Geschwätzige Wesentlichkeit

George Steiner geht in seinem Essay „Gedanken dichten“ gegen die Geschwätzigkeit der Gegenwart an, hat aber nicht mehr zu bieten als den Generalverweis aufs Wesentliche

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Philosophen denken und Dichter dichten – extremer könnten Gegensätze kaum sein, auch wenn sich beide der Sprache bedienen und des Textes, um sich auszudrücken und das Ausgedrückte festzuhalten. George Steiner sieht nun gerade darin eine notwendige Gemeinsamkeit, sind ihm Dichten und Denken doch lediglich unterschiedliche Modi der Bewältigung von Welt, die sich ausschließlich in sprachlicher Form bewerkstelligen lässt. Damit bewegt sich Steiner auf einer allgemein verbreiteten Ansicht im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, denn dass „die Grenzen unserer Welt jene unserer Sprache“ sind, mehr noch, dass „jeglicher Zugang zur Existenz letztlich sprachlich“ ist, kann auf breite Zustimmung hoffen. Ein Merksatz wie „Ontologie ist Syntax“ hat jedenfalls gute Chancen auf eine weite Streuung, unabhängig davon, ob sich hinter ihm ein poularisierter Wittgenstein oder ein verknappter Heidegger versteckt.

Dass Denken notwendig sprachlicher Natur ist, dass es sich in keinem luft-, soll heißen, sprachleeren Raum bewegt, lässt eben auch vermuten, dass die Art und Weise des sprachlichen Ausdrucks, die Rhetorik und Struktur von Sprache, mithin der Stil etwa eines Textes (als Fixierung eines sprachlichen Gebildes) Auswirkung auf sein philosophisches Konzept hat. Tatsächlich: „Stil ist Substanz“, wie eine andere hübsche Sentenz Steiners lautet, und daraus leitet sich auch der schön verspielte deutsche Titel seines neuen Essays ab, den er nunmehr bei Suhrkamp hat erscheinen lassen: „Gedanken dichten“.

Frei nach Brecht und im Umkehrschluss hieße das zwar, dass wer unbequem schreibt, nicht gut denken können wird, was man manchem Kollegen hinter die Ohren schreiben könnte. Aber auch wenn damit nicht gemeint sein kann, dass der, den man nicht auf Anhieb versteht, kein guter Denker sein kann. Ein bisschen Mühe darf man jedem zumuten, wenn denn schon alles überhaupt immer komplizierter wird.

Aber die Tonalität von Texten steht für alle die, die sich mit ihnen abgeben, wohl außer Frage, was nicht bedeutet, dass ein guter Denker auch ein guter Schreiber ist (der Fall Heidegger lässt das wenigstens vermuten, unterstellt, dass er ein guter Denker ist; aber wer sich selbst von Steiner „Werkmeister der Tautologie“ nennen lassen muss, wird kaum auf Generalzustimmung hoffen können, die NS-Verwirrungen beiseite gelassen). Immerhin ist aber durchaus mit Recht von einer „Musik des Denkens“ zu sprechen, wenn es denn Textgestalt angenommen hat (im Vorfeld wird man sich schlecht darüber verständigen können), auch wenn die „Ordnung der Wörter“ nicht notwendig den „manifesten Zusammenhang des Kosmos widerspiegelt“, wie Steiner Nietzsche paraphrasiert.

Zugestanden, einfach macht sich Steiner seine Überlegungen nicht, denn es geht ihm nicht um den Generalzugriff auf Welt, sondern auf den Zugriff mit Bedeutung. Zwar lässt er in seinen einleitenden Überlegungen Groschenhefte neben den Kritiken Kants stehen, beides sind ihm Sprachhandlungen, aber gleich gültig sind sie ihm trotzdem nicht. Das hätte man angesichts der Palette von Gewährsleuten bereits ahnen können, zwischen Heraklit und Heidegger, Homer und Celan fährt Steiner alles auf, was Rang und Namen hat. Und er beschränkt sich dabei nicht nur auf die antiken Größen, so widersprüchliche Autoren der Moderne wie Brecht, Michaux, Sartre, Joyce, Faulkner und Proust sind ihm gleich wert, Heidegger und Wittgenstein nicht weniger. Steiner kennt und schätzt – natürlich – alles, was man kennen muss, wenn man George Steiner ist. Und das macht gerade vor dem 20. Jahrhundert nicht halt.

Horizont und Belesenheit sind nun keineswegs Nachteile, wenn jemand aufs Große, Ganze aus ist. Und allzu konservativ gibt sich Steiner auch nicht, zumindest nicht, wenn man seine Vorgänger aus den zwanziger und dreißiger Jahren heranzöge: Literarisch und philosophisch ist ihm das 20. Jahrhundert keine Verfallszeit. Einen Ekel vor der Moderne hegt er nicht. Auch wenn sich die moderne Literatur – in den Augen der Altkonservativen – mit Vorliebe im Schmutz wälzte, geht sie dennoch in ihren großen Werken auf das Wesentliche aus, und das muss – nach neuerer Erkenntnis – nicht immer schön, gut und einfach sein.

