Sex und andere Methoden, aufzublühen

Alan Bennett unterhält mit seinen „Schweinkram“-Geschichten

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richtig interessant wurde das Leben für Mrs. Donaldson erst, als ihr Mann gestorben war. Sie erbte natürlich alles, aber es reichte doch nicht so ganz. Also macht sie zwei Sachen, die ihr ganzes Sein nachhaltig verändern: Sie vermietet ein Zimmer ihres Hauses an ein junges Studentenpärchen, Andy und Laura. Und sie geht regelmäßig ins Krankenhaus, wo sie dem Chef Dr. Ballantyne assistiert: Sie spielt den neuen Studenten eine Kranke vor, damit die Studenten an ihr üben können, eine Anamnese erstellen, sie untersuchen, sich differentialdiagnostisch vortasten. Langsam arbeitet sie sich in die Krankheitsbilder ein, die ihr Dr. Ballantyne mit allen Symptomen beibringt, und spielt mit einer älteren Kollegin demenzkranke Mutter und ungeduldige Tochter, markiert einen Schlaganfall, mimt eine Frau, die Angst vor Krebs hat, Blinddarm, Zwölffingerdarm – alles mögliche.

Für die Studenten ist das eine Möglichkeit, am lebenden Objekt zu üben, allerdings müssen sie immer Angst haben, dass Dr. Ballantyne sie mit sarkastischen Bemerkungen abkanzelt. Das liebt er nämlich, wenn sie sich besonders ungeschickt anstellen. Was manchmal der Fall ist, wenn zum Beispiel einer, der eigentlich Pathologe werden will, sich mit noch lebenden Körpern beschäftigen muss. Oder ein Chirurg plötzlich mit den Menschen reden muss, statt einfach nur schneiden zu dürfen. Da kann es sein, dass sie hören: „Bei der Menschlichkeit müssen Sie noch ein bisschen nacharbeiten“.

Mrs. Donaldson jedenfalls macht diese kleine Aufgabe, die allmählich immer mehr wird, viel Spaß. Sie ist unter jungen Leuten, sie hat etwas Sinnvolles zu tun, und sie verdient ein bisschen Geld. Dass Dr. Ballantyne sie nach und nach anbaggert, erträgt sie mit Gelassenheit.

Aber dann sind Laura und Andy mit der Miete im Rückstand und bieten ihr statt dem Geld ein kleines Schauspiel an: Dass sie in ihrem Beisein Geschlechtsverkehr haben. Mrs. Donaldson geht darauf ein, neugierig, ein bisschen verschämt, aber dann doch fasziniert setzt sie sich neben das Bett und schaut zu. Denkt auch an die Verschämtheit, mit der „das“ bei ihr und ihrem Mann passiert war: „Bei diesen beiden allerdings gab es keine Verlegenheiten, ihre Rufe und Schreie waren laut und beharrlich, schienen ständig kurz vorm Kippen zu stehen, brauchten nur einen letzten Anstoß, um den Grat zu überschreiten.“

„Zwei unziemliche Geschichten“ erzählt uns Alan Bennett, der mit „Die souveräne Leserin“ bei uns berühmt wurde (auch wenn andere Geschichten von ihm besser sind). Die um Mrs. Donaldson, die noch einmal aufblüht, weil sie ohne ihren Mann dasteht (der immer wieder von ihrer prüden und verklemmten Tochter mit den Worten beschworen wird: „Was würde Vater sagen?“) und die Welt jetzt endlich für sich entdecken kann. Natürlich bleibt das nicht verborgen, aber am Schluss hat sie sich auch damit abgefunden, dass es sich unter den jungen Studenten schon herumgesprochen hat. Und wie sich herausstellt, hat das sogar noch Vorteile für sie.

Die andere Geschichte berichtet von Graham Forbes, der eigentlich schwul ist, aber nur heimlich, der Betty heiratet, die älter als er, reich und schlau ist, das aber vor ihm verbirgt und das dumme Frauchen spielt (so sind zum Beispiel das, was er, der Banker, für ihr Vermögen hält, nur ihre Zinsen), und der von einem Polizisten erpresst wird, der eigentlich für Prävention zuständig ist. Was daran unziemlich sein soll, erschließt sich allerdings nicht. Zu befürchten ist, dass es leider eine ziemlich normale Geschichte ist, vor allem in einer Gesellschaft, in der Schwulsein immer noch mehr oder weniger tabuisiert ist, auch wenn Grahams Mutter das schon lange geahnt hat. Und sein Vater ins Internet flüchtet, wo er sich seinen Sex auf andere Art holt, und ein Verhältnis mit Betty eingeht, die schließlich Graham mit einer Gegenerpressung rettet, ohne ihm etwas davon zu erzählen.

Es sind zwei Geschichten mit vielen anrührenden Anteilen daran. Sie kreisen um menschliche Beziehungen, ums Versteckspielen, um Ängste und Schamhaftigkeiten. Und während Mrs. Donaldson dabei erblüht und schließlich ein Angebot des nächsten jungen Mieters bekommt, bleibt die Familie Forbes bei ihren Familiengeheimnissen.

Das Problem bei der Lektüre ist allerdings nicht nur die nachgeschobene Moral in der zweiten Geschichte, die völlig unnötig das Ganze noch einmal theoretisch aufgreift, uns in die Zukunft schauen lässt und versucht, den Sinn und das Gute an Geheimnissen zu erklären – womit er schnurstracks wieder den Deckel auf die gewonnenen Freiheiten stülpt. Noch bedenklicher ist der Ton, in den Bennett manchmal verfällt. Nicht nur, dass er Mrs. Donaldson, eine 55-Jährige, völlig unpassend und unrealistisch eine „altersfaltige Haut“ gibt, sondern vor allem, dass er manchmal eine etwas zu überhebliche Ironie an den Tag legt, von oben auf seine Personen herabschaut. Das verdirbt einem manchmal doch den Spaß, vor allem in der Forbes-Geschichte. Denn eigentlich kann Bennett so leicht und locker und doch gleichzeitig tiefsinnig und scharfsichtig schreiben wie nur selten jemand.

Titelbild

Alan Bennett: Schweinkram. Zwei unziemliche Geschichten.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingeo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012.
140 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112873

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