Jahrtausende der Zukunftsdeutung, und noch immer keine Klarheit
Christa Agnes Tuczay hat ein Buch über die Geschichte der Divination vom Altertum bis ins Mittelalter geschrieben
Von Alissa Theiß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit „Kulturgeschichte der mittelalterlichen Wahrsagerei“ legt Christa Agnes Tuczay eine umfassende Sammlung zu Zeugnissen von Wahrsagerei und anderen mantischen Praktiken vor. Und das nicht nur für das Mittelalter, sondern praktisch für das gesamte Altertum, zurückreichend bis ins Alte Ägypten und Mesopotamien. Dazu zieht die Autorin sowohl historische Beschreibungen antiker Autoren und Kirchenväter wie auch literarische Darstellungen in volkssprachigen mittelalterlichen Romanen und nordischen Quellen heran. Hin und wieder wird auch auf die Etymologie bestimmter Begriffe eingegangen, so etwa bei „Lachenaere“, „Los“ oder „Traum“.
Den Ausgangspunkt von Tuczays Untersuchung, besonders im Hinblick auf die lateinischen Quellen, bildet nach eigener Aussage „die umfangreiche ideengeschichtliche Studie des Historikers Minois ‚Geschichte der Zukunft‘“, die allerdings nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt ist. Dabei handelt es sich um Georges Minois „Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen“, erschienen 1998.
Nach einem Forschungsüberblick und der Einleitung wird im dritten und vierten Teil von Tuczays „Kulturgeschichte“ die Entwicklung unterschiedlicher Wahrsagepraktiken von der Antike bis zum späten Mittelalter nachgezeichnet. Teil fünf beschäftigt sich schließlich mit den verschiedenen „Einzelkünsten“ der Wahrsagerei, die in vier Gruppen – Observanz, Mathematische oder aktive Divination, Abakomantische oder aktive Divinationssysteme sowie Intuitive Wahrsagung: Visionsorakel – unterteilt sind.
Zu den, den vier Gruppen zugeordneten, einzelnen mantischen Techniken, folgen jeweils lexikonartikelartige Beschreibungen, die zum Teil sehr unterschiedlich in Inhalt und Ausführlichkeit ausfallen. Auch innerhalb eines einzelnen Artikels können die Angaben zu bestimmten Fakten stark divergieren. So wird im Kapitel ‚Mittelalterliche Mantik: Kontinuität und Wandel‘ Johannes Nider mit einer Kurzbiografie versehen, andere, als „spätmittelalterliche Vertreter der Dekalogliteratur“ und deren Nachfolger bezeichnete Autoren (Nikolaus von Dinkelsbühl, Heinrich von Langenstein, Franz von Retz und anderen) hingegen nicht. Desgleichen geschieht bei Hildegard von Bingen, deren biografische Daten angegeben sind, während die der im selben Atemzug genannten Mechthild von Magdeburg und Birgitta von Schweden wiederum fehlen, was einem mit dem Gegenstand unvertrauten Leser eine nichtvorhandene Simultaneität suggerieren könnte. Tatsächlich liegt doch jeweils ein Jahrhundert zwischen ihren Lebensdaten. Im Zusammenhang mit den Mystikerinnen wird auch die Ekstase erwähnt, die von Tuczay in zwei Arten eingeteilt wird – die Konzentrationsekstase und die Verschmelzungsekstase. Hier wäre eine ausführlichere Erläuterung wünschenswert gewesen, gerade da die Autorin, deren Habilitationsschrift von diesem Thema handelt, eine Spezialistin auf dem Gebiet ist.
Im Kapitel über die Sibyllen überrascht es, dass zwar dezidiert auf die Sibylle von Cumae eingegangen, die Rolle der Prophezeiungen bei der Legitimierung der Kreuzzüge aber überhaupt nicht angesprochen wird. Wieder beschrieben ist dann die Sibyllenrezeption in der höfischen Literatur.
