Krach aus Sankt Tröten

Zu Vea Kaisers Alpenroman „Blasmusikpop“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was darf man erwarten, wenn der Titel eines Romans „Blasmusikpop“ lautet? Sicherlich etwas mit Blasmusik. Diese Musikrichtung ist eher dem Süden dieser Republik zuzuordnen, so dass man wahrscheinlich auch mit Bergen zu rechnen hat. Aber sonst? Daher beginnt die Lektüre von Vea Kaisers Roman vor allem mit einer Portion Neugier. Und gleich zu Beginn taucht man in eine Familiengeschichte ein, die mit der ersten von drei Generationen beginnt. Der „erste“ Protagonist der Familiengeschichte ist der Bandwurmforscher Johannes Gerlitzen, dessen Passion durch einen knapp fünfzehn Meter langen Bandwurm ausgelöst wird. Gerlitzen lebt in dem abgeschiedenen Alpendorf St. Peter am Anger und begründet in dem Debütroman die skurrile Saga einer Familie von Intellektuellen in einer scheinbar geistfernen Provinz. Dass sich diese Provinz vielleicht doch nicht ganz so weit von der Intelligenz entfernt hat, wird allerdings erst sein Enkel Johannes A. Irrwein erfahren dürfen.

Die Tochter des Großvaters heiratet einen Dorfbewohner aus der Zimmermannfamilie Irrwein. Johannes A. Irrwein wird geboren und lernt erste Schritte in Richtung der Erforschung und Erkundung seiner Umwelt von seinem Großvater. So beginnt der Enkel seine Forscher-Karriere unter anderem bei der Erkundung seines Haustiers: „Mhm, ich denke, ich mach weiter bei der Schlappi-Forschung.“ Neben dem innigen und emotionalen Verhältnis zum Großvater erfährt der Junge Prägung durch die Bücher und das Leseverhalten des Großvaters. Später wird die Dorfbibliothek ein wichtiger Aufenthaltsort sein. Und es gibt eine Erfahrung, die Johannes besonders prägen wird: „Und da, zwischen den Lyriksammelbänden, die Johannes Gerlitzen auf einem seiner Ausflüge in die Stadt gekauft, aber nie aufgeschlagen hatte, standen die Historien von Herodot.“

Der Großvater verunglückt tödlich und unerwartet bei der Rettung eines Dorfbewohners. Johannes fühlt sich allein und nimmt die Rolle des Großvaters ein, will sein Dorf erforschen und kompensiert damit den erlittenen Verlust. Aber: Johannes hat, genau wie sein Großvater, ein Problem mit seinem Dorf, mit seiner Heimat: „Johannes wollte sich so weit wie möglich vom Dorf distanzieren, denn er hatte Angst, dass er es sonst nie schaffen würde, seine Träume zu verwirklichen, Forscher zu werden und hinaus in die große Welt zu gehen, von der ihm Doktor Opa immer so viel erzählt hatte.“

Zum Ende seiner Schulzeit verändert sich diese Situation. Interessanterweise kehrt sich die Aversion dem Dorf gegenüber um. Johannes entdeckt die Besonderheiten seiner Heimat, seines Dorfes, eines Ortes, an dem er sich auskennt: „Bis zu diesem Moment hatte Johannes sein Dorf für den langweiligsten Ort der Welt gehalten, an dem sich sogar die Kühe fadisierten, weil nie etwas passierte. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, den Kühen wäre gar nicht langweilig, sondern er hätte bloß ihren Gesichtsausdruck falsch gedeutet.“

Der ganze Roman wird von Metatexten durchzogen, die – kursiviert hervorgehoben – meist zu Beginn eines Kapitels stehen. Sie erzählen die chronologische Geschichte des Dorfes und seiner Umgebung. Verfasser ist der Ich-Erzähler Johannes A. Irrwein, der sich darin an seinem historiografischen Vorbild orientiert und sich zum „Herodot von St. Peter“ aufschwingt. Als Dorfchronist und Ethnologe entdeckt er die Dorfbevölkerung als Forschungsgegenstand. Es scheint die einzige Möglichkeit für ihn zu sein, die Merkwürdigkeiten der ihm wohlbekannten Dorfbewohner aus einer neuen Perspektive zu sehen und zu ertragen. Humorig und unterhaltsam sind diese zusammengetragenen ethnologischen Erkenntnisse. Etwa wenn die allgemeine Freizeitgestaltung von dem „distanzierten“ Erzähler in den Herodot-artigen Passagen ironisch-distanziert geschildert wird: „Sie spielen Blasmusik, die jeglicher Harmonie entbehrt, pflegen Fußball auf einem abschüssigen Rasen, malen auf ihre Wohnhäuser alpine Blumenfresken, führen übles Volkstheater mit derbem Jargon auf und tragen traditionelle Kleider, die weltweit aus der Mode sind. […] Abwertung des überlegenen Feindes durch Eigenkulturpropaganda ist also die erste ihrer von mir aufgedeckten Kriegsstrategien!“

Dass das Buch letztendlich mit Blasmusikpop und mit Musik nicht so viel zu tun hat, ist keine so schwere Enttäuschung. Man wird vielfältig entschädigt mit einem charmanten, hintergründigen und in verschiedener Hinsicht sich auch mit dem Thema „Heimat“ beschäftigenden „Alpenroman der dritten Art“. Und wenn dann doch ein wenig Musik auftaucht, ist man durchaus überrascht: „Die Popmusik anstelle der Blasmusik als Hintergrund für die Fackeltänze war ein Versuch, die Jungschar ins neue Jahrhundert zu führen“. Und wenn dann auch noch der Fußballverein „St. Pauli“ auftaucht, Johannes seine Empathie für sein Dorf zurückgewinnt und einer potentiellen Liebschaft begegnet, dann sollte der Leser dies in diesem unterhaltsamen, intelligent geschriebenen und fesselnden Debütroman selbst erleben. Spaßige und schräge Lektüre ist garantiert.

Titelbild

Vea Kaiser: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
492 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044645

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