Deutschordensforschung: Zum Stand der Dinge
Marcus Wüst legt eine Arbeit zum Selbstverständnis des Deutschen Ordens vor
Von Ralf G. Päsler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür lange Zeit schien klar, was der Deutsche Orden zu sein hatte: Vorbild im Zuge der Ostkolonisation. Doch geriet dieses Bild bereits seit den Zeiten des ‚Eisernen Vorhangs’ ins Wanken und wurde auf unterschiedliche Weise, direkt oder eher indirekt, thematisiert. Einen Konsens hat die Forschung bislang nicht gefunden und ist für den Moment auch nicht absehbar. Das heißt aber auch, dass die Diskussion auf sehr unterschiedlichen Teilgebieten, mit zum Teil sehr unterschiedlicher Methodik und oft auch unter Heranziehung disparaten Materials in vollem Gange ist. Hier kommt die Arbeit von Marcus Wüst zur rechten Zeit.
Nun sind Arbeiten zum Selbstverständnis in nicht geringem Maße an Interpretationen gebunden, die ihrerseits von zeitgenössischen Voreinstellungen geprägt sind. Dies – das sei anerkennend hervorgehoben – versucht der Autor zu umgehen, indem er seine Quellen mit größtmöglicher Distanz und Neutralität betrachtet. Aber nicht nur die Quellen, denn gleiches gilt auch für den Umgang mit der zahlreich verwendeten Forschungsliteratur, die wie die Quellen sehr ausführlich selbst sprechen darf.
Angesichts der etwa drei Jahrhunderte, die es zu überblicken gilt, bieten sich zwei Ordnungssysteme an: ein systematisches nach Quellengattungen oder ein historisch-chronologisches, das verstärkt die Veränderungen nachzeichnet. Der Autor hat sich für ersteres entschieden und sieben Stoffbereiche ausgemacht, die wiederum eine gewisse chronologische Abfolge für sich beanspruchen können. Dennoch können die Kapitel „Historiographie“, „Geistliche Literatur“ und „Schriften für den Orden“ auf dem Konstanzer Konzil und letztlich auch das Kapitel über die Norm, also die Ordensregel, sowie die Urkunden unter dem Oberbegriff Literatur/Schriftzeugnisse gefasst werden. Darüber hinaus finden sich Überlegungen zur Architektur, zu den Siegeln und der bildenden Kunst. Jedoch gilt für alle Kapitel, dass neben bekannten Quellen und Zeugnissen auch solche miteinbezogen werden, die sonst eher am Rand der Diskussion stehen.
Die literarischen Zeugnisse haben in der Forschung die bislang meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen; dementsprechend nehmen sie in der vorliegenden Arbeit den größten Raum ein. Nicht klar ersichtlich ist, weshalb die „Geistliche Literatur“ allein als Literatur gesehen und unter dem hier nochmals diskutierten und definierten Begriff „Deutschordensliteratur“ gefasst wird. Ob die erarbeitete Definition weiterführt, sei dahingestellt, die Texte werden anschließend hinsichtlich der gestellten Aufgabe untersucht. Dabei werden zwei Vorannahmen wichtig: Zum ersten die implizite der ubiquitären Verteilung der Texte innerhalb des Ordens und zum anderen die explizite, dass der Zweck eindeutig mit „der geistlichen Bildung und Erziehung, der Erbauung der Brüder, der Formung ihrer Lebensführung im Sinne der Statuten“ (S. 142) gegeben sei. Wie dazu zum Beispiel die Übertragung der in diesem Sinne sehr anspruchsvollen ‚Catena aurea’ des Thomas von Aquin (die im Orden allein in Preußen nachgewiesen ist) passt, wird jedoch nicht dargelegt.
Größtes Plus der Arbeit ist, dass die unterschiedlichen Quellengattungen zusammen gesehen werden und deutlich machen, dass das mittelalterliche Preußenland (als das zentrale Territorium des Ordens) als neue Terra sancta dargestellt wird, in der sich gewissermaßen die biblischen Geschehnisse wiederholen. Doch haben sie jetzt ein eindeutig christliche Vorzeichen und lassen sich somit als Erfüllung der alttestamentlichen Prophetie lesen. Für das Ende des Untersuchungszeitraums stellt sich heraus, dass diese Art der Argumentationsführung mit der politischen Realität nicht mehr in Einklang zu bringen ist – sofern dies je möglich war.
Als Fazit bleibt: Die Forschung zum Deutschen Orden wird umfangreich aufgearbeitet und bietet somit eine Grundlage für weitere Untersuchungen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg