Ein Taumel der Begeisterung

Geert Buelens Studie „Europas Dichter und der Erste Weltkrieg“

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So ganz neu ist die Erkenntnis nicht: Dass die deutschen Dichter im Sommer 1914 vom Krieg begeistert waren, wie alle anderen europäischen Dichter auch, dass sie vom Krieg schwärmten, dass sie ihn feierten, auch in ihren Gedichten. Das begann schon mit dem Attentäter Gavrilo Princip, der den österreichischen Thronfolger erschoss und damit den Nationen den Vorwand gab, den Krieg zu beginnen: Auch er war ein begeisterter Leser von Gedichten, liebte Walt Whitman und Oscar Wilde und wollte selbst ein Dichter werden (und wer denkt nicht an John Lennon, dessen Mörder Salingers „Catcher in the Rye“ in der Tasche hatte).

Die Rolle der Dichter war im Sommer 1914, die Begeisterung zu schüren, und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. In seiner spannenden und gut geschriebenen Studie „Europas Dichter und der Erste Weltkrieg“ untersucht der belgische Literaturwissenschaftler diese literaturgeschichtliche Sonderepoche und lässt dabei auch rumänische, irische, kroatische und lettische Dichter zu Wort kommen, osteuropäische Juden wie Uri Zvi Grinberg: „Ich bin die Eule, der Klagevogel des Schmerzwalds in Europa. / In den Tälern Pein und Grauen, blinde Mitternächte unter Kreuzen.“ Und so sieht man, dass über alle literarische, politische und soziale Gräben hinweg sich alle beteiligten: Symbolisten, Futuristen, Expressionisten, Sozialisten, Nationalisten oder Internationalisten – sie alle machten mit in einem wahren Taumel von Begeisterung. Gabriele d’Annunzio, Maurice Barrès, Charles Maurras, Marinetti oder Majakowski lieferten nur die schlimmsten Beispiele.

Verständlich wird das, wenn man sich klarmacht, dass die Dichter den Krieg vor allem als Befreiungsschlag aus einem satt gewordenen, eingeschlafenen Europa erlebten. Er kam wie eine Erlösung: „Endlich ein Gott“, schrieb der holländische Autor Louis Couperus. „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt“, schreibt Marinetti in seinem futuristischen Manifest. Und d’Annunzio meint: „Nur durch Krieg können degenerierte Völker ihren Niedergang verhindern.“

Viele Dichter blieben bis zum Schluss bei ihrer Begeisterung, glaubten bis zum Zusammenbruch Europas an diesen Wahnsinn, selbst als die obersten Heeresleitungen schon längst desillusioniert waren und die einfachen Menschen im Elend versanken: Die Dichter, die oft einträglichen Beschäftigungen fernab der Front nachgingen, hörten nicht auf, ihre Hasstiraden weiterzudichten, viele waren „davon überzeugt, diese Katastrophe werde eine neue Kunst hervorbringen, die zur Vorbereitung und Aufrechterhaltung einer neuen und besseren Weltordnung beitrüge“. Daan Boens schrieb in „Todes-Wunsch“: „Ich will das große Nichts, wo kein Wind ist, wo nichts ist. / Keine Trümmer mehr, da ich selbst ein Trümmerhaufen bin.“ Und die Futuristen feierten die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Nur wenige halten dagegen, Bernard Shaw, Karl Kraus, Romain Rolland, oder Pessoa: „Der Krieg, der mit seinen Heeren die Welt verwüstet, / Ist das Idealbild des philosophischen Irrtums.“

Buelens Buch ist eine enzyklopädische Großtat, die Texte und Analyse miteinander verbindet, nie den Blick auf die gesamte europäische Geschichte verliert, dabei stets strukturiert bleibt, das riesige Material (im ersten Kriegsmonat sollen in Deutschland 50.000 Kriegsgedichte täglich entstanden sein) chronologisch ordnet und sowohl literaturgeschichtlich als auch historisch gut einordnet. Virtuos erzählt er von dieser Aufbruchzeit, die in der Katastrophe endet, und springt dabei, ohne den Faden zu verlieren, von Moskau auf dem Balkan, von London nach Lausanne, von Sizilien nach Ostgalizien. Und zuguterletzt schlägt er auch immer wieder einen Bogen in die Gegenwart. Denn der Erste Weltkrieg hat Auswirkungen bis heute.

Titelbild

Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg.
Übersetzt aus den Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
458 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424322

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