Die Verwundbarkeit der Privilegierten

Über Heinz Budes Buch: „Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet“

Von Falk QuenstedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Falk Quenstedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bildungsapartheid“, „soziale Endogamie“ oder „Bildungsghetto“. Mit diesen der Geschichte des Rassismus entlehnten Begriffsschöpfungen, die absichtlich die Tabuzone politisch korrekten Formulierens streifen, hat Heinz Bude, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Professor für Makrosoziologie in Kassel, die Bildungsdebatte in eine Richtung zu lenken versucht, die sie bisher – leider – nicht eingeschlagen hat. Er tat das mit Vorträgern oder Interviews, wie etwa kürzlich in der taz, und mit Büchern wie „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“ (2010) oder „Exklusion. Die Debatte über die ‚Überflüssigen‘“ (2007).

Obwohl die immer drastischer werdende Chancenungleichheit in deutschen Schulen ein medialer Dauerbrenner ist, wie die Aufmerksamkeit bezeugt, die den einschlägigen, immer aufs Neue „alarmierenden“ Studien, sei es PISA oder die Bertelsmann Stiftung, zuteil wird. Obwohl sich unzählige „Reality-Formate“ im Fernsehen, aber auch Reportagen im Radio oder in Magazinen sich dem Thema widmen, bleibt der Eindruck, es wird immer schlimmer.

Eine der zentralen Thesen in Heinz Budes Buch „Bildungspanik“ ist aber, dass diese Studien und medialen Inszenierungen das Problem eher verstärken als ihm abhelfen. Indem sie zum einen durch die Herstellung von Vergleichbarkeit Konkurrenz zwischen Bildungsinstitutionen befeuern (was mithin erklärtes Ziel der Auftraggeber der Studien, etwa der OECD, ist) und indem sie zum anderen die Situation medial derart dramatisieren, dass Wahrnehmungsmuster entstehen, die Kindern, je nach sozialem Herkunftsmilieu, ohnehin jede Chance im Leben entweder absprechen oder zuschreiben. Letzteres aber auch nur unter der Bedingung, dass sie von früher Kindheit an hart an sich arbeiten.

Bevor Bude sich anschickt, eine dritte Perspektive auf das Problem zu etablieren, eine Perspektive jenseits der bildungspolitischen Vorwurfsdichotomie ‚egoistischer Protektionismus vs. weltfremder Idealismus‘, ist seine Empfehlung zunächst: Gelassenheit, bloß keine Panik. Den kühlen Kopf verschafft uns eine gute Nachricht, die er allerdings erst am Ende des Buches präsentiert: „Die Demographie rettet alle.“

Damit stellt sich Bude nicht nur lakonisch gegen Thilo Sarrazins Panikmache, dessen demografisches Armageddon ja vielmehr ‚alle vernichtet‘ (wobei ‚alle‘ vor allem alle diejenigen meint, die in Sarrazins Augen die ‚Deutschen‘ sind). Stattdessen empfiehlt er den vielen, überbesorgten Mittelstandseltern, die ihren Kindern mit den besten Intentionen alle Chancen sichern wollen, darüber aber vergessen, dass sie ihren Kindern damit alle Chancen auf eine unbeschwerte Kindheit nehmen, einen heiteren Optimismus in Bildungs- und Karrierefragen. Sicherlich mit einem zwinkernden Auge. Denn wenn es stimmt, dass die Babyboomer-Jahrgänge der 1960er-Jahre in den 2020ern in Rente gehen und wenn es auch stimmt, dass dann die geburtenschwachen Jahrgänge der späten 1980er und 1990er-Jahre ihre Ausbildung abschließen, dann dürfte Konkurrenz sich eher zwischen den Bildungsinstitutionen und Arbeitgebern etablieren, als zwischen Arbeitssuchenden. Fachkräftemangel wird ja schon jetzt aller Orten beklagt.

Wenn aber die Rettung durch die Bevölkerungsentwicklung bereits angezeigt ist, warum dann noch die provokanten, aufmerksamkeitsheischenden Begriffsbildungen? Weil sich das Problem natürlich trotzdem stellt. Es ist ein Problem der Praktiken und der Mentalitäten, die ja schon immer realer waren, als die Realität. Die Wörter ‚Apartheid‘, ‚Endogamie‘ und ‚Ghetto‘ wählt Bude aber zuvörderst, weil sie tatsächlich exakt und pointiert benennen, was vor sich geht. Es geht um systematische ‚Rassen‘-Trennung, um Anbindung und Vernetzung allein innerhalb der eigenen Gruppe und es geht um Gesellschaften, die sich in zunehmende abgegrenzten Räumen innerhalb der Gesellschaft bilden, um Subkulturen, die ihre eigenen Regeln des Lebens und Überlebens etablieren. Es handelt sich um Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die mehr oder weniger bewusst ablaufen, de facto in Deutschland aber Institutionscharakter bekommen haben. Da helfen auch gute Nachrichten nicht weiter. Hier hilft nur Aufklärung.

