Schwalben über Blumenwiesen

Mit „fleurs“ schließt Friederike Mayröcker ihre großartige Trilogie ab

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„fleurs“, im Februar 2016 von der 91-jährigen Friederike Mayröcker veröffentlicht, ist der letzte Band einer als Trilogie angelegten Reihe, zu der auch „études“ (2013) und „cahier“ (2014) gehören. Die drei Bücher enthalten herausragende, berührende Texte über das alternde Leben, das der Schreibenden mehr und mehr zu entgleiten droht, ihr Mühsal bereitet, das sie aber – dennoch – voller Lebensfreude und Lebenshingabe als Glück feiert, in bezaubernden Blumenbildern und in Erinnerungen an das vergangene Leben, voller überschwänglicher Töne, wenn es um die einstige Liebe oder die Kindheit geht, voller Wehmut und Trauer, wenn die Ich-Erzählerin von Gedanken an den Tod des Geliebten überwältigt wird.

Der Leser hält mit „fleurs“, „études“ und „cahier“ kleine Schmuckstücke moderner Buchdruckerkunst des Suhrkamp Verlags in den Händen. Die Bände ähneln sich äußerlich stark und betonen so den Reihencharakter. Die Buchdeckel sind in abgetöntem Weiß gehalten und werden von feinen schwarzen Linien durchzogen. Die jeweiligen Titel fallen durch ihre Anlehnung an die Schreibschrift und verschiedene Farben – blau, rot und grün – ins Auge. Der Name der Autorin besticht durch einfache, klare Lettern. Auf dem hinteren Buchdeckel sind jeweils kurze vierzeilige Texte, ebenfalls wie mit der Hand geschrieben, abgedruckt.

Die Texte sind etwa eine Buchseite lang. Einige Wörter oder Satzteile – man kennt das bereits aus früheren Veröffentlichungen Mayröckers – sind unterstrichen oder heben sich durch Großbuchstaben vom Umfeld ab. Eingerahmt werden die Texte von Anführungszeichen, viele enthalten Absätze, die zum Rand oder zur Mitte hin eingerückt sind oder wie eine Einleitung oder ein Motto dem Text vorgeschoben werden.

Das Datum der Entstehung schließt, auch das ist den Mayröcker-Lesern vertraut, jeden Text ab. Natürlich soll dadurch nicht ein Tagebuch in gedichteter Form entstehen. Die Texte gehen viel zu stark über Biographisch-Alltägliches hinaus, sind viel zu sehr dichterische Kunstwerke und enthalten zu wenig Reflexives und Beschreibendes, um Tagebücher zu sein. Aber – das wird durch die Datumseinträge suggeriert – sie „begleiten“ dichterisch das Leben der Schreibenden, geben Zeugnis von ihren Gedanken, Erinnerungen, Ängsten und Befürchtungen, auch von ihren Glücksmomenten. Mayröckers Texte trennen nicht zwischen Biographie und Fiktion. Das eine geht in das andere über. Alles, sowohl das Äußerliche wie das Persönliche, wird durch die dichterische Sprache zu etwas ganz anderem, zu etwas, das mit der Schreiberin unmittelbar zu tun hat und gleichzeitig ganz von ihr gelöst ist. Im vorangegangenen Buch „cahier“ findet sich der Satz: „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein“. Das Leben der Dichterin wird durch den Schreibprozess zu einem Teil des Erdichteten: Es entsteht ein Gedicht oder – wie in „fleurs“ – ein gedichtähnlicher Text oder lyrische Prosa.

Ein Beispiel für Persönliches, das durch die fiktionale Form verändert wird, sind die Namen von Freunden und Bekannten, die Mayröcker in ihre Texte einstreut. Das geschieht im Band „fleurs“ weniger häufig als in manchen vorangegangenen Veröffentlichungen, ist aber auch hier ein markantes Stilmittel. Die Namen schaffen ein Netzwerk an Beziehungen und lösen vielfältige Assoziationen aus, auch wenn die eigentliche Bedeutung der Namen oder Namenskürzel nicht immer klar ist.

