Kann denn Liebe Sünde sein?

Christoph Peters fünfter Roman „Wir in Kahlenbeck“ erzählt von großen Themen – und von einem Internatsschüler, der in ihnen irrt

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weckdienst, Morgenmesse, priesterlicher Lateinunterricht, Silentium, Vorsprechen beim Präses, anschließender Strafdienst, Beichten, Rosenkranzbeten – Schulalltag in einem katholischen Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Ein Schulalltag, der einer fernen Zeit zu entstammen scheint, der beinahe nach Internatsliteratur des Fin de Siècle klingt, oder der ausgehenden Weimarer Republik – wären da nicht die Schüler mit ihren Pilgerwanderungen zur holländischen Pommesbude, die im Schrank hinter Kleiderstapeln versteckten Tütensuppen (Geschmacksrichtung Tomate oder Champignon) und die eindringliche Stimme des Genesis-Sängers Phil Collins, die allabendlich aus den Schlafstuben schallt. Es ist der Schulalltag des Internatsgymnasiums Collegium Gregorianum Kahlenbeck im Deutschland der beginnenden 1980er-Jahre.

Die alten Gemäuer des ehemaligen Klosters sind der Schauplatz von Christoph Peters Roman „Wir in Kahlenbeck“, der im August im Luchterhand Literaturverlag erschien und jüngst von der Jury des Deutschen Buchpreises für die Longlist 2012 nominiert wurde. Idyllisch zwischen Seen und Wiesen, Feldern, Weiden und Wäldern gelegen, wird die steinerne Lehranstalt für den Tertianer und Protagonisten Carl Pacher jedoch zum sinnbildlichen Kampffeld, auf dem Alltag und Glaube, Erwachsenwerden und Erziehung, Sehnsucht und Ehrfurcht, Verlangen und Moral, Liebe und Todsünde ihre Kräfte messen.

Carl, zu Beginn des Romans gerade 14 Jahre alt, ist eigentlich das, was in Kahlenbeck wohl als Musterschüler gelten dürfte: Er ist fleißig, gläubig, gehorsam und ehrerbietig, ganz anders als viele seiner Altersgenossen, die während des Gottesdienstes lieber Spuckefäden über dem Gesangbuch pendeln lassen, als im stillen Gebet dem Leiden Christi zu gedenken. Doch wie der Frühling allmählich in die Natur um Kahlenbeck einkehrt, so erwachen auch in Carl neue Gefühle, die sein bisheriges Leben auf den Kopf und seinen Geist auf eine harte Probe stellen. In Küchenmädchen Ulla (oder Ursel oder Usch, den genauen Namen kennen die Internatsschüler nicht so genau) erfüllen sich all seine pubertären Bedürfnisse, Träume und Sehnsüchte. Es sind die ersten Zeichen der Liebe und doch kommen sie Carl wie eine Bedrohung vor. Sie schüren Zweifel an seiner Liebe zu Gott, gleichzeitig aber auch an der kirchlichen Lehre, den mahnenden Worten des Präses Roghmann. Denn die Liebe zu einer Frau, so sagte er Carl einst im Vertrauen, das „ist eine der gefährlichsten Fallen des Teufels. […] und ehe man sich versieht, ist man sexbesessen.“

Doch kann die Liebe wirklich Sünde sein? Für den heranwachsenden Carl entsteht ein Konflikt, um dessen Lösung er geradezu fieberhaft ringt. Als schließlich sein innigster Wunsch wahr und die vier Jahre ältere Ulla seine Freundin wird, kann er sein Glück kaum genießen. Körperliche Begierden überschatten nur noch mehr sein Gewissen, vergrößern sein moralisches Dilemma. Sind sie Prüfungen des Teufels und droht er, sie nicht zu bestehen?

Mit großer erzählerischer Verve zeichnet Peters mit „Wir in Kahlenbeck“ eine eindrucksvolle Welt, eine Art zeitenthobene Enklave, die seltsam fremd, fast märchenhaft, grotesk scheint und doch durch Authentizität und Lebensnähe besticht. Der Eindruck kommt nicht von ungefähr. Denn ein so genanntes „Kahlenbeck“ gibt es tatsächlich. Es liegt ebenfalls am Niederrhein, nur wenige Kilometer von der holländischen Grenze entfernt: Im Collegium Augustinianum Gaesdonck – ein katholisches Internat für Jungen und mittlerweile auch Mädchen – war der 1966 in Kalkar geborene Peters in den 1980er-Jahren selbst Schüler, absolvierte 1986 dort sein Abitur. Seinen mittlerweile fünften Roman deshalb aber als autobiografisches Werk, als eine Form der Aufarbeitung der eigenen Adoleszenz oder gar als „Abrechnung“ mit der Strenge, den Entsagungen, den Regeln und Verboten durch die katholisch-konservative Schulerziehung zu lesen, würde „Wir in Kahlenbeck“ in keinster Weise gerecht. Denn die große Stärke des Buches ist es gerade, dass es nicht anklagt, nicht verteufelt oder Schuldige ausmachen will. Mit großem Geschick lässt der Erzähler große, zeitlose Themen und ihre Widersprüche in der Figur Carls virtuos zusammenlaufen und Zwiegespräch halten: So will Carl aus tiefstem Herzen frommer Christ sein, fürchtet aber mögliche Häme seiner Altersgenossen. Er hält fest an traditionellen Ritualen der Glaubensausübung und zweifelt zugleich an ihrer Richtigkeit. Er will ein guter Mensch sein, quält und drangsaliert jedoch jüngere Internatsschüler. Seine Liebe will er allein auf Gott richten, kann sich aber seiner Gefühle und körperlichen Begehren nicht erwehren.

