Das „Wir“ und das „Sie“

Die sardische Schriftstellerin Michela Murgia enttäuscht mit ihrer neuen Geschichte „Murmelbrüder“ durch zu viel Pathos

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„,Mutter Christi!‘ zischte Franco und blickt Giulio fest in die Augen. ,Bitte für uns‘, echoten seine Leute. ,Mutter der Kirche!‘ Giulio war keine Angst anzumerken. ,Bitte für uns!‘ kreischte eine zahnlose Alte nahe an Maurizios Ohr. Mit erbitterter Präzision wechselten sich die beiden Jungen ab und spien sich die Anrufungen entgegen wie Beleidigungen.“

Wenn es um die Kirche geht, kennen viele keinen Spaß. So auch in dem kleinen Ort Crabas auf Sardinien. Lange war Santa Maria die Hauptkirche, in die man gemeinsam zuMonsignorMarras ging (oder nicht), aber dann kam irgendwann der alte und, wie man munkelte, schon etwas senile Bischof auf die Idee, den doch recht großen Ort aufzuteilen und Don Gigi für eine neue Diözese in Crabas anzustellen, für die Kirche „Sacro Cuore“. Listig und mit allen Wassern der Kriegskunst gewaschen, bekämpfen sich Monsignor Marras und Don Gigi. Sie sind darauf bedacht, das Rathaus in den eigenen Zuständigkeitsbereich zu ziehen und dem anderen das Neubaugebiet mit den ärmeren Zugewanderten Crabesen zuzuschanzen. Und spalten damit das ganze Dorf. Bis es Ostern zur Konfrontation kommt. Denn normalerweise gibt es an diesem Tag zwei Prozessionen – bei der einen wird eine Statue von Jesus getragen, bei der anderen eine seiner Mutter Maria, vor dem Rathaus treffen sie sich und sindwerden wieder vereint. Aber da keiner der beiden Priester aus Machtgründen auf seine Prozession verzichten möchte, gibt es siebeide Festzüge auf einmal doppelt. Und da die ehemaligen Freunde Giulio und Franco die Hauptministranten sind, die die Anrufungen anführen mussten, der eine für Santa Maria, der andere für Sacro Cuore, stehen sie sich plötzlich als Feinde auf dem Marktplatz gegenüber.

Die sardische Schriftstellerin Michela Murgia, die aus dem kleinen Ort Cabras in der Nähe von Oristano stammt, hat mit „Murmelbrüder“ eine kleine Geschichte um Freundschaft und Zusammengehörigkeit geschrieben. Sie beginnt im Sommer 1985, als der elfjährige Maurizio in den großen Ferien bei seinen Großeltern ist. Hier erkennt er zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes „wir“: eine Gemeinschaft, die man nicht herstellen muss, die gewachsen ist, die einfach da ist. Die Kinder, die miteinander spielen, die sich ganz selbstverständlich am Teich treffen, die zusammen sind. Und er erfährt auch die Bedeutung des Wortes „sie“: die anderen, die Anhänger oder Mitglieder der neuen Gemeinde „Herz Jesu Christi“. „Wir“, das ist aber auch seine Gemeinschaft mit den Großeltern, die den Jungen zu sich nehmen, als die Eltern am traditionellen Ende der Ferien, Ferragosto, verkünden, dass sie aufs Festland ziehen, nach Ferrara, weil der Vater dort in seinem Beruf mehr verdienen kann als auf Sardinien. Es gibt keine Diskussion darüber: „Aber der Junge bleibt hier“, sagt der Großvater. „Maurizios Mutter wollte protestieren, doch die Schwiegermutter beschied abschließend: ,So ist es besser für ihn. Hier hat er seine Freunde, die Schule. Uns.‘ Es war dieser Plural, der den Widerstand der Eltern überwand, mehr als jede Logik. Wie hoch das Gehalt auch sein mochte, das Maurizios Vater in Ferrara erzielen würde, er wusste genau, dass er seinem Sohn dieses Pronomen außerhalb der Mauern von Crabas nicht mehr würde bieten können.“

Und dieses „Wir“ wird durch die Kinder auch nach der Spaltung des Orts in zwei Gemeinden wieder hergestellt, indem Giulio und Franco auf dem Marktplatz aufeinanderprallen, aber dann in einem plötzlichen Einverständnis die Marienstatue der einen Gemeinde mit der Jesusstatue der anderen zusammenführen. Die verfeindeten Priester konnten hinterher nur noch so tun, als wennsei es ihre eigene Idee gewesenist.

