Die Welten eines Grenzgängers

Der Band „Paradox und Wunderschachtel“ versammelt literatur- und kulturwissenschaftliche Essays von Norbert Miller

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der anlässlich des 75. Geburtstags von Norbert Miller publizierte Sammelband „Paradox und Wunderschachtel. Essays“ wurde sowohl in der Tagespresse als auch im Rundfunk wohlwollend aufgenommen. Neben Millers fach- und medienüberschreitender Forschungstätigkeit wurden auch seine Verdienste in der Lehre und die Mitgliedschaften in zahlreichen Gremien herausgestrichen.

Der Sammelband enthält neben acht Aufsätzen von Norbert Miller eine 54 Jahre umspannende Bibliografie sowie ein Vorwort von Michael Krüger. Es handelt sich folglich um eine kleine Auswahl aus dem unzählige Schriften umfassenden Gesamtœuvre Millers. Trotzdem sollte die Vielfalt der behandelten Autoren, Themen, aber auch Epochen und Schwerpunkte durchscheinen und die Neugierde auf weitere Schriften und Herausgaben – der Werke von Johann Wolfgang Goethe oder Jean Paul zum Beispiel – geweckt werden. Eine Aufgabe, die als zweite Aufsatzsammlung desselben Autors (noch) schwieriger zu erfüllen ist.

Der Titel des Sammelbandes „Paradox und Wunderschachtel“ wurde einem frühen Aufsatz(titel) – „Die Welt als Paradox und Wunderschachtel“ (1975) – entlehnt. Die Auslassung aufgreifend können die versammelten Aufsätze als Ausformulierungen der ehemals genannten Welt, als Werte einer Variabel, verstanden werden. Krügers Ausführungen zu Millers nicht realisierten Projekten und dem Prinzip des ‚Stattdessen‘ weisen in eine ähnliche Richtung. So bezeugt nicht nur die Sammlung, sondern jeder einzelne Aufsatz die Weite von Millers Untersuchungsfeld.

Im Gegensatz zur Aufsatzsammlung „Von Nachstücken und anderen erzählten Bildern“ (2002) verfügt der aktuelle Sammelband über keine thematische Einheit. Man könnte allerdings von einer methodologischen Einheit sprechen, wenn wiederum Grenzgänge oder -überschreitungen versammelt sind. Aufgrund der Zusammenstellung der zwischen 1968 und 2005 erschienenen Aufsätze handelt es sich um eine Klammer um den ersten Sammelband herum. Dies legt zumindest die teilweise unveränderte Herausgeberschaft und die Öffnung hin auf weniger dunkle Aspekte nahe.

Mit Blick auf Aufbau und Inhalt von „Paradox und Wunderschachtel“ kann der Frage nachgegangen werden, warum auf eine bestehende Sammlung eine weitere Reproduktion von ausgewählten Aufsätzen folgt.

Sämtliche Aufsätze des Sammelbandes setzen bei einem Paradox im weitesten Sinn an, um in der Ausleuchtung desselben mögliche Inhalte einer Wunderschachtel zutage zu fördern. Hinsichtlich Daniel Defoes Schreiben wird von der konstitutiven Funktion der Differenz von Literaturfeindlichkeit und Lebenswirklichkeit für Defoes Abenteuerromane, in Rückgriff auf Winckelmann von der produktiven Gegenüberstellung von Rom und Athen sowie einer Annäherung durch die Historisierung ihrer Darstellungen und in Hinblick auf Jean Pauls Gärten von der alten Opposition von Anschauung und Verstand ‚erzählt‘. Mit Blick auf das Motiv der ‚Sphinx‘ werden Auf- und Verklärung und ausgehend von Arno Schmidt das längere Gedankenspiel und mögliche Traumwelten einander gegenübergestellt, während der Aufsatz zu Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ von Beginn an die Opposition als ein ‚Sowohl … als auch‘ entlarvt. Diese Figur prägt auch den Aufsatz zu W. H. Audens Verhältnis zur Musik, wo die Abgrenzung der Dichtung zur Musik als Garant ihrer Musikalität beschrieben wird. Im letzten Aufsatz sind es die räumlichen Inversionen, die ausgehend von Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ wiederum Oppositionen und deren Auflösung(en) auf den Plan rufen.

Während die Bibliografie am Ende des Bandes den Zugang zu weiteren Schriften Millers erleichtert, gewähren die einzelnen Aufsätze Einblicke in Millers Forschungsuniversum. Die im Titel kondensierte Figur der Kopplung von Unvereinbarem kann als Schlüssel zu den von Miller behandelten literarischen Welten dienen.

Millers Argumentationen rekonstruieren sehr genau ihren Untersuchungsgegenstand, der in Anschluss kritisiert und (im hegelschen Sinn) aufgehoben wird. Dies scheint nur vordergründig unvereinbar mit dem von Millers ehemaligen SchülerInnen und HerausgeberInnen des Bandes gewählten Untertitel ‚Essays‘. Der narrative, elegante Stil steht nicht im Widerspruch zu den jeweils erfolgenden historischen Situierungen der behandelten Autoren und Themen, sondern ermöglicht eine Hinführung zum Untersuchungsgegenstand, die den Kontext berücksichtigt und Interesse weckt.

Indem Miller die Leserschaft an seiner Urteilsfindung teilhaben lässt, wecken die nicht an jeder Stelle vermittelten Oppositionen und Parteinahmen statt Widerstand ein vertieftes Nachdenken über das Gelesene. Millers Aufsätze regen so zum Mit- und Weiterdenken an, indem sie letztlich als Gesprächsangebote für jede/n einzelne/n Leser/in, aber auch für unterschiedliche Disziplinen fungieren. Das millersche (Forschungs)Universum wird durch die Aufsatzsammlung ausschnittsweise beleuchtet, allerdings nicht so, dass die Neugierde auf Millers Wunderschachtel(n) kleiner geworden wäre.

Titelbild

Norbert Miller: Paradox und Wunderschachtel. Essays.
Herausgegeben von Markus Bernauer, Constanze Baum, Gesa Horstmann, Cornelia Ortlieb und Petra Plättner.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
310 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835310902

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