Über die Art des „von sich selbst Erzählens“

Der wissenschaftliche Versuch Sabine Schmolinskys, die bisherige Selbstzeugnisforschung auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit zu übertragen

Von Dirk ZiesenißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Zieseniß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was sind Selbstzeugnisse, wie stellen sie sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit dar; was können sie alles beinhalten und vor allem, wie entwickelten sie sich? Diese und andere Fragen stellt Sabine Schmolinsky, Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt, in ihrem Gründungsdokument zur mediävistischen Selbstzeugnisforschung „Sich schreiben in der Welt des Mittelalters“.

Auf insgesamt 152 Seiten stellt Schmolinsky sprachlich flüssig, jedoch inhaltlich sehr komplex, die historischen Facetten des Selbstzeugnisses dar; weist anhand der „Confessiones“ des Augustinus auf die Wichtigkeit, aber auch auf die Gefahren der Selbstschrift hin und zeigt auf, dass diese bereits im Mittelalter in verschiedenen Varianten – zum Beispiel Brief, Tagebuch, Reisebericht, Memoiren – eine Art der intimen Mitteilung waren oder auch als ein Mittel der Präsentation dienten. In ihrer Diskussion der Forschung von Marianne Beyer-Fröhlich betont Schmolinsky, dass die ersten Selbstschriften von „Frommen, mithin sehr einseitig orientierten Menschen“ produziert wurden.

Als neues Unterscheidungsmerkmal innerhalb ihrer Neusortierung der Gattung der Selbstschrift führt Schmolinsky den Begriff des komplexen sowie desinserierten Selbstzeugnisses ein. Ein komplexes Selbstzeugnis beschreibt eine aus verschiedenen Quellen zusammengesetzte Selbstsicht, die „die Selbstreferenzialität aus unterschiedlichen Aspekten darstellt“. Sie unterscheidet sich demnach von den normalen Selbstzeugnissen, die lediglich aus einer Einzelquelle bestehen. Das inserierte Selbstzeugnis stellt einen Wechsel in der auktorialen Perspektive dar; es werden Äußerungen eingeschoben, die den Blickwinkel auf den Autor zurücklenken. Die neuzeitlichen Aspekte des Selbstzeugnisses zeigt die Autorin anhand der „Einleitende Briefe“ von Johann Gottfried Herder und Georg Mischs Band über die antike Autobiografie auf und erläutert, dass das erste Auftauchen des Begriffs „Selbstzeugnis“ im Dunkeln liegt, es sich aber lexikalisch zu Beginn des 19. Jahrhunderts belegen lässt. Anhand Anna Robeson Burrs komparatistischen Studie zu den Ausführungen Mischs sieht Schmolinsky bereits mit der Etablierung des Christentums, zwischen 100 und 400 n. Chr., erste Tendenzen zur Verschriftlichung von Selbstzeugnissen und versucht dadurch der unklaren zeitlichen Eingrenzung eine mögliche Antwort zu geben. Werner Marholz und Adolf Rein belegen, nach Ansicht von Schmolinsky, dass das Bürgertum Nährboden und Träger für die Selbstzeugnisse innerhalb der Neuzeit war.

Selbstschriften sind aus Sicht dieses Jahrhunderts eine Lebensäußerung, die an keine bestimmte Form gebunden sind, sie sind „schriftstellerischer Ausdruck der Selbstbesinnung über das Leben in Gestalt des eigenen Lebensverlaufs als Wurzeln alles geschichtlichen Auffassens“ und bieten somit Zeugnisse über das Bewusstsein der Individuen über sich selbst. Anhand von Briefen und Briefsammlungen, die sehr oft komplexe Selbstzeugnisse darstellen, zeigt Schmolinsky die Problematik der unterschiedlichen Urheberschaft und der Geschlechterkonstruktion sowie sozialen Urheberschaft als auch von Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb der Textgattung auf. Am Beispiel der jüdischen Kaufmannstochter Glikl bas Juda Leib (1646/1647-1724) sowie anhand von verschiedene Siegeln legt sie dar, dass auch der Name einer Person durch den Verfasser und/oder dessen Ansichten sich räumlich und sprachlich variabel darstellen kann; es kann also vorkommen, dass es zu einer Person verschiedene Selbstsichten gibt, die dieser unterschiedliche Namen geben.