Ein wenig arg pathetisch und manchmal auch ein wenig umständlich schreibt Murgia diese hübsche Geschichte, zu der sie etwas ausholt, ein paar Streiche der Jungs erzählt, wie die zum Beispiel,alssie die Kanalisation unter dem Kirchhof erkunden, wie sie die hundertjährige Palme von Monsignor Marras anzünden, um die Ratten daraus zu vertreiben, wie sie im Schilf Vögel mit Vogelleim fangen, wie sie sich gegenseitig necken. Aber auch wie die Atmosphäre im Dorf ist, wenn die Altenihre Gespenster- und Vampirgeschichten erzählen mit ihren Stühlchen vor den Häusern sitzen,um Geschichten zu erzählen, in denen es meist um Geister geht, die als Lebende ihre Pflicht vernachlässigt haben und deswegen keine Ruhe finden, oder Vampir-Frauen, die ihre Kinder verloren haben und nun Neugeborenen das Leben aus dem Leib saugen.

Sprachlich ist Murgia dabei nicht immer geschickt, versucht ganz unnötig, einfache Gegebenheiten mit viel Bedeutung aufzuladen: „Für Maurizio hatte der Sommer die gewundene Form einer Haarnadelkurve“ schreibt sie, weil die Ferien für ihn erst richtig beginnen, wenn die Eltern ihn bei den Großeltern abgeladen haben und hinter der Haarnadelkurve der Einbahnstraße Via Messina verschwanden. In einem mehrseitigen Prolog betont sie, wie wichtig es für manche Beziehungen ist, dass man miteinander gespielt hat: „Was kann der Ruf des eigenen Blutes ausrichten gegen das Bewusstsein, Auslöser für das erste blutige Knie eines Freundes zu sein?“

Solche Ausrutscher ins übertriebene Pathos passieren Murgia immer wieder. Dabei gibt die Geschichte selbst solch eine lebenslange Freundschaft gar nicht her. Wie Murgia ihre Geschichte, übrigens in Teilen sehr schön, einfach und lebendig, erzählt, ist es eine hübsche Lausbubensommergeschichte, die sich manchmal ins Philosophische neigt. Auch das ist meist gelungen, das Zusammengehörigkeitsgefühl des „Wir“, der Einbruch des „Sie“, des Fremden in das Eigene – das schwingt sehr schön mit, und Murgia hätte es gar nicht so sehr betonen und erklären müssen.

Ärgerlich sind dagegen auch manche Kompliziertheiten der Autorin und Übersetzerin, die manchmal sogar üble Fehler macht: Meint sie wirklich, dass „fremde Mädchen unkrautfarbenes Haar“ hatten, also grünes? Im Original steht „color gramigna“: gramigna ist Quecke, die im trockenen Zustand flachsfarben ist – und flachsfarbenes Haar gibt es durchaus. Ebenso gibt es auf Sardinien kein hausgemachtes „Aquavit“, das „acquavite fatta in casa“ des Originals ist Schnaps, fil ‘e ferru (oder filu ‘e ferru) auf sardisch, Aquavit dagegen ein norwegischer Kümmelschnaps. Und „Amarum kauend“ ist einfach nur Unsinn, Amarum gibt es nicht. Einem aufmerksamem Lektor im Verlag Einaudi, der Übersetzerin oder dem Lektorat bei Wagenbach hätte auch auffallen müssen, dass Murgia den 1. Korintherbrief falsch zitiert (richtig heißt es: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“). Auch dass der Titel „Murmelbrüder“ seltsam klingt und einen doppelten Sinn hat, hätte man bemerkten können, während das Original „L’incontro“ dagegen viel passender ist, denn so heißt nicht nur die zentrale Prozession des Buchs (die Begegnung Jesu mit Maria), sondern der Begriff kann auch die Begegnung der Kinder im Spiel meinen oder in der Auseinandersetzung die Begegnung des „Wir“ und des „Sie“.

Titelbild

Michela Murgia: Murmelbrüder. Eine Geschichte aus Sardinien.
Übersetzt aus dem Italienischen von Julika Brandestini.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
112 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783803113054

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