Fremd von außen, Fremdes im Innern

José F. A. Olivers „frühe Gedichte“ in einer Auswahl von Ilija Trojanow

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Kempowski vertrat die Auffassung, dass man in Deutschland nicht mehr gut von „Heimat“ sprechen könne – der Begriff sei kontaminiert. Folglich nannte er das Tagebuch seiner Rückkehr in die Heimatstadt Rostock nach der Wende „Hamit“.

Der Chamisso-Preisträger José F. A. Oliver – als solcher schreibt er in deutscher Sprache, obwohl Deutsch nicht seine Muttersprache ist – hat ein feines Gespür für das Schweigen, das viele Deutsche beim Heimat-Begriff befällt: er nennt seinen Band „Heimatt“. So hart und so abweisend mag unser deutsches Idiom, das einst unheimlich-heimelig verklärte, in den Ohren derer klingen, die nach Deutschland kommen, um hier zu leben, oder die von hier vertrieben werden, weil wir sie nicht haben wollen:

Ich

wähle nur die Worte
die mich bereits gewählt haben

ich spreche nur das aus
was ich von euch gelernt habe

es sind eure Gedanken in mir
die mich hoffen lassen

es ist euer Schweigen
auf das ich eine Antwort              

                                  suche

Jeder, der heute auf Deutschland schaut, bekommt ein uneinheitliches Bild vor Augen gestellt. Unübersehbar ist die abendländisch-aufgeklärte und aufklärerische Tradition in uns wach, die nach antikem Vorbild im „Fremden“ zugleich den „Gast“ begrüßt. Die alten Griechen hatten für beides nur ein Wort: „Xenos“. Zugleich wird bei uns die Xenophobie vieler Menschen deutlich und teils sogar auch angeheizt, mag sie sich auf reale oder imaginäre Gefahren berufen.

Ängste lassen sich, so die Erfahrung, am ehesten mit einer konkreten Aufgabenstellung überwinden, sonst wird man von ihnen unterjocht. So hat die dunkel gekleidete Mutter, die „jeden Morgen“ den „Dreck der Nacht“ wegkehrt (die „Frau in Schwarz“), noch eine zweite Aufgabe: „das Kind auf ihrem Schoß“. Ihm spendet sie „jeden Morgen“ Geborgenheit. Und „Zuflucht“, ein anderes Wort für Geborgenheit, heißt ein Zyklus aus vier Gedichten – eines davon erinnert freilich entfernt an den blutigen Kulturkampf, der im Januar 2015 auch einen jüdischen Supermarkt in Paris erreichte. Wobei die dargestellte Welt eine deutsche ist („Bundeswehr“) und das Gedicht viel älter zurückreicht als die Ereignisse rund um Charlie Hebdo.

Zwei Berlin-Gedichte werfen Schlaglichter auf die deutsche uniformierte Wirklichkeit – auf das „Wachwechselritual“ am Ost-Berliner Mahnmal für die Opfer des Faschismus sowie auf willkürliche Polizeikontrollen in

westberlin

einfach angehalten
einfach die tasche geöffnet
einfach die papiere durchwühlt
einfach in die hosentasche gegrabscht
einfach den körper abgeklatscht
einfach die freiheit gegen 19.10 uhr mit uniformen angeschmiert
einfach angehalten
einfach die tasche geöffnet
einfach die papiere
einfach
einfach die uhr wieder zurückgebogen
einfach
so einfach
nicht einfach so

Ist das noch Prävention oder bereits Provokation? Das „noli me tangere“ – „nie sollst du mich berühren“ – war einmal eine verbindliche Ansage, Distanz zu wahren und Nahbarkeit an wechselseitige Zustimmung zu koppeln. Entwickeln wir uns mittlerweile zu einer verbal und körperlich übergriffigen Gesellschaft?

In der Begegnung zweier Kulturen, sagt José F. A. Oliver (Jahrgang 1961) im Gespräch mit Ilija Trojanow, steckt auch „Gegnerschaft“: „Da kämpfen verschiedene Seiten miteinander – oder umeinander.“ Es folgt die Erkenntnis: „Integration ist nicht ein Sich-Anpassen, sondern Integration ist das Fremde als fremd anzunehmen, Fremdes als eine eigenständige Größe im Raum stehen zu lassen, um sich überhaupt begegnen zu können.“ Ein (sich) einpassen (Sich-Einpassen), sich-passend-machen, damit aus Gegnerschaft Partnerschaft wird.

Der Dichter José F.A. Oliver trifft hier auf den „Weltensammler“ Ilija Trojanow (Jahrgang 1965), der wie vielleicht kein zweiter Autor seiner Generation in den Gegensätzen zu Hause ist und der sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch alle Kulturen zu bewegen weiß. Trojanow liest Olivers Gedichte als Gesprächsofferten, wie er auch Konfessionen als Offerten versteht, sich über Glaubensfragen, die das Selbstverständnis des Menschen betreffen, zu verständigen. „Überzeugungen“, so seine Auffassung, sollten uns „Inspirationen“ sein, auf die wir uns freiwillig einlassen, weil sie uns nicht aufgezwungen werden müssen.

Titelbild

Jose F.A. Oliver: Heimatt. Frühe Gedichte.
Ausgewählt und herausgegeben von Ilija Trojanow.
Hans Schiler Verlag, Berlin 2015.
112 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783899300314

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch