Erotische Grapheme und sinnliche Lesearchipele stehen im Fokus neuerer Schreibforschung

Zu Werner Fulds Monografie „Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens“ und dem von Urs Büttner, Mario Gotterbarm und anderen herausgegebenen Sammelband „Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert“

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I

Lesen und Schreiben sind aufeinander bezogene und einander bedingende Kulturtechniken: ändern sich deren historische Rahmen und Räume, so ändern sich damit zugleich auch ihre Erscheinungsformen und Inhalte. Genauer: Es ist von der jeweils gewählten Perspektive abhängig, die man in Bezug auf verschiedene Schreibakte und Leseszenen einnimmt, ob man von zwei aufeinander bezogenen Techniken oder sogar nur von einer janusköpfigen Leseschreibtechnik sprechen möchte. Den gemeinsamen Vernetzungen und Spannungsfeldern von Schreiben und Lesen wird man jedenfalls ebenso wenig gerecht wie ihren verschiedenen materiellen und virtuellen respektive zerebralen Räumen, will man sie einander gegenüberstellen. Vielmehr gilt der berühmte Vers von Gertrude Stein für das Thema dieser Rezension in entsprechend abgewandelter Weise gleich doppelt. Ist in dem Gedicht „Sacred Emily“ die Tautologie „Rose is a rose is a rose“ ein starkes Bekenntnis zum Identitätsgesetz, was nur immer wiederholt, nie aber bewiesen werden kann, da der Vers genau dieses rhythmisch und thematisch ausstellt, so verhält sich die Tautologie in Bezug auf Leseschreibspiele noch vertrackter. Denn der in Analogie zu Gertrude Steins legendärem Vers variierte Satz „Lesen ist Schreiben ist Lesen ist Schreiben ist Lesen ist Schreiben“ deutet durch das Hin-und-her-Driften zwischen zwei deutlich nicht synonym gebrauchten Begriffen und deren Konnotationen genau die zentrale Wende bereits mit dem Titel an, auf der heutige kulturwissenschaftlich motivierte Schreibforschung basiert. Es ist der alternierende Rhythmus und damit die Differenz in der Einheit, die bei Gertrude Stein selbst noch nicht mitgedacht wurde, der jedoch den Ausgangspunkt heutiger Schreibforschung angemessen umschreibt. 

Es gilt nicht nur innerhalb textgenetischer und wissenshistorischer Zusammenhänge, sondern etwa auch innerhalb sprach- und literaturdidaktischer Kontexte nach Michel Foucault und anderen weniger die einzelnen Schreibakte und Leseszenen lösungsorientiert auf einen Begriff zu bringen, sondern mehr ihre historischen und topographischen Rahmenbedingungen sowie die jeweiligen Schreib- und Leseutensilien, kurz den  Detailreichtum konkreter Textspiele problemorientiert und also nie abschließend zu diskutieren. Paradigmatischen Charakter nimmt für solche eher medienwissenschaftlich orientierte Beiträge neben Marshall McLuhans Text „The Medium is  the Message“ immer noch die in vielerlei Hinsicht legendäre Habilitationsschrift von Friedrich A. Kittler an. Sie erschien in entsprechend überarbeiteter Fassung erstmals 1985. So skandalumwittert sie zunächst gerade im deutschsprachigen Raum war und teilweise auch immer noch ist, unter anderem wird ihr  immer wieder gern der Charakter (lauterer) Wissenschaftlichkeit abgesprochen, so bahnbrechend ist ihr internationaler Erfolg von Beginn an gewesen. Sie ist entsprechend für den von gleich fünf Herausgebern publizierten Sammelband „Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert“ so maßgeblich, wie es für die ebenfalls hier besprochene Monographie „Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens“ von Werner Fuld das Buch „Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen“ (1998) von Thomas Anz ist.