Der wohl spannendste Kontrast allerdings verbildlicht sich in Carls Berufswunsch: Von der Biologie begeistert, möchte er Ichthyologe werden – auch wenn der Primaner Winfried Holzkamp (Carls quasi selbsternannter intellektueller wie geistiger Mentor) darin den Verrat am christlichen Glauben und der göttlichen Schöpfung par excellence sieht. In zahlreichen philosophischen, manchmal gar inquisitorischen und contra-darwinistischen Gesprächen im Zimmer ihres gemeinsamen Freundes Kuffel, appelliert Holzkamp an Carls Gewissen: „So lange du nicht weißt, welche geistigen Prinzipien dem göttlichen Plan zugrunde liegen, wirst du mit hundertprozentiger Sicherheit in die Irre gehen. Die Welt der Erscheinungen ist viel zu komplex, als daß wir über die Beschreibung der Details zu einer brauchbaren Vorstellung des Ganzen kommen können.“ Die Folgen einer rein naturwissenschaftlichen Weltsicht schließlich seien – auf Naturbeobachtungen basierende – Theorien, die der „Wahrheit, Schönheit und Güte der göttlichen Schöpfung“ widersprechen.

Für Carl jedoch ist dieser Widerspruch keinesfalls so offensichtlich. Ganz im Gegenteil. Vielleicht sogar ist der Beruf des Ichthyologen für ihn die einzige Möglichkeit, Gott und Leben gleichermaßen gerecht werden zu können: er könnte ein Mädchen lieben und gleichzeitig missionarisch „Zeugnis vom Wirken der göttlichen Schöpferkraft geben“. Bereits die Bezeichnung Ichthy, seit jeher christliches (Erkennungs-)Symbol, schlägt schon rein sprachlich die Brücke zwischen Glaube und irdischer Weltsicht. Doch scheint seinem Berufswunsch auch eine metaphorische Dimension zuzukommen. In „Wir in Kahlenbeck“ gibt es einen Nebenerzählstrang, eine Art Binnenerzählung, die dies verdeutlicht: Per Sondergenehmigung ist es Carl erlaubt, auf seinem Zimmer ein Aquarium mit Fischen zu halten – um zu beobachten, zu forschen und sich in der Zucht von Makropoden zu versuchen. Über seine Rolle als Forschungsobjekt hinaus wird dieses Aquarium jedoch im Laufe der Handlung mehr und mehr zum Ebenbild von Carls Seelenleben. So kann es kaum Zufall sein, dass Carl ausgerechnet Paradiesfische halten und züchten will, jene Fische, die den Beginn des christlichen Glaubens buchstäblich im Namen tragen. Dass er ihnen Labyrinthfische und Panzerwelse zur Seite stellt, scheint in diesem Zusammenhang auch mehr eine programmatische als pragmatische Entscheidung zu sein. Die Panzerwelse sterben just in den Wochen, in denen Carl sich ganz seiner Beziehung zu Ulla widmet, und die Fortpflanzungsversuche der Paradiesfische unterliegen bis zuletzt der Unentschlossenheit des Männchens, das mal ganz in seiner Rolle als Nestbauer aufgeht, mal dem Weibchen mit prächtigen Farben imponiert und mal aggressiv jegliche Annäherungsversuche verhindert, das Weibchen gar vertreibt, um schließlich desinteressiert vor sich hin zu schwimmen.

Es ist nur eine von zahlreichen Deutungsperspektiven, die „Wir in Kahlenbeck“ eröffnet. Sie aufzuspüren, macht den besonderen Reiz des Buches aus. Peters hat einen wunderbaren Roman geschrieben, von berührender Intensität und mit spürbarem Feingefühl fürs Detail, für kleine Nöte und große Ängste, für komplexe Themen und leise Zwischentöne. Einen Roman, der sensiblisiert ohne zu polarisieren, der nicht beschönigt, aber auch nicht anprangert. Einen Roman mit einem ebenso bestürzenden wie unaufgeregten Finale, nach dem man sich trotz allem wünscht, noch einen kleinen Moment länger in dem von Schulmauern umgebenen Mikrokosmos Kahlenbeck verweilen zu dürfen.

Titelbild

Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
507 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873213

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