Der neueste Band ist Edith S. gewidmet. Natürlich kann sich der Leser auf die Suche nach ihrer Person begeben, notwendig ist das aber nicht. Die Widmung enthält einen Zusatz, der vieles über die Beziehung der Autorin zu Edith S. aussagt: „solch Vortrefflichkeit dasz du’s Fingerchen / mir demonstrierest wenn wir über die Gasse …“. Das liebevolle, leicht humorvolle Bild beschreibt zwei Menschen, die gestikulierend und, so darf man assoziieren, freundschaftlich-engagiert in ein Gespräch über Gedichte vielleicht oder Kunst oder den Alltag vertieft sind. Mehr Wissen über Edith S. – und das gilt für die meisten Namen – braucht es nicht.

Es wurde bereits angedeutet, welche inhaltlichen Themen und Motive die Texte von „fleurs“ aufgreifen: die der Vergänglichkeit des Lebens und der Mühsal des Alters, der Angst vor dem Tod, aber auch die einer unbändigen Lebensenergie und Lebensfreude, einer Besessenheit zu schreiben, im Schreiben Ängste zu bändigen, das vergangene Leben in Erinnerungen zurückzurufen und vor allem – es grenzt an magisch-geheimnisvolle Kräfte und Vorgänge, wie sie nur in großer Kunst möglich sind – dem verstorbenen Geliebten nahe zu sein.

Mayröckers Veröffentlichungen der letzten Jahre sind immer auch schonungslos offene Texte über die Mühsal des Lebens im hohen Alter und den langsam fortschreitenden Verfall der körperlichen Kräfte gewesen. „fleurs“ nimmt sich da nicht aus, wenn das Thema auch weniger direkt als beispielsweise in den Büchern „ich bin in der anstalt“ (2010) und „ich sitze nur GRAUSAM da“ (2012) oder den anderen beiden Bänden der Trilogie angesprochen wird. In „fleurs“ heißt es beispielswiese: „Niedergang meiner Person : fliehende Blumen, und Basis-Schmerz, hinfällige Schleierwolken des Juni.“ Und an einer anderen Stelle schreibt die Autorin: „weh mir die Horde dieser Tränen ach wie ist mein Leib mir wüst und fremd die Knochen sind 1 Scherbenhaufen ich küsse dich 1 letztes Mal.“ Die Gebrechlichkeit des alternden Körpers, die zu einer Entfremdung zwischen Geist und Körper führt, wird verstärkt durch Bilder aus der Natur, die Trübung und Vergänglichkeit suggerieren, spiegelt sich im Bild verwelkter und zertretener Blumen oder etwa in Sätzen wie „jetzt bin ich schon 5 Tage nicht vor die Tür“. Wie es Mayröcker gelingt, in ihrer hochpoetischen Sprache verschiedene Bedeutungsebenen zusammenzuführen, ist bewundernswert und macht einen großen Reiz ihrer Dichtung aus.

Die Texte von „fleurs“ durchzieht mehr als nur ein Klagen um die körperlichen Schwächen und Gebrechen. Alle Texte handeln, manchmal direkt, oft unausgesprochen, aber unüberlesbar zwischen den Zeilen, von der erschütternden Erfahrung des Zerrinnens des Lebens, seiner Vergänglichkeit, von der schmerzlichen Erkenntnis, dass das „Verlangen nach Welt-Zärtlichkeit“ nicht gestillt werden kann, von dem Wissen um den nicht allzu fernen Tod. Daraus resultiert eine tiefe Wehmut, die hinter den Zeilen spürbar ist.

Melancholie gehört zu Mayröckers Dichtung. In mehreren Gesprächen mit Journalisten hat sie sich dazu geäußert. Melancholie ist für sie eine Grundvoraussetzung, damit Dichtung, wie sie sie versteht, überhaupt gelingen kann. Es ist ein Antrieb zu schreiben. In „fleurs“ findet die Autorin für diese Grundstimmung zwei Ausdrücke, die als Signalwörter fungieren. Es sind die Wörter „ach“ oder „weh mir“. In ihnen verdichtet sich eine Haltung der Autorin zu ihrem Leben, zum Leben überhaupt. Spürbar werden die Erfahrung der grenzenlosen Einsamkeit im Alter und eine Traurigkeit um die Vergänglichkeit allen Seins. Sie haben sich in der Seele der Schreiberin festgesetzt und bestimmen ihre Lebenssicht. Das Motivwort „Tränen“, wichtig in Mayröckers Texten der letzten Jahre, auch in „fleurs“, verstärkt diese „ach“- und „weh mir“-Stimmung: „Ach ich löse mich auf – habe die Hölle der Nachtstunden wieder einmal überstanden, 1 Tränenstrom, man wird mich zermalmen!“