II

Werner Fuld erhebt mit seiner Monographie keinen wissenschaftlichen Anspruch, vielmehr schreibt er als „Liebhaber der schönen Künste“. Seine historische Studie zur erotischen Literatur ist aber vielleicht gerade deshalb in kulturwissenschaftlicher Hinsicht höchst aufschlussreich. In insgesamt sieben Kapiteln geht er der Sinnlichkeit des Schreibens und des Lesens in all ihren historisch, religiös und kulturell bedingten Spielarten höchst kundig und differenziert auf den Grund. En passant erklärt der Autor etwa die über die Jahrhunderte erschriebene Verkehrung der Begriffsbedeutung von Pornographie zu Erotik und von Erotik zu Pornographie. Dabei rekonstruiert er allerlei listige und intrigante Verführungsreigen, die im Laufe der Jahrhunderte zur Literatur geworden sind. Diese sind einerseits lesbar als Eroberung der Angebeteten, andererseits auch als Einweisung in die hohe Kunst der Liebe, die eine körperlich praktizierte Herzensangelegenheit sein will.

Es werden Werke von Giovanni Boccaccio, Francesco Petrarca, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und weiteren mehr berücksichtigt. Selbstverständlich darf innerhalb einer so pikanten Hommage Giacomo Casanova nicht fehlen, gleichwohl der Marquis de Sade ausgespart bleibt – was auch gut so ist. Die Anzahl der kulturwissenschaftlichen Beiträge, die sich diesem Meister des erotischen Grauens verpflichtet fühlen, ist ohnehin mehr als ausreichend. Genau das aber, was innerhalb derartiger Annäherungen stets meist ausgeblendet wird, erhält in Fulds Monographie einen angemessenen Platz, was bereits die ersten beiden Sätze der Einleitung verdeutlichen: „Erotische Literatur ist Frauensache“, heißt es da. Und weiter: „Von Anfang an, seit der Apfelpflückerin Erkenntnis in den Schoß fiel, wollen Frauen wissen, wie die Sache mit der Liebe funktioniert, und teilen es anderen mit.“

Werner Fuld entgeht – genau wegen dieser Fokussierung auf das Weibliche – bei seiner Darstellung der Gefahr, das Feminine vor allem als ausgelieferte und selbst willenlose Jagdtrophäe männlicher Begierden darzustellen. Ganz im Gegenteil dazu zeichnet er innerhalb der einzelnen Epochendarstellungen die Intrigen auf, mit denen Männer naive und gutgläubige Mädchen und junge Frauen verführten, genauso wie es diese verstanden, das Zölibat, dem sie verpflichtet waren, listenreich zu umgehen. Herausgekommen ist ein durch und durch lesenswertes Buch, das die ganze Spannbreite sinnlichen Schreibens und Lesens von zotiger und lasziver bis hin zu erotisch-ästhetischer Darstellung zu entfalten versteht.

III

Weniger leichtfüßig kommen die einzelnen Beiträge des von Urs Büttner, Mario Gotterbarm, Frederik Schneeweiss, Stefanie Seidel und Marc Seiffarth herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel „Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert“ daher. Die Entscheidung für eine komplexere, dezidiert fachwissenschaftlich ausgerichtete Sprache bedeutet aber keineswegs, dass die einzelnen Beiträge dem zutiefst sinnlich-affektiven Aspekt von Schreibwelten weniger Aufmerksamkeit zuteilwerden ließen.

Bei den Aufsätzen handelt es sich um überarbeitete Vorträge, die 2012 anlässlich einer Tagung im Rahmen der Tübinger Graduiertenakademie gehalten wurden. In drei Kapiteln widmen sich die Kulturwissenschaftler von unterschiedlichen Perspektiven aus der Bedeutung von Handschrift und ihren Formen, Materialien sowie den unterschiedlichen Schreibweisen und Verfahrenstechniken wichtiger Autoren und ihrer Figuren. Denn die Ausstellung von Schreibweisen und Lesegewohnheiten auf der Ebene des Textes und durch das Einfügen entsprechender Figuren, die ihrerseits Schriftsteller oder Leser sind, ist innerhalb der europäischen Literaturgeschichte spätestens mit Miguel de Cervantes berühmtem Roman „Don Quijote“ ein zentrales Literaturspiel im Spiel der Literatur geworden. Bereits der Haupttitel des Sammelbandes „Diesseits des Virtuellen“ deutet an, dass es bei dem, was der Untertitel „Handschrift im 20. Und 21. Jahrhundert“ als gemeinsames Programm der beteiligten Forscher anzeigt, vor allem um die prinzipielle Unabschließbarkeit und Offenheit der Auslotung jener Freiräume geht, die der Kulturtechnik ‚Handschrift‘  heutzutage noch bleiben, wo sie allenthalben noch ein Nischendasein führt.

