hat gewollt!“
Mit Walsers Mikrogrammen betritt der Leser andere Räume. Nicht thematisch fest umschlossene Ganzheiten bestimmen hier das Bild, sondern ein maximales dichterisches Funkeln in kurzen Prosatexten, Gedichten, Skizzen, die mit ihren raschen Richtungswechseln beständig Fahrt aufzunehmen scheinen. Aber auch um ein Faszinosum in ästhetischer Hinsicht handelt es sich bei diesen Texten aus dem von Walser selbst so bezeichneten „Bleistiftgebiet“. Schon vor 1920 hatte ihn eine Krise des Schreibens ergriffen, ein – nach eigenen Aussagen – „Schreibfederüberdruß“, aus dessen Verkrampfungen er sich „auf dem Bleistiftweg“ zu befreien suchte. Eine aus winzigen, winzigsten Buchstaben zusammengesetzte Kurrentschrift sollte dem mit der Feder hadernden Schriftsteller „mühsam, langsam“ den Weg hierzu ebnen. Im Zeitraum von etwa 1917 an bis zum Jahr 1933 entstand so jene legendäre „Miniaturkunst“ der Mikrogramme, von denen 526 überliefert sind. Überliefert freilich als schier unhebbarer Schatz zunächst. Bis zum Jahr 2000 dauerte die Erschließung dieses für unentzifferbar gehaltenen Bleistiftsystems durch die bahnbrechenden Transkriptionsarbeiten von Bernhard Echte und Werner Morlang. Es gehört zur editorischen Meisterleistung der vorliegenden Anthologie, dass Walsers – auf unterschiedlichen Papierträgern notierte – Mikrogrammkunst nun erstmals auch durch ganzseitige Farbabbildungen in Originalgröße zur Geltung gebracht und damit in ihrer ästhetischen Faszinationskraft vermittelt ist.
So bietet die Auswahledition der Herausgeber (neben Gisi und Sorg noch Peter Stocker) textlich und ästhetisch eindrucksvoll komprimierte Einblicke in Walsers mikropoetisches Bleistiftgebiet. Repräsentativ ist die Textauswahl: Auf der Grundlage der sechsbändigen Ausgabe von Echte und Morlang kommen 33, zu Walsers Lebzeiten unveröffentlichte Mikrogramme aus dem Zeitraum Oktober 1924 bis November 1928 – aus seiner Berner Zeit also – zum Abdruck. Diese durchweg gutgelaunten Kurzprosagebilde beginnen in medias res und titellos, so irrlichternd wie „Vor zirka zweihunderttausend Jahren“, „Diese Schneelandschaft wünsche ich mir hübsch“, „ Sonst zieh ich mir immer erst einen Prosastückkittel. Als „Essay“, „Novelle“, sogar „Aufsatz“ klassifizieren sie sich zuweilen selbst. Die Bezeichnung „närrische Geschichte[n]“ trifft ihre textliche Leistungskraft insgesamt freilich besser: Nicht Realität nämlich abzubilden, sondern – auf dem „Fond von Tatsächlichvorgekommenheiten“ – Wirklichkeiten zu erzeugen, in denen Zentrales peripher wird, Phantastisch-Poetisches auf die Ebene des Wahrscheinlichen gehoben wird. Die burleske Spottgeschichte etwa mit den Protagonisten Krokodilowky oder Picknick etwa („Diese Geschichte ist eine eher drollige als schöne…“), die prägnante Dialogszene über die Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit („Die Jungfrau“ / „Der Befreier“), die erotisch-groteske Besteigung einer Frauenlandschaft durch ihren Liebhaber („Ohne mich lang zu besinnen, nenne ich ihn Olivio“) oder die wahrhaft schauerliche Kastrationsgeschichte („Vor Wut über ihre Wut war sie grün“) – gerade Walsers Talent zur Groteske, zum fantastisch Überbordenden, und natürlich: zur sprachgewaltigen Worterfindungskunst, scheint in diesen Mikrogrammen wie entfesselt. „[D]ie Worte springen mir wie Löwen / aus dem Käfigmund heraus“, heißt es im Poem „Mimosa“. Das ist so ungefähr das sprachliche Gegenbild zum Lord Chandos des Hofmannsthalschen „Briefs“.
Welcher literaturhistorische Sprengstoff in solchen und ähnlichen provokatorischen Einlassungen versammelt ist, kann der Kommentarteil der vorliegenden Ausgabe schon aus Platzgründen nur punktuell erfassen. Diesbezüglich bleibt die Werkausgabe die maßgebliche Referenzquelle. Das prägnante Nachwort mit seiner entstehungsgeschichtlichen Einordnung von Walsers Mikrografie bietet jedoch ausreichend Anknüpfungspunkte für die eingehendere thematische Auseinandersetzung. Darüber hinaus kommen die Erläuterungen hier allen Interessenten der Mikrografie als Kunst für das Auge in vorbildlicher Weise entgegen: Neben kurzen Erläuterungen zum jeweiligen Text findet sich im Einzelkommentar ein verkleinertes (!) Abbild des jeweiligen Mikrogramm-Blatts mit rot markierten Vignetten, wodurch die Lage des jeweiligen Textes auf Walsers vielgestaltigen Papiersorten exakt nachvollziehbar – und ein Grundproblem der Walser’schen Mikrogrammatik deutlich wird (mit den Worten der Herausgeber): „Wo hört ein Text auf? Wo beginnt der nächste?“ Weil es im gesamten Textkorpus nach wie vor auch unsichere Textstellen gibt – unentzifferte, fehlende oder nicht eindeutig zu transkribierende – bleibt Walsers Mikrogramm-Welt wohl auch weiterhin geheimnisumweht. Auch das wird man ein Verdienst dieser gelungenen Ausgabe nennen dürfen.
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