Mayröcker – das ist vielleicht das großartigste in ihren Büchern – verliert sich nicht in der Melancholie und Niedergeschlagenheit, sondern setzt diesen Haltungen Bilder von Blumen und Vögeln, vor allem von Schwalben, entgegen, die die „kahlköpfige Einsamkeit“ brechen und die Traurigkeit zurückdrängen. Der Titel des Buches könnte kaum besser erdacht sein. Schon immer haben Blumen in den Texten der Autorin einen starken poetischen Akzent gesetzt. Aber in diesem Buch werden sie bestimmender als vieles andere. Sie stehen für die Schönheit des Lebens, für Lebensfreude und unbändigen Lebenswillen.

Bereits im ersten Text kann man lesen: „und Jean sagte, ich hatte den Drang abzumähen die Sträusze der Wiese, oder mich selbst zu verschlingen, weiszt du, in einer Ahnung von Zärtlichkeit ……“. „Sträusze der Wiese“ werden in einen Zusammenhang mit „Zärtlichkeit“ gestellt. Blumen oder Vögel sind Vorboten einer guten Zeit, Vorboten der Liebe und der Freundschaft: „Nach dem Wolkenbruch zerfaserte Rest v.Wolke ich meine aus welcher angehimmelte Figuren nämlich Nelken, Päonien (pustend v.Sommer) : Vorfreude dich wiederzusehen …. das Himmelszelt! Liebster! legtest deine Hand auf deine Brust was geheiszen haben mag MEIN HERZ IST DEIN!“ Oder: „fächelte im Morgen ach eine 1.Schwalbe, in der hinteren / rechten Ecke des Parks 1 blühender Holunderbaum, durchs / Gitter eines Vorgartens 1 Ästchen berührte mich an der / Schulter und ich dachte : 1 LIEBLING ….“ Und immer wieder heißt es: „bin unbändig. Lauter Schwalben seh ich in deinen Augen“.

Mayröcker kämpft gegen ihre langsam zerbrechende Welt auch dadurch, dass sie sich in den Texten mit Kunst und Künstlern umgibt. Am auffälligsten in „fleurs“ sind vielleicht die Namen zweier Künstler, die von Andreas Grunert und Antoni Tàpies. Sie zitiert immer wieder – und dabei ist sie so genau, als handle es sich um einen Katalog – Titel ihrer Bilder.

Viele Bilder des 1947 geborenen Andreas Grunert zeigen filigrane Figuren, die aus großflächigen Farbmustern herauszutreten scheinen. Mayröcker geht einfühlsam auf einige der Bilder ein. So sagt sie beispielsweise zu „Musik“ von Grunert: „an einem blanken Tisch 2008 umschwirrt von Notenköpfchen, kollerten orangefarbene Tränen“. In einem einzigen Satz beschreibt sie das Bild und interpretiert es gleichzeitig.

Tàpiesʼ Bild „Materie in Fuszform“ regt die Autorin zu einem längeren Text an. Wenn man Bild und Text zusammen „sieht“ und „liest“, erkennt man die Genauigkeit, mit der Mayröcker das Bild in Sprache „übersetzt“ und wie intensiv sie sich in selbiges „einschauen“ und einfühlen kann. Selbst auf den ersten Blick kaum wahrnehmbare „Kleinigkeiten“ des Tàpies-Bildes wie Ringlein, Münzen oder die Deformation der Zehen werden in ihrer Sprache lebendig.

Natürlich werden, auch das kennt man aus früheren Büchern, die Namen von Schriftstellern (zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hölderlin und Jean Paul), Philosophen (JD für Jaques Derrida), Komponisten (Johann Sebastian Bach und Franz Liszt beispielsweise) oder Musikern (Glenn Gould) angeführt. Die Schreiberin identifiziert sich mit den Künstlern. Sie füllen ihr „leerer“ werdendes Leben mit der Möglichkeit, in der Phantasie und in Gedanken den Alltag hinter sich zu lassen. Kunst wird zum Ersatz für Leben; Künstler werden „stumme“ Gesprächspartner.