Generell erschließt sich nicht, nach welchen Kriterien bestimmte Sachverhalte erklärt und andere als bekannt vorausgesetzt werden. So muss die Bedeutung von Klederomantie, Alectryomantie oder Elaiosemantik aus dem Text erschlossen werden und der in einer Kapitelüberschrift genannte Iatromant wird im gesamten Abschnitt nicht erwähnt, die Autorin bleibt den Lesern die Erklärung schuldig. Die weitaus geläufigere Technik der Nekromantie (man denke an Wolframs „Parzival“) wird hingegen nahezu in Schulbuchmanier erläutert: „Nekromantie, von griech. Nekrós ‚tot‘ bzw. ‚Toter‘ abgeleitet, bezeichnet die Totenbefragung, aber auch die Totenbeschwörung.“ Viel Vorwissen der Leserschaft wird auch vorausgesetzt, wenn nicht weiter erklärt wird, was Augustinus und Thomas von Aquin unter Dämonen verstehen, was eine astrologische Konjunktion und was ein Grimoire ist. Die Beschreibung von Homers „Odyssee“ als „ein traditionelles Gedicht, das seine endgültige Form um 700-650 v. Chr. bzw. je nach Datierung im 13./12. Jahrhundert v. Chr. erhielt“, wirkt dagegen im Vergleich fehl am Platz. Auch und gerade durch die regelmäßig eingesprengten Verweise auf die „heutige Zeit“ wirkt das Buch seltsam hybrid. Für ein Fachbuch sind einige Themengebiete recht oberflächlich angeschnitten und es stören Aussagen wie „Die nomadisierenden ‚Zigeuner‘, bzw. heute korrekt Stämme der Roma, Sinti u.a. verdienen sich auch noch im 21. Jahrhundert u.a. ihren Lebensunterhalt mit einfachen magisch-mantischen Praktiken“ oder „Vorahnungen, so nehme ich an, sind den meisten Menschen geläufig, werden aber erst dann Gegenstand einer textuellen Überlieferung, wenn sie sich erfüllen. Anm.: Manche Familien erscheinen dafür besonders disponiert wie z.B. die Völsungen.“ oder auch „Die moderne Kristallomantie bedient sich der verschiedensten spiegelnden Gegenstände, z.B. gläserner Briefbeschwerer, versilberter Christbaumkugeln, Glaslinsen etc.“.
Für ein hervorragendes populärwissenschaftliches Werk, zu welchem die Publikation Potential gehabt hätte, wird zu viel an Vorwissen vorausgesetzt und auch der stolze Preis ist nicht direkt förderlich für eine Rezeption außerhalb der Universitätsbibliotheken. Gerade bei der Hochpreisigkeit der Publikation überrascht es umso mehr, dass das Buch für den Leser so unvollständig aufbereitet wurde. Da sind die häufigen und unvermittelten Sprünge zwischen römischer Antike, griechischer Antike, früh-, hoch- und spätmittelalterlicher deutscher Literatur, biblischen und jüdischen und nordischen Quellen sowie das schnelle Hin- und Herswitchen zwischen historischen und literarischen Beispielen. Sie verlangen dem Leser einiges ab und überfordern ihn. Beim Lesen verliert man sich zuweilen in der Materialfülle, und es fällt schwer nachzuvollziehen, ob man sich im real empfundenen mesopotamischen Götterhimmel oder einer literarischen Beschreibung der biblischen Hölle befindet. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass das Manuskript nicht abschließend durch den Verlag lektoriert wurde. Wild zusammengewürfelte Sätze und Absätze, die nicht richtig zusammen passen wollen oder gar keinen Sinn mehr ergeben, da der Text in der Fußnote weitergeht, hätten eigentlich auffallen müssen. Auch für die recht häufigen Druckfehler, Wortdoppelungen oder falsche Worttrennung kann nicht die Autorin verantwortlich gemacht werden. Diese Unsauberkeiten gereichen dem Leser sogar manchmal zur Erheiterung, wenn es zum Beispiel heißt, dass Odysseus eine Grube mit Milch, Honig und süßem Wien tränkt.
Bei allen Einschränkungen und Monita ist „Kulturgeschichte der mittelalterlichen Wahrsagerei“ sehr gut geeignet, um sich einen Überblick über die einzelnen mantischen Techniken zu verschaffen. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den verschiedenen Teilbereichen der mittelalterlichen Wahrsagekunst sollte dann auf die einschlägigen Werke zum jeweiligen Thema zurückgegriffen werden, die durch die umfangreiche Bibliografie im Anhang leicht zu finden sind. Wer sich persönlich für das Thema interessiert, dem sei speziell für das Mittelalter Tuczays, zuerst 1992 bei Diederichs erschienenes Werk „Magie und Magier im Mittelalter“ ans Herz gelegt, das erschwinglicher und leichter zu lesen ist. Bei einem generellen, nicht epochengebundem Interesse für Zukunftsvoraussagen empfiehlt sich zudem die „Geschichte der Zukunft“ von Georges Minois, auf die Tuczays „Kulturgeschichte der mittelalterlichen Wahrsagerei“ rekurriert.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg