Das tödliche Phantom

Klaus-Michael Bogdals Buch „Europa erfindet die Zigeuner“

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gehört etwa jeder von uns dazu? „Zigeuner samma olle“ singen auf gut Bayerisch „D’Raith-Schwestern & da Blaimer“ bei umjubelten Auftritten. Auch Elke Erb erwähnte auf dem Erlanger Poetenfest 2011 augenzwinkernd, sie habe als Übersetzerin ab und zu „die Zigeuner als Vorbild vor Augen mit ihrer einschmeichelnden Sonanz und ihrem schnellen Diebsgriff“. Den meisten von uns knien sie eher vor Augen – als Bettler.

Ob positiv oder negativ, die Zigeunerklischees leben. Ihretwegen starben etwa 500.000 Roma beim Völkermord der Nationalsozialisten und ihretwegen finden heute wieder in vielen Ländern Europas Diskriminierungen und Verfolgungen statt.

Zigeunerklischees zielen sehr oft auf Diffamierung ab, gar Entmenschung, zumindest auf Ent-Europäisierung einer Minderheit, die seit über 600 Jahren zu Europas Geschichte gehört. Viele Vorurteile entwickelt man bereits im 15. Jahrhundert, als die aus Indien stammenden Roma in einer Art später Völkerwanderung im Abendland erscheinen. Das belegt Klaus-Michael Bogdal, Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, in seinem Buch „Europa erfindet die Zigeuner“.

Zuerst sah man in den Fremden noch Pilger aus Ägypten, akzeptierte ihre Anführer, gewährte ihnen Lagerplätze und Verpflegung. Bald behauptete man allerdings, die „Zigeuner“ seien zu ewiger Wanderschaft verflucht, weil sie der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten die Unterkunft verweigert oder die Kreuzigungsnägel Christi geschmiedet hätten. Dazu warf man ihnen Betrug vor, Faulheit, Wahrsagerei, Spionage für die Osmanen, Diebstahl, Inzest, Schmutzigkeit und vertrieb sie immer wieder. Schlimmer noch, man sprach ihnen ab, ein echtes Volk zu sein. Es handele sich bei ihnen bloß um „zûsamen geloffene Bößwichte / Dieb und Räuber … unnütz Volck“, wie die Basler Chronik für das Jahr 1422 schreibt.

Es beginnt damals, wie Bogdal herausarbeitet, eine verhängnisvolle Geschichte der Zuschreibungen, eben die „Erfindung der Zigeuner“. Sie „kamen wie gerufen“, so die These, um an ihnen als emotional aufgeladenem Negativbeispiel zu definieren, was christlich, zivilisiert und europäisch sei. Für den Autor ist damit klar, dass die „Erfindung der Zigeuner“ direkt mit uns und „den Nachtseiten europäischer Entwicklung zur Moderne“ verknüpft ist.

Generell ist die These überzogen, schließlich benötigte Europa zu seiner Definition die randständig lebende, oft hochmütig übersehene Minderheit der „Zigeuner“ nicht, die ein Problem unter vielen darstellte. En detail und in der Masse der Belege erweist sie sich aber als fruchtbar, um die Misshandlung dieser Minderheit zu verstehen.

Schon das Wort „Zigeuner“, dessen Herkunft im Dunkeln liegt, ist keine Selbstbezeichnung, ebenso Gitanos, Bohèmiens, Tartaren, Gypsies. Bogdal macht deutlich, dass diese Benennungen jahrhundertealte Vorurteile heraufbeschwören, um deren Formierung geht es ihm. Er legt also keine Kulturgeschichte der Roma vor, auch wenn man viel über sie erfährt. Bogdal führt aus, wie und warum über ein Volk europaweit Pseudo-Wissen ausgeprägt, tradiert und erweitert wird, das fast nie Neutralität oder Objektivität kennt, kaum auf Erfahrung oder Beobachtung fußt und selbst im Fall unwahrscheinlichster Lügen und Gerüchte positive Aufnahme findet.

In drei großen chronologischen Abteilungen präsentiert Bogdal sein umfangreiches Material, zitiert häufig amtliche Quellen, noch mehr aber Literatur, die äußerst erfolgreich für die Verbreitung der Klischees sorgt. „Die schöne Zigeunerin“ gehört – lange vor „Carmen“ – zu ihnen. Das Schicksal der Figur Carmen ist aber typisch. Nachdem sie für genügend erotische, triebhafte, musikalische Zigeunerromantik gesorgt hat, muss sie sterben und mit ihresgleichen in eine für Europäer ungefährliche Sphäre des Ekels abgeschoben werden: „Sehr jung mögen sie [die spanischen Zigeunerinnen] für angenehm hässlich gelten, sind sie aber erst einmal Mütter, werden sie widerlich […] wer die Haare einer Zigeunermatrone nicht gesehen hat, kann sich unmöglich einen Begriff davon machen, selbst wenn er sich die gröbsten, fettigsten und staubigsten Pferdehaare vorstellt.“