Mayröcker „überwindet“ die Traurigkeit und Melancholie des gegenwärtigen Lebens noch auf eine andere Weise: Sie öffnet sich den Erinnerungen an die vergangenen Jahre und Jahrzehnte und lässt diese wie einen breiten Strom in ihr Leben fließen und dessen dunkle Seiten zurückdrängen. Die Erinnerungen betreffen, wie so häufig in ihren Büchern, ihre Kindheit und Eltern, vor allem ihre Mutter, und natürlich ihren „Lebens- und Arbeitspartner“ Ernst Jandl, der im Jahr 2000 verstarb.

In den Texten beschwört der Buchstabe „D.“ die Jahre unbeschwerter Kindheit herauf. „D.“ steht für Deinzendorf, einen kleinen Ort im niederösterreichischen Weinviertel. Die 1924 in Wien geborene Schriftstellerin hat dort viele Sommermonate ihrer Kindheit verbracht. Deinzendorf ist in den Texten lebendig als ein Ort des Glücks und der Harmonie:

[…] damals in D. im Innenhof des
Lehmvierkanters ich war 1 jg.Kind ich sasz,
als sei’s 1 Spielzeug, auf Vaters Motorrad und
neben mir geliebte Groszmutter. Vielleicht im
Jahre 27 ach der Kuckuck schrie, wie viele Male
ich konnte noch nicht zählen, die Ewigkeit des Fliederbaums, ich
meine blau erblüht.

Der Fliederbaum oder Fliederbusch ist ein wiederkehrendes Bild. „Ewigkeit des Fliederbaums“ betont die Unvergänglichkeit und Gegenwärtigkeit des Ortes D. und der Zeit, die sich damit verbindet. Mit Hilfe der Sprache versucht die Autorin, den Verfall des Lebens aufzuhalten. Das gelingt, allerdings nur in der Poesie. Über die Wirklichkeit macht sich die Autorin nichts vor: „…weh mir / auch ohne mich wird der blaue Flieder, einst / springen“.

Der größte Teil der Erinnerungen betrifft – und das ist, wer Mayröcker-Texte der letzten Jahre gelesen hat, keine Überraschung – ihren Lebenspartner Ernst Jandl. Er wird mit dem Kürzel EJ oder – seltener – mit Ely direkt angesprochen. Der Geliebte ist in den Sätzen allgegenwärtig. Das „du“ oder „weiszt du“ in den Texten, die von Anführungszeichen eingerahmt werden und damit den Anschein von Anreden machen, gilt ihm: „weh mir, wo du seiest, weisz nicht wo du seist irgend an einem Meere aber die Blütenmeere um dein Herz sprieszend, weine weil du dahingefahren so weit so fortgezogen zu strudelndem Gewässer“.

Die Texte lesen sich wie intime Gespräche zwischen Liebenden, voller Zuneigung und Zärtlichkeit („mein Himmelchen“, „mein Vielliebchen“), auch – gelegentlich – vermischt mit Zeilen, die die Gefährdung der Liebe nicht verschweigen: „ich erinnere mich, am folgenden / Tag ich meine es war eine finstere Episode / = ich hatte den ganzen Abend gewartet auf / dich aber du bist nicht gekommen ich trug / 1 lila Kleid und warf mich weinend aufs / Bett usw. Ich meine es schwebte mir etwas / vor, weiszt du, blieb aber : ach blieb eine Ahnung, damals mein Selbst“. Die Zerbrechlichkeit der Beziehung ist Teil der übermächtigen Liebe der Schreibenden und ihrer Sehnsucht nach dem einstigen Freund. Sie erst macht ihre Liebe groß.

Ein wesentlicher Teil der Texte Mayröckers behandelt immer auch ihre Sicht auf ihr Künstlertum, auf das, was sie unter dichterischer Kreativität und dichterischem Impetus versteht. Auf der Außenseite des hinteren Buchdeckels sind vier Zeilen abgedruckt, die im Buch selbst noch einmal vorkommen. Die Wörter „eng umschlungen“, „so hingerissen“ und „so angeflammt“ sind auffällig. Sie geben einen Hinweis auf Mayröckers Verständnis vom Schreiben. Poesie entsteht nur in einem Moment höchster emotionaler Anspannung, entfaltet eine kreative Kraft, die den Schreibenden vereinnahmt und überwältigt. Dichtung gelingt, wenn die Schreibende solche kreativen Momente erkennt und sich ihnen im entscheidenden Augenblick öffnet.

