Kampf-Stil

Der chinesische Regisseur Wong Kar-Wai hat mit „The Grandmaster“ das Leben der Wing-Chun-Legende Ip Man (1893-1972) verfilmt

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Es ist noch nicht lange her, dass der Eastern eine cineastische Neubewertung erfuhr. Zuvor wurde er von der Filmkritik eher misstrauisch als anspruchslose Genrekost aus dem Fernen Osten beäugt. Doch dann kam Ang Lees „Tiger and Dragon“ (2000) und unterstrich, dass Wuxia-Filme höchste Kunst sein konnten. Das war freilich längst bewiesen, nicht zuletzt durch Wong Kar-Wais Spät-Eastern „Ashes of Time“ (1994), einen Traum aus Trauer. Daran knüpft er, der Magier des Kinos, nach seinen einzigartigen Großstadt-Balladen (zum Beispiel „Fallen Angels“, 1995) und Liebesdramen (wie etwa „In the Mood for Love“, 2000, oder „My Blueberry Nights“, 2007) nun mit „The Grandmaster“ an, dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale.

Im Mittelpunkt der Story steht Ip Man, heute als Großmeister des Wing Chun – im Westen meist Kung Fu genannt – und als Lehrer der Martial-Arts-Ikone Bruce Lee verehrt. Aus Foshan in der südchinesischen Provinz Guangdong stammend, widmete er sich seit seiner Kindheit der Kampfkunst. Später geriet er in die Wirren des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges sowie des Chinesischen Bürgerkrieges, emigrierte 1950 nach Hongkong und eröffnete dort später eine Wing-Chun-Schule. Diese Fakten werden im Film allerdings nur en passant gestreift. Als Biografie getarnt, ist das Werk im Prinzip eine verklärende Impasto-Erinnerung, eine Studie des unwiderruflich Vergangenen. Und eine Hymne auf Wing Chun sowohl als Kampfkunst wie Lebensweise.

Die Philosophie der Vollkommenheit

Gleich nach der Eröffnungssequenz, einem grandiosen Kampf von Ip Man gegen zahllose Männer im nächtlichen Regen, verläuft sich die Handlung in Rückblenden wie Ahnungen und in Erzählmomenten wie Visionen. Flankiert wird dieser scheinbar lose, assoziative Bewusstseinsstrom von Zwischentiteln und einer gleichnishaft dozierenden Voice-over. Menschen, Natur, Dinge werden als kostbares Gut zelebriert, minutiös und achtsam betrachtet, bis sie scheinbar Vollkommenheit erreichen. Das Verlöschen eines Lichts, die Bewegung einer Hand oder der Schwung eines Perlenvorhanges avancieren so zu einer Art figurativem Subtext, der auf das philosophische Thema des Films zurückweist: dass wahre Meisterschaft Zeit und Konzentration zur Entfaltung benötigt. Weil jene Veredelung des Daseins aber nur im Detail perfektioniert werden kann, beschränkt sich die Kamera von Philippe Le Souard primär auf hochästhetische, fokussierte, exquisit ausgeleuchtete Großaufnahmen. Nie war die Wangenlinie einer Frau vollkommener, nie flog eine Schneeflocke anmutiger als hier.

Und doch wird alles nur wie durch einen Schleier wahrgenommen. Unschärfen, Spiegelungen, Doppelbelichtungen und Reflexionen verhindern Klarheit, etwa wenn Blicke durch Fenster oder an Stoffbahnen vorbeigehen. Nur ein Abglanz, ein vager Nachhall bleibt zurück, eine in den Staub des Schicksals geschriebene Poetisierung des Lebens. Versinnbildlicht wird das explizit in jenen Fotografie-Szenen, wenn Menschen vor dem Objektiv in Posen erstarren und langsam zu schwarz-weißen Erinnerungen werden. Über sie senkt sich der elegische Soundtrack von Umebayashi Shigeru und Nathaniel Méchaly. Bittersüße Tristesse aus ewiger Schwermut.