Was also sind die Kriterien dieser Mechanismen, wenn es denn keine, so wollen wir hoffen, rassistischen sind? Sie sind beim Bildungsgrad der Eltern, deren sozialem Milieu und ihren Migrationsgeschichten zu suchen. Ein Kind ungebildeter, armer, palästinensischer Flüchtlinge etwa hat ganz andere Möglichkeiten als eine Kind neobürgerlicher Akademiker mit einem Migrationshintergrund von der deutsche Kleinstadt nach Berlin oder Hamburg. Nämlich? Keine.

Das Schulsystem soll Chancengleichheit herstellen. Aber tut es nicht genau das Gegenteil? Warum ist das so? Bude zeigt, dass das Phänomen, welches er ‚Bildungspanik’ nennt, hierfür verantwortlich ist. Es ist der Grund dafür, dass das Schulsystem und die Möglichkeiten staatlicher Regulation bewusst unterlaufen werden, um das eigene Kind zu ‚schützen‘. Das macht Chancengleichheit immer unwahrscheinlicher, weil es Faktoren wie Geld, Zeit und Bildung der Eltern immens aufwertet.

Nicht allein, dass mittelständische, großstädtische Eltern ihre Kinder nicht selten bereits im Vorschulalter in kostenpflichtige Förderkurse und mehrsprachige Kitas schicken. Schlimmer noch ist: Für die Bildung der Kinder ziehen sie um! Weg aus den Stadtteilen, in denen sie sich als lustvoll-prekär existierende Jungerwachsene zu geringen Mieten in morbidem Charme wohlfeil amüsiert haben; was ja immerhin noch das Versprechen in sich trug, dass in solchen Vierteln eine Begegnung zwischen ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen möglich wäre. Statdessen ziehen sie in stabil-gentrifizierte Quartiere, um ihr Kind vor einem hohen „ndh“-Anteil in ihrer Schulklasse, also vor genau einer solchen Begegnung, zu bewahren. Besonders deutlich ist das in dem immer gern als Prügelknaben herangezogenen Prenzlauer Berg zu beobachten, aber auch in anderen Berliner Vierteln wie Friedrichshain oder auch in Hamburg Eimsbüttel.

Das Originelle an Budes Einschätzung ist nun, dass er diesen Endogamieprozess nicht nur als negativ für die im doppelten Sinne ‚Zurückbleibenden‘ ansieht, sondern auch den Mittelstandskindern in Sachen Bildung schlechte Karten ausstellt, weil diese, wenn sie immer nur mit ihresgleichen zu tun haben, nicht auf eine plurale Gesellschaft vorbereitet werden. Bude sieht darin eine reale Gefahr für die deutsche Gesellschaft. Darüber hinaus setzt eine solche Einschätzung natürlich auch einen Bildungsbegriff voraus, der über Kompetenzerwerb hinausgeht.

Bude erzählt in ‚Bildunspanik‘ zunächst die verschiedenen Geschichten, wie es zu dieser Situation kommen konnte. Das Besondere? Er erzählt sie aus den verschiedenen Perspektiven der Beteiligten heraus. Der Schüler, der Eltern, der Lehrer – auch der Politiker und Forscher. Dabei wird diesen politik-, mentalitäts- und auch kulturgeschichtlichen Annährungen an das Thema ein Abschreckungsszenario vorangestellt, dass besonders Budes Kritik an den blinde PISA-Messungen verdeutlicht.

Die Rede ist von Japan. Bei PISA belegt es die ersten Plätze, auch was die Organisation des Ganztagsschulsystems angeht, das egalitär-kooperativ ausgerichtet ist, die Schwachen fördert und Sitzenbleiben (man stelle sich das einmal vor!) gar nicht kennt. Doch ist das nur die offizielle Vorderseite, die ganz gegensätzliche andere Seite der Medaille nehmen die Messungen von PISA nicht in den Blick. Auf der Rückseite herrscht – immer dann wenn keine Schule ist, also spätnachmittags, abends, an den Wochenden und in den Ferien – das Selbsthilfesystem der „Juku“, der privaten und, je nach Renomeé, auch teuren Nachhilfeschulen (50.000 Juku stehn 35.000 Grund- und Mittelschulen gegenüber), der Rankings der Schulen und Universitäten, der Eignungstests an den Übergangsstufen über Schüler und Familien. Auf dieser Rückseite wirkt also ein gnadenloser Konkurrenzdruck, der in der Oberschule, deren Abschluss über den Zugang zur „richtigen“ Eliteuniversität entscheidet, die gesamte Familie für eine gewisse Zeit an der ‚Karriere‘ des Kindes arbeiten lässt. Hier wird ein Paradox deutlich, denn wegen der hohen Kosten für die Juku und Lernmaterialien gehen die Familien für den Statuserhalt ein echtes Verarmungsrisiko ein. Der Druck, dem die Kinder dadurch ausgesetzt sind, ist immens. Wie aber kommt es zu solchen Fehlentwicklungen?