Ein solches Bekenntnis zu Dichtung ist bei Mayröcker nicht neu. Schon 1962 beispielsweise schreibt sie in dem Gedicht „Der Aufruf“:

plötzlich aufgerufen bei meinem Namen
steh ich nicht länger im windstillen Panorama
mit den bunten schimmernden Bildern
sondern drehe mich wie ein schrecklich glühendes Rad
einen steilen Abhang hinunter
aller Tabus und Träume von gestern entledigt
auf ein fremdes bewegtes Ziel gesetzt:

ohne Wahl
aber mit ungeduldigem Herzen

Die Worte „umschlungen“, „hingerissen“ und „angeflammt“ des Buchdeckel-Textes weisen zurück auf diesen Text. Hier wie dort wird von einer inneren Überwältigung durch Sprache und Poesie gesprochen. Im Buch „Und ich schüttelte einen Liebling“ aus dem Jahr 2005, in dem sie den Tod ihres Freundes und Geliebten Ernst Jandl auf beeindruckende Weise verarbeitet, schreibt sie von dem überstarken Erlebnis dichterischer Kreativität und findet dafür Ausdrücke wie „Schreib Raserei“ oder „Schreib-Hysterie“. Sie sagt vom Schreiben: „man kann es auch das Gottessen nennen denn man fühlt sich von einer fremden Gewalt übermannt, und man tritt in eine fremde Welt ein […] und man benötigt dazu ein innen glühendes Wesen“. Aus solchen Zeilen spricht eine große Bewusstheit des künstlerischen Tuns, auch eine Selbstbewusstheit, die keinerlei Zweifel an der Vollkommenheit dessen, was aus solcher „Schreib Raserei“ entsteht, zulässt. Nicht zufällig vergleicht sie diese mit Glenn Goulds „rasendem Spiel“. Ihre Auffassung von Dichtung und Dichten fasst Mayröcker in „fleurs“ in zwei wundersamen Zeilen zusammen: „die / äuszere Welt musz innere Welt werden = das Empfundene. / Die innere Welt musz wieder äuszere Welt werden = das Gedicht.“

Die Texte der Autorin lesen sich wie die Gedankenströme eines Menschen. Man sollte der Ich-Schreiberin – den Rat gibt sie einmal ihren Lesern – einfach folgen, vertrauensvoll, aber dennoch mit wachen Augen und Sinnen. Die Verschiedenheit der Bilder, die Sprunghaftigkeit, mit der die Schreibende Texte aufbaut und entwickelt, die sperrigen Namen von Personen, das Collagenartige der Vorgehensweise verlieren ihre Fremdheit, wenn man sich auf die Texte einlässt und sie konkret zu verstehen versucht. Sie glaube, dass sie es den Lesern eher leicht als schwer mache, sagte Mayröcker einmal in einem Gespräch; jedenfalls sei es ihre Absicht, die Leser – im guten Sinne – zu unterhalten, nicht etwa, sie in irgendeiner Weise zu verprellen.

Darf der Leser auf eine weitere Veröffentlichung der betagten Autorin hoffen? Ihre Schreib-Besessenheit wird Friederike Mayröcker nicht ruhen lassen. In „fleurs“ stehen einige Zeilen, die versteckte Hinweise auf ein neues Buch enthalten. Es heißt da an zwei Stellen, ganz unvorbereitet und wie nebenbei: „Titel fürs nächste Buch ‚lyrics‘ oder ‚lyrix‘“. Und in einem anderen Text steht: „also ich hatte mich in die französische Sprache verliebt. Ich überlegte : welchen Titel sollte ich dem 4.Teil der Tetralogie geben? ich verfiel auf „lune“ oder „amour“ oder „bourgeon“ oder –“. Wir dürfen gespannt sein.

Titelbild

Friederike Mayröcker: fleurs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
152 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425206

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