Durch den chronologischen Aufbau ihres Werkes gelingt es Schmolinsky, die schwerfällige und undurchsichtige Thematik für den fachlich versierten Leser interessant und verständlich darzustellen. Leider vernachlässigt Schmolinsky jedoch eine Hinführung zur Problematik und führt die historische Diskussion, die zur Erstellung dieser Habilitationsschrift beigetragen hat, innerhalb ihres Werkes nicht auf. Verwirrung schaffen auch ihre – doch recht langen – Zitate und Erklärungen zu Personen (zum Beispiel ihre Ausführungen zu Marianne Beyer-Fröhlich); so muss der Leser gegebenenfalls den entsprechenden Sachverhalt ein zweites oder gar drittes Mal nachlesen, um den Gedankengängen folgen zu können. Auch fällt auf, dass das Volumen des Buches ohne die, sehr zahlreichen, Verweise und Fußnoten, die zum Teil den reinen Text/Abschnitt eines belegten Werkes wiedergeben und keine neuen Erkenntnisse bringen, einen wesentlich geringeren Umfang vorzeigen würde. Für den rein interessierten Leser kann dieser Sachverhalt störend wirken; er ist gezwungen sich gegebenenfalls einige Sachverhalte durch Nachlesen der Sekundärliteratur anzueignen oder gar erst einfachere Texte mit entsprechendem Inhalt zur Vorbereitung zu lesen. Der im Thema sach- und fachlich versierte Leser hingegen dürfte keine großen Probleme haben, den Ausführungen Schmolinskys zu folgen. Wem jedoch die Theorien zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht bekannt sind, der sollte zuerst ein entsprechendes Buch zur Hand nehmen und sich dieser Thematik zuwenden, ehe er sich den mündlichen und schriftlichen Aspekte der Selbstschriften bei Schmolinsky zuwendet.

Gerade die Ausführungen zu bildlichen und musikalischen Selbstzeugnissen können den Leser irritieren; für einen Germanisten ist es sehr interessant, dass die Autorin auch außerhalb der historisch überlieferten Selbstzeugnisse nach Arten der Selbstschrift sucht und auch aufzeigt, dass es diese in bildlicher als auch musikalischer Weise gibt. Dennoch erscheinen diese Aspekte innerhalb des Werkes fehl am Platz – außer natürlich, wenn es sich um Verweise auf mögliche Minnelieder handelt, die autobiografische Darstellungen und/oder musikalische Selbstsichten beinhalten können. Auch ist es für den Leser nicht immer einfach, die vielen Einschübe, die Schmolinsky innerhalb des Fließtextes vollzieht, nachzuempfinden. Sie wirken wie eine Unterbrechung des Schreibflusses und bringen den Leser öfter zum Stocken.

Insgesamt betrachtet, handelt es sich bei Schmolinskys Vorschlag einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung um ein interessantes, jedoch nicht für den Einstieg in die Thematik geeignetes Buch. Es zeigt neue Kategorisierungen auf und versucht, die bisherige Selbstzeugnisforschung auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit zu übertragen. Die sehr wissenschaftliche Schreib- und Zitierweise trägt jedoch dazu bei, dass der Leser leicht den Überblick verliert und sich gegebenenfalls durch weitere Literatur in die Thematik einlesen muss.

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Sabine Schmolinsky: Sich schreiben in der Welt des Mittelalters. Begriffe und Konturen einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung.
Verlag Dr. Dieter Winkler, Bochum 2012.
208 Seiten, 39,50 EUR.
ISBN-13: 9783899110890

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