Eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart

Jochen Distelmeyers Debüt „Otis“

Von Nils DemetryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Demetry

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Achtsam muss man sein. Sorgfältig und diszipliniert. Sich dem ersten Roman Jochen Distelmeyers, des Kopfs und Sängers der Gruppe „Blumfeld“, Otis, zu nähern, birgt so manches Problem. Von der Unmöglichkeit, den Roman unabhängig von Distelmeyers Aura lesen zu können über die Unmöglichkeit, nicht trotz allem Verbindungen zur Textwelt Blumfelds zu ziehen bis hin zur sich merkwürdig schnell kristallisierenden Frage, was das Ganze – wenig Plot, viel Berlin – eigentlich soll. Doch dazu später mehr.

Zunächst die Handlung: Tristan Funke (ein Name wie der eines verschollenen Mitglieds von „Blumfeld“) flieht nach einer gescheiterten Liebe nach Berlin, „in eine kleine Wohnung im Ostteil der Stadt“; als berlintypische „verkrachte Existenz“ schreibt er – natürlich – an einem Roman, der auch noch denselben Titel wie das Buch trägt: Otis. Otis ist der Name des  Protagonisten in Tristans Roman, in Anlehnung an die List, mit der Odysseus sich vor dem Zyklopen Polyphem als „Niemand“, griechisch „outis“, vorgestellt hatte. Darin versucht sich der nicht mehr ganz so junge Dichter, emotional am Limit, an einer Aktualisierung des Odysseus-Mythos: „Getrieben von flüchtigen Bekanntschaften und Affären, in denen der Trostbedürftige glaubte, Wiedergänger des mythischen Personals der Vorzeit ausmachen zu können, hatte sich Tristan in der Welt der Nymphen, Sirenen, Zauberinnen und Götterboten verloren.”

Ein Wochenende im Februar 2012, offensichtlich in der Endphase der Wulff-Affäre, denn gleich zu Beginn des Romans sieht Tristan beim Betreten eines Tabakwarenladens, „dass es den Zeitungen gelungen war, den Bundespräsidenten zu stürzen.“ Der Held hangelt sich durch Berlin: Ein paar Tage betreut er – mehr notgedrungen als freiwillig – seine Cousine Juliane, besucht seinen Musiker-Freund Ole, trifft eine junge Französin mit großen, braunen Augen in der U-Bahn, dann Leslie, den Verleger Zaller, den Architekten Carsten. Zwischendurch, in Kapitel 3, findet ein Perspektivwechsel zu dem bis dahin nicht in Erscheinung getretenen BVG-Busfahrer Yilmaz Öczan statt, dessen Biographie dem Leser recht unvermittelt und ohne rechten Bezug zur Handlung in einigen, wenigen Pinselstrichen präsentiert wird. Und immer wieder: Alte Liebesgeschichten, die den Weg des Helden kreuzen; und denen er gleichwohl auszuweichen versucht.

Thematisch bleibt sich Distelmeyer treu: Die Beziehung zu Onkel Cornelius, „ein[em] erfolgreiche[n] und angesehene[n] Rechtsanwalt aus Düsseldorf“ wird durch den doch etwas höheren Geldbetrag, den sich Tristan von ihm leihen muss, erschwert: „Das freundschaftlich distanzierte Verhältnis der beiden schien durch Tristans Abhängigkeit vom Wohlwollen seines Onkels eine Kränkung erfahren zu haben, die das Gleichgewicht störte und den Umgang miteinander erschwerte.” Das liebe Geld, das uns gleichzeitig verbindet und voneinander trennt, sind genauso wie Tristans Reflexionen über den deutschen Umgang mit Geschichte angesichts des Holocaust-Denkmals Klassiker des Blumfeld’schen Themenkosmos, wenn Tristan darin nur einen „Weg zur Fortsetzung einer Erinnerungskultur geebnet [sieht], die über die Selbstverständlichkeit des bloßen Bekenntnisses zur Tat nicht hinausgelangte.“ Darin erkennt er einen „Mangel an Mitgefühl und der trotzigen Leugnung der eigenen Verantwortung […], [einen] Schlüssel zum Verständnis des deutschen Umgangs mit Vergangenheit.“

Mit Blumfeld hatte Distelmeyer eine Sprache gefunden, die laut Ingar Solty (FREITAG) „in der Popkultur auf Dauer unerreicht bleiben wird“; auf literarischem Gebiet ist er jedoch – seltsam genug – ein Debütant. Und trotzdem bleibt da ein schaler Beigeschmack, eine Spur von blasser, unerfüllt gebliebener Hoffnung: Ist das derselbe Jochen Distelmeyer, der in den Neunzigern für seine Texte fast gottgleiche Huldigung erfuhr und jetzt zwar zu zweifelsohne berechtigter, jedoch nicht subtilerer oder poetischerer Kritik am „System“ fähig scheint? Wer die Frage nach der Diskrepanz zwischen den lodernd-glühenden Textwelten des Neunzigerjahre-Distelmeyer und der beinahe schon aufreizend belanglos erscheinenden Prosa in Otis – neben dem Gattungswechsel – mit einem Bonmot über das „Angekommensein“ im Establishment (oder über das Scheitern) zu beantworten versucht, macht es sich freilich zu einfach.

Einen Hinweis darauf lieferte Thomas Böhm in seiner glänzenden Rezension des Romans auf ZEIT ONLINE im vergangenen Jahr. „Die Sonne hatte sich den Himmel zurückerobert und schien über die Häuser der Stadt, als sei nichts gewesen.“ So lautet der erste Satz in Otis, und Böhm sieht hier bereits einen Hinweis darauf, dass dieser Roman eben nicht über „Spannung auf Handlungsebene“ angetrieben wird, stattdessen – so Böhm – ist dem Roman „am Ton, am Sound, am Hall“ gelegen. Hinweise darauf finden sich auch in den Interviews mit Distelmeyer, der zum Beispiel im Gespräch mit der FAS sagte: „Ich wollte die Welt, die mich hier umgab, besingen, das Fest und den Reichtum schildern.“

Diese Deutung versucht letztendlich, die in dieser Rezension aufgeworfene Frage zu beantworten, „was denn dieser Roman eigentlich soll“: Die Idee hinter Otis ist demnach nicht, Klage zu führen gegen Empathiemangel und Geschichtsvergessenheit, sondern stattdessen Affirmation und Bejahung. „Ich wollte die Welt, die mich hier umgab, besingen, das Fest und den Reichtum schildern“, erklärt Distelmeyer so auch in einem Interview. Berlin als großes Fest also, das es zu besingen gilt. Diese Deutung erklärt zwar so manche Irritation und legt offen, dass in Otis „Strategien und Erzählweisen, die jenseits des Handelsüblichen liegen“ (Böhm) angewandt werden: Darüber hinwegtrösten, dass die Lektüre uns trotzdem ein wenig enttäuscht zurücklässt, kann sie indes nur bedingt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jochen Distelmeyer: Otis. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
283 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498012038

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