An der dünnsten Stelle des Stundenglases
Karen Köhlers Figuren kämpfen sich durch das Universum
Von Katharina Graef
„Es ist ja so: Wir werden in eine Welt und in Umstände hineingeboren, die wir uns nicht ausgesucht haben.“ Mit diesen Worten beginnt Karen Köhler ihr Videoporträt, das seit einigen Tagen auf der Website der Tage der deutschsprachigen Literatur zu sehen ist. Ein Satz, der auch über ihrem Prosadebut „Wir haben Raketen geangelt“ stehen könnte.
Welt, Universum, Geburt und Tod sind die zentralen Begriffe in den sieben Erzählungen des Bandes (eine Achte wird es im Juli in Klagenfurt zu hören und zu lesen geben), der im August im Hanser Verlag erscheinen wird. Immer geht es um die Suche nach dem eigenen Ort im Universum und darum, wie man in dieser eigenen kleinen Welt, die doch voll ist von Tragödien, bestehen kann – mithin um Lebensstrategien. Köhlers Erzählungen sind präzise Momentaufnahmen von Figuren, denen die Welt fremd geworden ist. Da gibt es die Schauspielerin, die nach einer gescheiterten Beziehung in der Entertainment Crew eines Kreuzfahrtschiffs versucht, dem Alltag ‚davon zu reisen‘, eine Frau, die dem explantierten Herz ihres Freundes hinterher zieht, eine Reisende, die im Death Valley strandet, früher gerne eine Squaw gewesen wäre, von einem Möchtegern-Cowboy vergewaltigt wurde und von einem Indianer gerettet wird oder die alte russische Frau, die nie die Stadt gesehen hat und mit Stift und Papier in der Hand auf den Tod wartet. Alle werden umgetrieben von privaten Katastrophen, die teilweise gerade erst geschehen sind oder manchmal lange zurück liegen – und der Frage, ob und wie man an dieser „dünnsten Stelle eines Stundenglases“, wie es in der Erzählung „Wild ist scheu“heißt, leben kann.
Dabei werden durch einen Wechsel von Rückblenden und inneren Monologen ganze Biographien und detaillierte Psychogramme der weiblichen Erzählerfiguren entworfen. Handlungen und Gedanken erklären sich daraus nach und nach, wie in einem Puzzle. Und obwohl Köhlers Geschichten von Situationen im Leben ihrer Erzählerinnen handeln, wie sie trauriger nicht sein könnten, geschieht das in einer leichten, bildhaften und durchweg intensiven Sprache. „Zeit ist ein Kaugummi, aus dem der Geschmack entwichen ist.“ Dass Köhler vom Theater kommt, nach wie vor als Schauspielerin arbeitet und selbst Stücke schreibt – 2013 hat sie für ihr Kinderstück „Ramayana“ den Otfried-Preußler-Kinderstückepreis erhalten –, verwundert mit Blick auf Sprache und Struktur ihrer Texte nicht. Ihre Sprachbilder malen nicht nur Orte, sondern ganze Landschaften („Der Highway kommt zu uns ins Tal gekrochen wie eine flimmernde Schlange“); die Erzählungen sind an vielen Stellen in kurze nummerierte Absätze untergliedert. Beides gibt ihnen einen szenischen Charakter und lässt beim Lesen Bilder entstehen, die sich mit jedem Satz ganz neu arrangieren können.
Karen Köhler liest in Klagenfurt auf Einladung von Hubert Winkels. Vielleicht kann seine Wahl als eine Konsequenz aus den Erfahrungen des letzten Jahres verstanden werden, als sein Schützling Benjamin Maack dem Genre Kurzgeschichte neues Leben einhauchte und damit den 3sat-Preis gewann – ein gutes Omen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen