Silberblick und Liebeskegel

„Beschädigte Schönheit“: Lorenz Jäger legt eine „Ästhetik des Handicaps“ vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

London, 2012: Bei der Schlussveranstaltung der Paralympics tritt auch Viktoria Modesta auf, als eine Art Schneekönigin. Aber der eigentliche Star ist die futuristische Beinprothese in Silbermetallic, mit der das teilamputierte Model provoziert. „Wer sagt denn, dass eine Beinprothese wie ein Bein aussehen muss?“, zitiert Lorenz Jäger die jubelnde Presse. Mit Blick auf Modesta oder Veranstaltungen wie „beauties in motion“, einem Modelwettbewerb von Rollstuhlfahrerinnen, kommt Jäger in seiner „Ästhetik des Handicaps“ zu einem optimistischen Ende: „Die angeschauten Objekte schlagen die Augen auf und erwidern den Blick. Eine Revolution braucht manchmal 3000 Jahre.“

Denn bislang war die „Beschädigte Schönheit“, so der Titel von Jägers lesenswertem Essay, dem männlichen Begehren ausgeliefert. Es ist ein kenntnisreicher, wenn auch mitunter etwas zu zitierfreudiger Streifzug durch die Literatur- und Kunstgeschichte, die der FAZ-Redakteur, von dem zuletzt eine Studie über die politische Theologie jüdischer Intellektueller erschienen ist, nun vorlegt. Sie reicht von der Antike bis zu Elias Canetti, der in seinen Aufzeichnungen über eine Unbekannte notierte: „Sie hinkt so schön, dass die Gehenden neben ihr wie Krüppel erscheinen.“ Jägers Essay zeigt, wie gern sich das männliche Begehren gerade nicht an perfektionierter Schönheit entzündet, wie die heutige Schönheitsindustrie glauben macht, sondern just an jener mit einem „Handicap“. 

Wie etwa einem Schielen. „Ein leichter Silberblick, und voilà, ich bin betört“, legt etwa Durs Grünbein dem Philosophen René Descartes in den Mund. Grübelte dieser doch zeitlebens, warum ausgerechnet er, der in seinem Denken Klarheit und Transparenz favorisierte, schielende Frauen so anziehend fand. Schlüssig erklärt Lorenz Jäger diese durchaus verbreitete Faszination mit dem Hinweis auf das französische „une coquetterie de lʼœil“, eine Koketterie des Auges: „Im Silberblick ist […] die Koketterie auf Dauer gestellt, zu einem festen, über die Situation hinausgreifenden Ausdruck geworden.“

Bis in die Antike reicht die Motivgeschichte des schönen Hinkens zurück, die in Jägers Büchlein im Fokus steht. So soll Venus ihren Liebhaber Mars verführt haben, indem sie den hinkenden Gang ihres Gatten nachahmte. Später sinnierte Michel de Montaigne in einem wirkungsvollen, aber aus heutiger Sicht geschmacklos anmutenden Essay über die angeblich besonderen erotischen Qualitäten hinkender Frauen. Wie Jägers Spurensuche zeigt, interessierte man sich gerade im Barock für das Paradoxe dieser zum literarischen Topos gewordenen erotischen Faszination als Grundlage für hochartifizielle dichterische Spiele.

Spätere Romanautoren reicherten sie dagegen mit modernem psychologischen Wissen, etwa über Fetischismus, an. Emile Zola verherrlicht im 7. Band seines Rougon-Macquart-Zyklus das offenbar ganz für die Liebe geschaffene Bein seiner Protagonistin mit der Wortschöpfung „quille d’amour“, Liebeskegel. Zugleich wurde diese Faszinationskraft aber auch immer expliziter – bis hin zu James Joyces Leopold Bloom, der in einer Szene des „Ulysses“ heimlich Gerty McDowell am Strand beobachtet, erst mitleidig („Armes Mädchen“), dann immer erregter („dieser kleine hinkende Teufel“), und sich am Ende sogar „mit sorgsamer Hand das nasse Hemd“ zurechtziehen muss. „Die Montaigne-Tradition mündet in eine Szene der Masturbation“, resümiert Lorenz Jäger, „wahrhaftig ein Fall für eine komische Literaturgeschichte!“

Titelbild

Lorenz Jäger: Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps.
zu Klampen Verlag, Springe 2014.
128 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783866742321

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