Bude stellt fest, dass die Dynamik von den Familien selbst ausgeht. Sie wollen, was verständlich und menschlich ist, ihrem Kind Vorteile sichern. Doch kann das, wenn die gesellschaftliche Stimmung entsprechend ist, einen Teufelskreis in Gang setzen, der von der Angst der Eltern, etwas zu verpassen (oder etwas in der Erziehung zu versäumen) getragen wird. Das führt zu Bildungspanik: „Wenn man mitbekommt, dass Kinder aus dem Bekanntenkreis auf eine Privatschule geschickt werden, gerät man ganz unabhängig, wie zufrieden man mit der Schule seiner Kinder ist, ins Grübeln.“

Den Grund für diesen Zugzwang macht Bude in Statusverlustängsten des Mittelstands aus. Dieser ist – in Deutschland wie in Japan – Profiteur der Bildungsrevolution der 1970er-Jahre. Sozialer Aufstieg erscheint damit insbesondere und essentiell an Bildung geknüpft. Hinzu kommt eine für den Mittelstand typische – etwa bei Adligen oder Großbürgerlichen aus gutem Grund nicht anzutreffende – „soziale Disposition, bei der der Sinn für Privilegiertheit mit einem Empfinden von Verwundbarkeit zusammenfällt.“ Die Bildung der Kinder soll den Statuserhalt garantieren – auch im bourdieuschen Sinne als eine Erziehung zu gutem Geschmack, adäquatem Habitus und einem Sinn für die ‚feinen Unterschiede‘.

Gerade bei der Schilderung von solchen habituellen Normen und Standards – von gesellschaftlichen Spielregeln also – zeigen sich die Qualitäten nicht nur des Soziologen, sondern auch des Autors Bude, der sich darin als Schüler Erving Goffman oder des gerade erwähnten Pierre Bourdieu erweist.

Jedes Kapitel des essayistisch gehaltenen Buches folgt einem ähnlichen Bauprinzip: Einer allgemeinen, mit Verweisen auf soziologische Klassiker gespickten, trotzdem aber nie trockenen, kurz und anschaulich gehaltenen Schilderung eines spezifischen Problems folgt dessen Beleuchtung aus verschiedenen Perspektiven. Immer wieder setzt Bude dabei exemplarische Situationen in Szene. Er vermag es damit einerseits eine Atmosphäre der Empathie zu erzeugen und Positionen, denen der eine oder andere Leser ablehnend gegenübersteht, zumindest nachvollziehbar zu machen. Andererseits werden so auch die unausgesprochenen Dünkel der verschiedenen Sichtweisen auf eine regelrecht höfliche Weise deutlich gemacht. Budes gelingt es hier, Max Frischs Aufforderung, die Wahrheit den Leuten nicht wie einen „nassen Lappen um die Ohren“ zu schlagen, sondern wie einen Mantel hinzuhalten, in den sie „hineinschlüpfen“ können, umzusetzen. Durch vorsichtige Übertreibungen, treffsichere Pointierungen und eine elegante, nie abschätzige Ironie ist das über weite Strecken auch sehr unterhaltsam zu lesen. Gelegentlich führt dieses ironische Schreiben aber auch dazu, dass die Position des Autors nicht mehr ganz eindeutig zu erkennen ist ist. Dennoch sind diese Passagen die besten des Buches. Die Dinge erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Unbewusst angewöhnte Etikettierung von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ werden mit einem Mal veruneindeutigt. Das Buch hat also literarische Qualitäten.

Ein Beispiel ist die Darstellung der Kommunikationsspielregeln von Hauptschülern. Bildung und Schule ist ihnen, denen innerhalb des Schulsystems, das sie aufs Abstellgleis geschoben hat, kein Ziel mehr. Die verbalen Rangeleien, die am laufenden Band den Unterricht unterbrechen, werden allerdings ‚sinnvoll‘, wenn sie vor diesem Hintergrund als Kompetenzeinübung für eine ganz andere gesellschaftliche Realität verstanden werden: „Man muss blitzschnell sein, darf keinen Gegner unterschätzen und kann nur durch permanente Rollendistanz sein Ich behaupten. Das Reden besteht aus einem endlosen Band von Witzen, Anspielungen und Überzeichnungen, bei dem schwer herauszufinden ist, wann etwas ernstgemeint ist. Nur wen eine Bemerkung trifft, der weiß, dass er sie nicht unbeantwortet lassen darf. Am Ende unterscheidet einen Angriff nichts von einer Verteidigung.“

Ein Fazit: Heinz Budes „Bildungspanik“ ist ein smartes, spannendes, im besten Sinne engagiertes und angenehm unverkrampftes kleines Buch. Nie wird hier der Zeigefinger erhoben, dafür öfter Mal mit dem Auge gezwinkert. Nicht nur für junge Eltern – für die aber umso mehr! – unbedingt lesenswert.

Titelbild

Heinz Bude: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
142 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237612

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