Echte, realitätsnahe Charaktere lässt eine derartige Wahrnehmung von Geschichte nicht zu. Viele Protagonisten wie Ip Mans Gattin (Song Hye-Kyo) oder der Fighter The Razor (Chang Chen) verschwinden still und leise aus der Story. Tatsächlich geht es „The Grandmaster“ weniger um eine authentische Präsentation von Historie, sondern um die Apotheose von Ip Man. Die nimmt man seinem wundervollen Darsteller Tony Leung Chiu-Wai, dem Mann mit den melancholischsten Augen Asiens, durchaus ab. Doch das Drehbuch will mehr, beschwört mit der nordchinesischen Kampfkünstlerin Gong Er (Zhang Zi-Yi) zudem die Unmöglichkeit der Liebe herauf. Ip Man und Gong Er begegnen sich in den 1930er-Jahren, empfinden Zuneigung füreinander, werden jedoch stets getrennte Wege gehen. Nicht emotionale Bedürfnisse bestimmen ihr Dasein, sondern unkontrollierbare äußere Bedingungen. Während der zuvor sorgenfrei lebende Ip Man durch den Krieg Heimat, Familie, Rang, Wohlstand verliert, ist Gong Er ihrem Schwur verpflichtet, den gewaltsamen Tod des Vaters zu rächen.

Beider Fatum erfüllt sich in symbolisch aufgeladenen (Innen-)Räumen, konstruiert aus atmosphärischem Licht, intensiven Farben und wehmütiger Musik, geadelt durch nobles Dekor und erlesene Kostüme. Alles atmet Sinnlichkeit, aber eine kunstvoll distanzierte. Das ,Draußen‘ wird hingegen nur in wenigen Totalen eingefangen, etwa während eines Trauerzuges im Schnee. In der Natur sind Menschen nichts weiter als dunkle Kalligrafie-Zeichen auf hellem Grund.

Die Legende als Wahrheit

Es sei denn, diese Menschen kämpfen. Dann beginnen Körper und Raum auf schwindelerregende Weise zu interagieren. Die Kamera wird schwerelos, der Schnitt erwacht. Die sich häufig in Metaphern verlierende verbale Kommunikation verstummt zugunsten eines visuellen Rausches in Zeitlupe. Wing Chun, also Dynamik in ihrer schönsten Form als artistisch choreografierte Eleganz, lässt die Leinwand erbeben und gleichzeitig zum Gemälde werden, während Wettererscheinungen wie Regen oder Schnee diesen köstlichen Tanz begleiten. Die eigentliche Brutalität von Schlägen und Tritten löst sich quasi im Fluge der Körper in einer Virtuosität höchster Körperberrschung auf. „Keine Kunst reicht an den Himmel heran, und keine Technik ist so stark wie die Erde“, heißt es einmal in „The Grandmaster“. Aber in in jenen Augenblicken purer cineastischer Suggestion wird diese Wahrheit schlicht außer Kraft gesetzt.

Wahrlich fantastisch – und dennoch zu wenig. Zumindest für rund zwei Stunden Laufzeit und einen Film, der dann doch nicht ganz außerhalb der Realität existieren will. Um an die geschichtliche (Kriegs-)Wirklichkeit anzuknüpfen, werden grobkörnige Dokumentaraufnahmen eingeflochten, welche völlig deplaziert wirken in einem Umfeld ambitioniert ästhetischen Stilwillens. Ein Biopic lässt sich eben nur bedingt nach den Regeln des Wuxia-Genres erzählen, eingehüllt in atemberaubend sehnsüchtige Stimmungsbilder. Das Dokumentarische bleibt dabei ebenso narratives Fragment, wie die episodisch aufgereihten, dramaturgisch offenen Biografiesplitter nur Skizze sind. Spontan hingetupft wirkt manche Sequenz, etwa die wenigen Begegnungen zwischen Ip Man und Gong Er, gerade als würde die Zeit kurz den Atem anhalten.

Tatsächlich sucht Wong Kar-Wai eben diesen Moment, wenn die Gegenwart verwischt und zur Legende avanciert. Er erzählt von Ip Man als einem Menschen, der nirgendwo zuhause war außer in seiner Kampfkunst. Sie war sein Bewusstsein, seine Lebens(er)haltung. Auch „The Grandmaster“ hat sich bereits völlig von der dinglichen Kinowelt gelöst und kennt nur eine Heimat: die visionäre Raffinesse des eigenen Stils

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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