Das Zitat ist keineswegs das schlimmste in der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte. Johann Heinrich Pestalozzi, Walter Scott, Achim von Arnim, Victor Hugo, August Strindberg, Egon Erwin Kisch kennen, wie Bogdal belegt, beim Auftischen faszinierter oder angewiderter Stilisierungen oft keine Scham. Peinlich wirkt da im 19. Jahrhundert die spielerisch-provokative Identifikation junger Künstler mit den Zigeunern, indem sie sich „Bohème“ nennen, zumal sie den Roma weder respektvoller noch überhaupt begegnen wollen. Von ihrer Verteidigung gegen diskriminierendes Treiben ganz zu schweigen. Literaten beuten eben lieber das alte Gräuelmärchen von kinderraubenden Zigeunern aus, als sich dem tatsächlichen, staatlich sanktionierten Kinderraub aus den Roma-Familien zu stellen.

Tragischerweise, das klärt Bogdal überraschend spät, können sich die Roma auch nur um den Preis einer Art Selbstverrats wehren. Sie stehen mit ihrer mündlichen Kultur außerhalb von Wissenschaft und Journalismus. Verschwiegenheit ist ihnen ein hoher Wert. Scham- und Ehrvorstellungen hindern sie zusätzlich.

Dass es Alternativentwicklungen gab, zeigt Bogdal an der zeitweiligen oder dauerhaften Anerkennung der Roma in Russland, Ungarn, Spanien, wo sie spätestens ab dem 19. Jahrhundert als Bewahrer oder Stifter nationaler Kulturschätze einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekamen. Gleichzeitig legt die Ethnografie, die damals nach den ursprünglich gebliebenen Zigeunern sucht, wie Bogdal betont, die Grundlage für spätere rassehygienische Ausmerzungsfantasien und -taten.

Das Buch liest sich, von einigen Fremdwortballungen abgesehen, anregend, klar, bereichernd, oft beschämend, wenn zum Beispiel der Bundesgerichtshof 1956 Verfolgungen der „Zigeuner“ als „sicherheitspolitische und kriminalpräventive“ Maßnahmen gegenüber „primitiven Urmenschen“ bewertet. Bogdal wartet mit Inhaltsangaben und Analysen bekannter und entlegener Kunstwerke – fast ausschließlich der Literatur – auf, ohne den Eindruck ermüdender Reihung zu erwecken, weil er auf Parallelen, Abhängigkeiten, Weiterentwicklungen aufmerksam macht. Deutschland steht im Fokus, doch zieht er häufig und ausführlich die ähnliche Entwicklung in anderen europäischen Länder heran. Er stützt sich dabei auf eine inzwischen reiche Forschung, wie sein über vierzig Seiten umfassendes Literaturverzeichnis dokumentiert. Zur theoretischen Unterfütterung setzt er auf Jacques Lacan, Pierre Bourdieu, Peter Baumann.

Während der Lektüre irritiert längere Zeit, wie konsequent Bogdal die Perspektive der Roma ausspart, wie selten er Vorwürfen und Vorurteilen gegen die Zigeuner mit Argumenten entgegentritt. Das wirkt, als sparte er ihren Anteil an der „Erfindung“ aus. Doch will er sich eben nicht – wie Mitglieder der „Gypsy Lore Society“ seit dem 19. Jahrhundert – als „Zigeunerversteher“ aufspielen oder für die Roma sprechen, denen er am Ende Raum für die eigene Stimme gewährt. Außerdem sieht Bogdal eine Apologie als unnötig an, da nichts die pauschale Stilisierung, Verfolgung, Ausgrenzung, Tötung rechtfertige.

Er verschweigt nicht, dass bestimmte Traditionen mancher der zehn bis zwölf Millionen Roma in der EU einer Integration oder Verbesserung ihrer Lebensbedingungen hinderlich sein können, da sie modernen Individual- oder Frauenrechtsvorstellungen widersprechen. Das gilt allerdings ebenso für einige Gruppen der restlichen 490 Millionen EU-Einwohner.

Die Antwort auf die nach wie vor prekäre soziale, rechtliche und wirtschaftliche Lage kann nach Bogdal keine pauschale sein. Für ihn wäre es schon ein geradezu revolutionärer Anfang, nach der Anerkennung der Roma-Gruppen in der EU als Minderheit auch die einzelnen Menschen als gleichwertige Bürger zu respektieren.

Titelbild

Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
589 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422632

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