Welche Bedeutungen kommen Graphemen noch zu, die vom Füllfederhalter auf Pergament gebracht werden?  Ergibt es Sinn, in Analogie zur Handschrift auch von „Hirnschrift“ zu reden? Und wenn ja, wie ist das Verhältnis beider zueinander zu beschreiben? Verändern Alternativen zum griffelgestützten Schreiben, also etwa das Schreiben mit Schreibmaschine oder mittels Tastatur und schließlich das Wischen über Tablets Strukturen und Vernetzungsmechanismen unserer Hirne? Welche Relevanz nehmen bei der schriftstellerischen Arbeit Notizen und Variationen, Fragmente und Überschriebenes ein? Wie sollten Vorstufen und autorisierte Fassungen in der Publikation präsentiert werden? Dies sind zentrale Fragen, die in diesem Sammelband verhandelt und zumindest vorläufig und stets auch nur teilweise beantwortet werden.

Durch die Unterteilung in die drei Hauptkapitel „I. Systematisierungen, II. Praktiken und III. Lektüren“ lässt sich bereits mit einem Blick in das Inhaltsverzeichnis erschließen, welchen Aspekten des Gegenstandsfeldes und seiner historisch respektive sozial bedingten Rahmen das Hauptinteresse jeweils gilt. So rekonstruieren die Beiträger des ersten Kapitels einerseits Aspekte der Medialität und des Verhältnisses von Handschrift zu den einzelnen, algorithmisch basierten Simulationen des Handgeschriebenen. Andererseits widmen sie historisch bedingten Änderungen der Bedeutung von Handschrift ihre Aufmerksamkeit, etwa zu Zeiten des Krieges (Marc Seiffarth) oder zu Zeiten, in denen durch Tablets das Schreiben langsam in ein Wischen übergeht (Oliver Ruf).

Im zweiten Kapitel dagegen überwiegt die Betrachtung verschiedener Praktiken, die für die Bedeutung der Handschrift jeweils historisch bedingt an Relevanz gewonnen haben oder eben auch an Bedeutung einbüßten. Stefan Rieger beispielsweise rekonstruiert in seinem Beitrag „Gehirnschrift und Nationalstenographie“ jene Kurzschlüsse, die sich automatisch einstellen, will man von der Verfasstheit handgeschriebener Notizen auf die Verfasstheit der sie bedingenden hirnphysiologischen Prozesse rückschließen. Auch Sandra Oster und Ilka Barsch widmen ihre Aufmerksamkeit den technischen Rahmenbedingungen von Handschrift.

Im dritten Kapitel schließlich wird das Hauptaugenmerk auf „Lektüren“ und ihre Figuren gelegt. So zeichnet Monika Schmitz-Emans die metafiktionale Ebene nach, die „Fingierte Handschriften“ konstituieren. Beispiele dafür sind ihr neben Cervantesʼ „Don Quijote“ und Goethes „Werther“ auch Beiträge aus der jüngeren Literatur. Urs Büttner konzentriert sich auf das Verhältnis von Handschrift und Abstieg, das er als handlungskonstituierend innerhalb von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erkennt. Sandor Zanetti endlich fragt nach den Möglichkeiten von Handschrift im Anschluss an Walter Benjamin und Heiner Müller.

Auch diese Beiträge sind durchweg lesenswert, wenngleich oder vielleicht auch gerade weil sie sich nicht so leicht dem Leser respektive der Leserin erschließen wie die Monographie Werner Fulds. Dafür zeigen sie deutlicher, wie sinnlich und intuitiv noch der abstrakteste und analytischste Zugang zu dem Gegenstandsfeld „Handschrift“ erscheint, schaut man nur genauer hin.

Titelbild

Werner Fuld: Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens.
Galiani Verlag, Köln 2014.
538 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710983

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Urs Büttner / Mario Gotterbarm / Frederik Schneeweiss / Marc Seiffarth (Hg.): Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert.
Zur Genealogie des Schreibens Bd. 18.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
302 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557943

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