Zumindest auf den ersten Blick, denn die spezifische Rhythmik großer Literatur (und vielleicht auch Philosophie) ist nicht immer eingängig und einfach zugänglich. Sie braucht eben auch das Bemühen um Erkenntnis und auf mittlere Sicht auch einiges an Kenntnissen (wo zum Beispiel anzusetzen ist, um einen dadaistischen Text in irgendeiner Weise angemessen wahrnehmen zu wollen).

Allerdings steckt in diesem Ansatz eben auch ein Bemühen um Distinktion, das die Grenzen der Welt, in der sich Steiner bewegen will, allzu deutlich kenntlich macht. Und die ist nicht mehr allein von Sprache bestimmt, sondern vom „Wesentlichen“, was immer das auch sein mag.

Nun mag einem die gegenwärtige Medienwelt – um sich darauf zu konzentrieren – nicht behagen: Sie ist grell, geschwätzig, laut und ziemlich oberflächlich. Für Steiner zeugt das moderne Sprechen vom Rückzug aus dem Wort, von der „Abweichung“ von „jeglicher theologisch, transzendental verankerten doxa universellen Sprachgebrauchs und kognitiver Gewißheiten“ – was man, so ausgesprochen, ja auch nur begrüßen kann. Denn im Namen so begründeter „doxa“ sind wohl einige der größeren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die gute Literatur verübt worden. Wenigstens letzteres ist mit Namen wie Ernst Wiechert verbunden, der im Kanon Steiners natürlich nichts zu suchen hat, aber dem schon in den 1930er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Welt im Geschwätz versank. Vielleicht kann man einfach auf solche Verfahren verzichten, ohne gleich alles toll zu finden, was geschieht?

Hilfreich wäre dabei möglicherweise auch ein wenig mehr Klarheit und Offenheit, und vor allem weniger Abscheu vor dem, was gern Geschwätz oder Gerede genannt wird, eben auch von Steiner. Denn auch Wesentliches ist vom Albernen nicht allzu weit entfernt, wie sich in dem Moment zeigt, in dem Steiner seine These von der Nähe von Dichtung und Philosophie in ein Bild zu fassen sucht, in der missratenen Begegnung von Martin Heidegger und Paul Celan, die in einem verregneten und anscheinend schweigsam verlaufenen Spaziergang (natürlich eine Wanderung) kulminierte: „Souveränes philosophisches Denken, souveräne Dichtung Seite an Seite, in unendlich bedeutendem, aber unsagbarem Schweigen. Ein Schweigen, das die Grenzen der Rede sowohl bewahrt als auch sich müht, sie zu transzendieren.“

Was soll das sein? Ein Scherz? Eine bedeutungsschwangere Anekdote? Ein Beweis für irgendetwas? Der Ausweis hermeneutischer Sensibilität? Oder nur sich höher gebender Unsinn? Was Celan an Heidegger und umgekehrt gefunden haben mag, kann man vielleicht auf sich beruhen lassen oder aber ausdiskutieren – irritierend bleibt sie, vor allem was die Wertschätzung Celans angeht –, aber aus einer missglückten Begegnung auch noch Funken für den Widerstand gegen die geschwätzige Moderne zu schlagen? Das ist Bedeutungskitsch und eben nicht bedeutend. Das zeigt am Ende nur, dass Steiner sich lieber in der weich gezeichneten Welt seiner Dichter und Denker bewegt als in einer Gegenwart, die mit ihnen vielleicht tatsächlich immer weniger anzufangen weiß (und das aus gutem Grund).

Vielleicht liegt darin auch der Grund dafür, dass Steiner über lange Seiten hinweg nicht eng an seinem Thema entlangschreibt, sondern vor allem Geschichten erzählt, Wertschätzungen wuchern lässt und seine Belesenheit demonstriert – bewundernswert, aber konzentriert geschrieben? Das wohl eher nicht.

Damit aber reiht sich Steiner in die merkwürdige Wendung der jüngeren Geisteswissenschaft (der der ältere Herr ein guter Stichwortgeber sein wird): Statt die Anforderungen, die die Ökonomisierung der Lebenswelt an sie stellt, anzunehmen, zieht sie sich – nicht zum ersten Mal – in den gewohnten Elfenbeinturm zurück, statt sich der Ausdifferenzierung auch der Wissenschaften zu stellen, die eben auch zu immer ausdifferenzierteren Sprachformen führt, die miteinander immer weniger kompatibel sind, beschränkt sie sich auf methodische Spielereien, statt die Medialisierung der Realität zu moderieren betreibt sie feinsinnige Klöppelarbeiten, in denen sie vor allem die eigene Belesenheit demonstriert – nebenbei eine Medienkompetenz, die am Ende vor allem anachronistisch ist.

Dabei sind Steiner die Grenzen seiner Welt mehr als bewusst, wenn er in seinem Ausblick auf eine Welt blickt, in der das Denken nicht sprachlicher, sondern biochemischer Natur ist. Dem kann er immerhin die Möglichkeit abgewinnen, dass auch darin ein Abenteuer stecken mag. Ihm ist eben auch klar, dass die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert kläglich versagt haben. Und dennoch bleibt er ihnen treu. Immerhin, das darf man ihm zugestehen, aber eben nur ihm.

Titelbild

George Steiner: Gedanken dichten. Essay.
Übersetzt aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
306 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422618

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